Unser Finanz- und Wirtschaftssystem steht vor dem Ende. Eine neue Weltwirtschaftsordnung zieht herauf. Wie es dazu kommt, kann man erklären. Wie die neue Ordnung aussehen wird, ist nicht entschieden. Westlichen Gesellschaften steht jedenfalls dramatisches bevor. Von Max Otte
Während das Finanz- und Wirtschaftssystem vor dem Absturz steht, droht den Gesellschaften der Industrienationen selbst die Zerreißprobe. Vielen Menschen geht es relativ gesehen schlechter als vor 30 oder 40 Jahren. Seit den 70er Jahren ist die Mittelschicht – das Fundament der Demokratie – massiv zurückgefallen. Das hat mehrere Gründe: 1. den Standortwettbewerb durch die Globalisierung sowie weitreichende Deregulierung, 2. extreme Lohn- und Gehaltsunterschiede, wie wir sie bis in die 80er Jahre nicht kannten, 3. eine abnehmende Qualität der öffentlichen Güter und 3. Rettungsaktionen seit der Finanzkrise, die vor allem den Vermögenden genutzt haben. Der sogenannte „Populismus“ ist Folge des Versagens unseres Wirtschaftssystems, nicht Ursache.
Erstens: Globalisierung und Abstieg der Mittelschicht hängen ursächlich zusammen. Der Standortwettbewerb durch die Globalisierung sowie weitreichende Deregulierung hat die mobilen Produktionsfaktoren auf Kosten der immobilen begünstigt. Durch den globalen Standortwettbewerb sind Arbeitnehmer, Regierungen und Gewerkschaften erpressbar geworden. Mobil sind Kapital, Großkonzerne und international orientierte Manager. Immobil sind die meisten Arbeitnehmer, die meisten Mittelständler. Wer ein Haus gebaut, eine Familie gegründet und in ein soziales Beziehungsgeflecht investiert hat, hat Sozialkapital aufgebaut. Da ist es schon mit erheblichen materiellen und immateriellen Kosten verbunden, auch nur innerhalb eines Landes umzuziehen. Was zunächst nur in der Industrie stattfand, übertrug sich nach und nach auf andere Wirtschaftssektoren.
Während in den vergangenen drei Jahrzehnten die Gehälter der Top-Manager explodierten, stiegen die Realeinkommen der Arbeitnehmer auch in Deutschland nur sehr moderat, wie der frühere Handelsblatt-Journalist Daniel Goffart (Das Ende der Mittelschicht – Abschied von einem deutschen Erfolgsmodell, 2. Auflage, München, Berlin Verlag, 2019) darlegt. Für Durchschnittsverdiener waren oft sogar Stagnation oder Reallohnverluste zu verkraften. Mittlerweile befindet sich fast jeder Vierte in einem prekären Arbeitsverhältnis, das sind in der Bundesrepublik fast acht Millionen Menschen. Der Berliner Finanzwissenschaftler Timm Bönke kommt zu dem Schluss, dass die Lohnkurve ab dem Jahrgang 1965 nach unten zeigt. Dieser Jahrgang trat um 1990 in das Berufsleben ein. Seitdem ist die Mittelschicht um mehr als drei Millionen Menschen geschrumpft (Goffart, S. 33ff). Zwischen dem Jahr 2000 und 2010 sind die Reallöhne nur um 1,4 Prozent gestiegen und in den unteren 80 (!) Prozent sogar gesunken. Seit der Finanzkrise 2008 hat sich die Entwicklung verschärft. Das Handelsblatt spricht von einem „verlorenen Jahrzehnt für die Arbeitnehmer.“
Auch für Normalverdiener wird es immer schwieriger: Das Medianeinkommen lag im Jahr 2019 bei 1.615 Euro netto für Singles und bei 3.392 Euro netto für eine Familie mit zwei Kindern, wobei davon ausgegangen werden kann, dass es in vielen Familien zwei Verdiener gibt. In den meisten Städten lässt sich davon eine Familie nicht mehr wirklich ernähren. In Köln kostet die durchschnittliche 100-qm-Mietwohnung mittlerweile 11,45 Euro je Quadratmeter, also ca. 1.150 Euro. Damit ginge ein Drittel des Einkommens für die Miete drauf. Kürzlich deckte eine Untersuchung des Familienbundes der Katholiken und des Deutschen Familienverbandes alarmierende Zahlen auf. Schon bei einem Bruttoeinkommen von 35.000 Euro (durchschnittliches Bruttoeinkommen in Deutschland: 35.189) rutscht eine Familie in unserem Land unter das gesetzliche Existenzminimum. Es fehlen knapp 3.000 Euro pro Jahr.
