Die Tugend Zu-Ende-Denken

Wir müssen aufhören, all die Vordenker, Anstoßer und Aufschreier ernst zu nehmen. Wir müssen wieder auf solche Frauen und Männer hören, die die Dinge zu Ende denken. Meint Dushan Wegner.

Screenshot: ZDF

Zur Hölle mit den Vordenkern! Berlin und all die anderen Futterstellen sind voll mit ihnen. Vordenker „stellen mal etwas in den Raum“, sie „reissen etwas an“, sie „machen einen Aufschlag“, kurz, sie „denken vor“ – und überlassen das „Hinterher-Denken“, oder, wenn Sie so wollen, das „Nach-Denken“, den Rangniederen, oder jenen, die sie dafür halten.

Unter allen meinenden, schreibenden, ihre als Argumentation wässrig kaschierte Gefühlssoße verbreitenden Auftragsintellektuellen sind die „Vordenker“ unzweifelhaft die übelsten. Es ist Zeit, all diese Vordenker auf ferne Inseln zu bannen, ihre Schiffe zu versenken und die Häfen zu sprengen.

Eine neue Kultur des Zu-Ende-Denkens ist notwendig, dringend. Fort mit den Vordenkern, her mit den Zu-Ende-Denkern.

Betrachten wir das Problem der Vordenker am Beispiel des einen Mega-Hyper-Über-Thema der derzeitigen deutschen Debatte: Wie hast du’s mit der Religion, insbesondere mit der Religion des Mohammeds?

Oh, wie viele „Vordenker“ umschwirren uns zu dieser „heissen“ Frage! Doch untersuchen wir die zwei am deutlichsten zu trennenden Lager: Zum einen jene, welche der Journalistenmund „Islamgegner“ nennt, und jene, die wir der Prägnanz halber, „Islamgegnergegner“ betiteln wollen. Beide sind sie „Vordenker“.

„Der Islam gehört nicht zu Deutschland“ ist das In-Hoc-Signo-Vinces der einen Fraktion. Ignorieren wir für einen Augenblick, dass jener Satz, ebenso wie sein Gegenteil, bei genauerer Untersuchung in Definitionsprobleme zerbröselt. Nehmen wir die mindestens implizierte These, „der Islam“ sei nicht mit Demokratie und Menschengleichwertigkeit kompatibel. Mit solcher These lässt sich trefflich Wahlkampf machen. Doch die Konsequenzen wirklich zu Ende zu denken, da verlässt die Vordenker oft der Mut. Einige mögen zwar rufen „Mut zu Deutschland“ oder gar „Mut zur Wahrheit“. Schön und gut und billig. Eine andere Courage sei von jenen erbeten: Habe den Mut, wirklich zu Ende zu denken! (Und wenn du des Zu-Ende-Gedachten genierst, wäge doch deinen Ansatz einmal nach grundsätzlichen Maßstäben ab.)

In deutschen Lehrplänen ist etwa verankert, dass demokratiefeindliche Gedanken den Menschen von Kindeshirnen an abtrainiert werden. Wer sagt, Islam sei nicht demokratiekompatibel, könne also aufgrund inhärenter Gründen schon logisch nicht „zu Deutschland gehören“, der muss fordern, dass in deutschen Schulen die Kinder muslimischer Familien vom Glauben ihrer Eltern aktiv abgebracht werden. Es müsste demnach Aussteigerprogramme geben, nicht nur für Salafisten, sondern für alle Muslime unter deutschen Dächern. Ein Radikalenerlass für alle, die gen Mekka beten?

So weit zu Ende zu denken trauen sich selbst jene nicht, die in Talkshows deutsche Flaggen auf Armlehnen drapieren. Immerhin wagt man es, den Bau neuer Minarette und den Muezzinruf zum Thema zu machen. Doch wo es wirklich haarig wird, belässt man es beim Geraune, beim Bedeutungsschwangeren. Man laboriert und laboriert, doch vom zu gebärenden Blag lugt bislang nur das rechte Ärmchen hervor. Es sind eher die Islamkritikerkritiker, die den Job des Zu-Ende-Denkens erledigen, wie etwa Jan Fleischhauer kolumniert: „Am Ende jeder Reinheitsutopie steht das Lager.“

Nehmen wir aber die Gegenseite, die von Islamgegnergegnergegnern als „Nix-hat-mit-nix-zu-tun-Fraktion“ verspottet wird. Auch sie hat Furcht, die Frucht ihrer Weltdeutung realiter reifen zu sehen. Trotzig trägt man auf dem lädierten Banner, selbst beim Ritt in den Rücktritt noch: „Der Islam gehört zu Deutschland!“

Gleich wie den „Bösen, fehlt auch den „Guten“ zu oft der Mut, die Konsequenz der Konsequenz des eigenen Denkens zu denken.