Drittens: Die Qualität der öffentlichen Güter wie zum Beispiel Sicherheit, Bildung und Gesundheit – die gerade für die Mittelschicht und die Ärmeren wichtig, sind – nimmt ab. In den USA ist zum Beispiel für die Reichen und Superreichen ist eine eigene Industrie entstanden, die gegen Honorar hilft, dem Nachwuchs einen Platz an einem besonders begehrten College zu ergattern – sei es durch Coaching für die Bewerbung oder auch durch Gefälligkeiten wie Spenden bis hin zu Bestechung. Selbst in Fällen, wo kein Betrug vorliegt, hilft natürlich Geld, um die Kinder auf das Studium vorzubereiten, zum Beispiel durch gute Nachhilfelehrer. Wie schlecht muss das Schulsystem in den USA mittlerweile sein, dass so etwas immer häufiger nötig ist? Auch in Deutschland schicken diejenigen, die es sich leisten können, Kinder zunehmend auf Privatschulen. Ein Beispiel ist die frühere Familienministerin und jetzige Ministerpräsidentin von Mecklenburg-Vorpommern, Manuela Schwesig.
Öffentliche Güter sind aber gerade für Durchschnitts- und Niedrigverdiener wichtig, die von der Infrastruktur für alle stärker profitieren als die Reichen, die zur Not selbst Vorsorge betreiben können, ohne sich allzu einschränken zu müssen. Nehmen wir nur das Thema öffentliche Sicherheit. Heute gibt es in Deutschland vielfach No-go-Areas, in denen kriminelle Clans ihr Unwesen treiben. Bad Godesberg südlich von Bonn war früher ein Ort der Villen, der Botschaften und der Begüterten. Das ist der Ort immer noch – auch. In bestimmte Straßenzüge sollte man sich heute allerdings zumindest nach Anbruch der Dunkelheit nicht ungeschützt trauen. Ich kenne Bad Godesberg seit meiner Kindheit und finde den Ort immer noch sehr schön. Es berührt mich besonders, dass die öffentliche Sicherheit nun selbst hier nicht mehr gewährleistet ist.
Viertens: Zu guter Letzt haben die Rettungsaktionen seit der Finanzkrise vor allem den Vermögenderen genutzt, so dass die Vermögen heute sehr viel ungleicher verteilt sind und die Mittelschicht oft wenig Chancen hat, substantiell Vermögen aufzubauen. Begünstigt durch die Niedrigzinspolitik stiegen die Vermögenspreise massiv, und zwar mit Unterbrechungen schon seit den 1980er Jahren. Fast alles ist teuer: Aktien, Immobilien, Private Equity, Oldtimer, Anleihen und Risikoanleihen. Einzig Edelmetalle und Rohstoffe hinken hinterher.
Seitdem die Notenbanken im Rahmen der Stützungsaktionen einen weiteren Gang zugelegt haben, hat sich die Entwicklung von niedrigen Zinsen auf quantitative Lockerung, Null- und Negativzinsen noch einmal beschleunigt. Je niedriger die Zinsen sind, desto einfacher wird es, Vermögenswerte auf (billigen) Kredit zu erwerben. Es sind vor allem die Reichen, die Großkonzerne und die Staaten, die sich verschulden. Sie kaufen damit „echte“ Vermögenswerte wie Aktien, Immobilien, Land und Private Equity, während die Mittelschicht auf Kontoguthaben sitzt und ihre Alterssicherung oftmals in Pensionskassen stecken hat, die in Anleihen investiert sind. So ermöglichte die Schuldenblase eine gigantische Umverteilung von Realvermögen zu den bereits Vermögenden, während die Mittelschicht auf Geldforderungen sitzt. Keine gute Idee.
Die Mittelschicht und normal arbeitende Menschen leiden eher unter dieser Vermögenspreisexplosion. Damit wird die Vermögensverteilung immer schiefer, immer ungleicher. Nirgends wird das deutlicher als bei den Häuserpreisen und den Mieten. Seit einigen Jahren steigen sowohl Immobilienpreise als auch Mieten rasant. Der „durchschnittliche“ Münchner musste bereits 2017 fast 45 Prozent seines Einkommens für die Miete ausgeben. Zwei Jahre später kosteten in der Stadt an der Isar sowohl ein Reihenendhaus als auch die durchschnittliche Doppelhaushälfte über 1 Million Euro. Zugegeben, München ist Spitzenreiter in Deutschland, aber auch in vielen anderen attraktiven Regionen sind die Preise mittlerweile exorbitant. Zwischen 2015 und 2018 stiegen die Häuserpreise in vielen Mittelstädten rasant, in der Hauptstadt Berlin sogar um fast 50 Prozent. „Die Wohnungsnot treibt die Preise und spaltet die Republik“, schreibt das Magazin focus und fragt: „Hat der Wettbewerb versagt oder doch die Politik?“ (Miet-Monopoly Deutschland – Der große Streit über Einteignung und Preisbremse, focus 17/2019, 20. April 2019, S. 5, 50 – 61, hier S. 5.)
Von 2000 bis 2016 hat sich das je Kopf verfügbare Einkommen der Berliner nur um 1,6 Prozent erhöht – trotz des Wirtschaftsbooms verdienen die Berliner kaum mehr als vor 20 Jahren. Demgegenüber stehen die Mietkosten, die zwischen 2007 und 2017 um 83 Prozent gestiegen sind. Ausgerechnet im sozial schwachen Stadtteil Neukölln betrug der Mietanstieg sogar 150 Prozent. Nicht verwunderlich, dass parallel dazu in Neukölln der Anteil der armutsgefährdeten Bevölkerung von 17 auf fast 27 Prozent hochschnellte. Mittlerweile müssen die Berliner fast die Hälfte Ihres Einkommen für Miete auswenden. Die Zeit resümiert: „Das kann auf Dauer nicht aufgehen, ohne den sozialen Frieden in Deutschlands Hauptstadt zu gefährden.“
Der Populismus ist Folge des Systemversagens, nicht Ursache
Viele Menschen steigen aus der Mittelschicht ab; die Aussicht auf ein würdevolles Leben, in dem man mit einem Arbeitsverhältnis eine Familie angemessen ernähren kann, schwindet. Die amerikanische Zeitschrift Fortune, sicherlich kein sozialistisches Kampfblatt, schreibt: „Das Resultat (der letzten Jahrzehnte, M.O.): eine Wirtschaftsordnung, in der die Klasse der Kapitalbesitzer große Vorteile hat und die Kosten der Zulassung zu und des Ausschlusses von dieser Klasse immer höher werden.“
Vor kurzem erregte der Hedgefondsmanager Ray Dalio, mit einem Vermögen von 19 Milliarden Dollar auf Platz 58 der reichsten Menschen der Welt, Aufsehen: „Seit mehr als 50 Jahren habe ich den Kapitalismus sich in einer Art und Weise entwickeln sehen, die für die Mehrheit der Amerikaner nicht funktioniert, weil sie selbstverstärkende Spiralen für die Vermögenden und die Besitzlosen hervorbringt.“ (Ray Dalio, „Why and How Capitalism needs to be reformed“, Linkedin.com, 5. April 2019)
Er steht nicht alleine da. Bereits vor einigen Jahren äußerte sich Warren Buffett, erfolgreichster Investor der Welt und auf der Liste der reichsten Menschen dieser Erde immer ganz vorne dabei, zum Thema: „Ja, es gibt einen Klassenkampf und es ist meine Klasse, die Klasse der Reichen, die den Krieg führt. Und wir gewinnen.“ Wer Buffett kennt, weiß, dass er meinte: „Leider!“ (Jahresbrief an die Investoren seines Fonds „Berkshire Hathaway“, Berkshirehathaway.com, 2003, S. 7).