Bei aller Schwierigkeit, von „dem“ Islam zu reden, gibt es eben einige gemeinsame Eigenschaften jener Weltreligion, die nicht sinnvoll zu bestreiten sind. Der Satz, es gäbe „den Islam“ nicht, meint ja eigentlich, dass der Islam verschiedene Ausprägung habe, die zu differenzieren gelte. Es gibt ja auch nicht „die“ Rose, sondern rote Rosen, weiße Rosen, wilde und gezüchtete Rosen. Und doch gibt es bestimmte Eigenschaften, die alle Rosen teilen, um „Rose“ genannt werden zu können. So hat auch der Islam gewisse notwendige Eigenschaften, die allen Ausprägungen zu eigen ist.

Etwa: Der Islam geht auf den Propheten Mohammed zurück. Oder: Der Islam ist monotheistisch. Und auch: Der Islam ist universalistisch.

„Universalistisch“ bedeutet, dass eine Weltanschauung den Anspruch erhebt, das eigene Welt- und Wertsystem gelte für ausnahmslos alle Menschen, universell eben, kraftvoll unabhängig davon, ob jene das auch so sehen. Wer sich diesem Wertsystem nicht beugen will, der ist Ungläubiger. Ein „Kuffar“. Und „Kuffar“ ist kein Terminus übergroßer Höflichkeit, um es höflich auszudrücken.

Die Islamgegnergegnerfraktion hat nicht den Mut, zu Ende zu denken, wie die allgemeine Stimmungslage in Schulen sein wird, in denen die Mehrheit der Schüler eine Minderheit der Schüler aktiv als „Kuffar“ wahrnehmen.

Die Realität passiert als Konsequenz heutigen Handelns, ganz unabhängig davon, ob wir unsere heutigen Handlungen tatsächlich zu Ende gedacht haben.

Vordenker sind selten Zu-Ende-Denker. Vordenker sitzen in Talkshows, wenn nicht gerade die Kombination von Alkohol und Autofahren, beziehungsweise die von Crystal-Meth und Moralaposteltum, sie anderweitig ablenkt. Vordenker beraten Minister und Internetkonzerne, wenn sie sich nicht gerade ob ihrer Lebensabschnitts-Stasi-Mitarbeit verteidigen müssen. Vordenker legen die Kriege ihrer Väter neu auf und die Kindeskinder ihres „Vordenkens“ tragen heute schwarz-weiße Fahnen und tragen ihre Zeigefinger hoch und zeugen selbst wieder Kinder.

Nicht die Vordenker, sondern die Zu-Ende-Denker verändern die Welt zum Besseren.

Nehmen wir etwa Elon Musk, Gründer von (unter anderem) PayPal und Tesla. Er hat nicht zwischen zwei Zügen am Joint vor-gedacht „man müsste im Internet so einfach wie an der Kasse bezahlen können“, er hat es zu-Ende-gedacht. Er hat nicht über Verschwörungstheorien spekuliert, wieso keiner elektrische Autos herstellt, er stellt sie selbst her.

Nehmen wir Mark Zuckerberg, Gründer von Facebook. Vor Zuckerberg haben schon andere Vordenker das Thema „soziales Netzwerk“ angedacht, doch er hat es zu Ende gedacht. Oder nennen wir Bill Gates, Gründer von Microsoft und Frührentner. Seine selbst gewählte Aufgabe ist es heute, Afrikas drängendste Probleme und ihre Lösung „zu Ende zu denken“, wie Gates zuvor auch das Thema Geld-verdienen-mit-Büro-Betriebssystemen zu Ende gedacht hat.

Zu-Ende-Denker haben es in Merkel-Deutschland schwer. Auf gefährliche, aber unmittelbar absehbare Konsequenzen hinzuweisen, gilt schnell als „Angst schüren“, oder gar „Populismus“. Nicht Aufklärung gewinnt Journalismus- und Kulturpreise, sondern regierungsgenehmer Zweckoptimismus. Die Kanzlerin hat mit „Wir schaffen das!“ den Refrain vorgegeben, Deutschlands Bezahldenker schreiben brav die Strophen. Es würde wenig überraschen, wenn demnächst der deutsche TÜV abgeschafft wird, ist er doch Deutschlands prominentester Apparat professioneller Bedenkenträger, und „Bedenkenträger“ liegt imagemäßig inzwischen auf der Skala des Pflichtekels ausgewogen mittig zwischen „Rechtspopulistin“ und „Hundevergifter“.

In Leitkulturdebatte und Wertestreit droht uns eine überlebenswichtige Gewohnheit verloren zu gehen: Die Tugend des Zu-Ende-Denkens.

Wir müssen aufhören, all die Vordenker, Anstoßer und Aufschreier ernst zu nehmen. Sie sind, zunehmend, nicht ernst zu nehmen. Wir können uns nicht mehr leisten, sie ernst zu nehmen. Wir können uns nicht mehr leisten, nicht zu Ende zu denken. Wir müssen wieder auf solche Frauen und Männer hören, die die Dinge zu Ende denken. Und wir müssen aufhören, jenen Leuten ein Podium zu geben, die nicht einmal zu Beginn ihres eigenen Satzes so recht wissen, wie

Gastautor Dushan Wegner ist Texter und Autor. Sein aktuelles Buch ist „Talking Points – Die Sprache der Macht“, erschienen im Westend Verlag.

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