Dalio: Immer dann, wenn in den USA die Vermögensverteilung besonders ungleich war, traten „Populisten“ auf den Plan traten (Principles for Navigating Big Debt Crises, 1. Auflage,Westport, Greenleaf Book Group 2018). Das war nach der Finanzkrise 1929 der Fall und ist es seit 2010 wieder. Warum sollte es in anderen Ländern anders sein? Um 1930, aber auch aktuell besitzen die reichsten 0,1 Prozent der Bevölkerung um die 20 Prozent des gesamten Volksvermögens. Um 1980 waren es nur 5 Prozent. Die unteren 90 Prozent der Bevölkerung kamen in den 1980er Jahren auf immerhin knapp 40 Prozent des Volksvermögens. Heute ist es nur etwa die Hälfte.
„Ab einer gewissen Schwelle ist der Aufstieg von Nationalismus und Populismus nicht mehr als spontane Aktion, sondern als vorhersehbare Reaktion auf die Exzesse und blinden Flecken der globalistischen Eliten zu verstehen“, schreibt der amerikanische Finanzanalyst James Rickards in seinem neuen Buch (Nach dem Kollaps – Die sieben Geheimnisse des Vermögenserhalts im kommenden Chaos, 1. Auflage, München, FinanzBuch Verlag, 2019, S 9). „Wenn diese Eliten chinesisches Wachstum auf Kosten westlicher Arbeitsplätze fördern, wieso haben sie nicht damit gerechnet, dass die Arbeiterschicht dieses Programm ablehnt? Wenn die Eliten eine multikulturelle Agenda – die selbst ein soziales Konstrukt ist – verfolgen, wieso haben sich nicht damit gerechnet, dass Menschen mit starken kulturellen, religiösen und regionalen Bindungen diese Agenda ablehnen?“
Dass der Abstieg der Mittelschicht keine naturgegebene Tatsache ist, zeigen die Schweiz und Liechtenstein. Beide Länder haben eine geringe Staatsverschuldung, eine intakte öffentliche Infrastruktur und ein Lohnniveau für die Mittelschicht, das sehr deutlich über fast allen anderen Ländern Europas liegt. Trotz einer starken Währung, dem Franken, sind beide Länder Sitz international wettbewerbsfähiger Konzerne und sie weisen ein höheres Wirtschaftswachstum auf als Deutschland mit seiner vergleichsweise schwachen Währung, dem Euro. Es ist also durchaus möglich, eine intelligente Politik für die Menschen zu machen, ein angemessenes Lohnniveau zu halten und dennoch international wettbewerbsfähig zu sein.
Staatsinterventionen, Repression, Propaganda und Fake News
Die Mittelschicht hat gute Gründe, aufzubegehren. In Frankreich sind Revolten in großem Stil ausgebrochen; in Großbritannien hat das Wahlvolk mit dem Brexit ein klares Signal gegen die „vorwärts-immer-rückwärts-nimmer-Politik“ der EU gesendet; in den USA wurde ein populistischer Präsident gewählt, der gute Chancen hat, seine erste Amtszeit zu überstehen und vielleicht sogar eine zweite zu schaffen. Das Umschwenken der demokratischen Präsidentschaftsbewerber auf Joe Biden zeigt, wie verzweifelt die alten globalistischen Eliten sind. Biden ist alt und tief in Korruptionsvorwürfe verstrickt. Aber Bernie Sanders wäre ebenfalls ein Populist gewesen. Zwar ein Links- und nicht wie Trump ein Rechtspopulist, aber das wollten die Eliten auf keinen Fall. In Deutschland bildet sich eine neue Einheitsfront, um die – teilweise – globalisierungskritische Alternative für Deutschland zu isolieren.
US-Präsident Donald Trump hat seinen Wahlkampf 206 vor allem mit wirtschaftspolitischen Themen gewonnen. Viele Menschen wissen, dass es ihnen schlechter geht als früher. „Make America great again“ war vor allem ein Aufruf, Jobs zurückzuholen. Auf seiner Rede in Davos im Januar 2020 sprach er davon, dass in seiner Regierungszeit die Löhne und Gehälter der Arbeiter und Angestellten zum ersten Mal schneller gestiegen sind als die Managervergütung. Ja, er sprach ausdrücklich mehrfach von der „Arbeiterklasse“, „The Working Class.“ Ob dies richtig ist, müsste in einem Faktencheck geprüft werden. Wichtig ist hier die Tatsache, dass Trump im Vorwahlkampf diesen Aspekt betont. Und schon 2019 zeigte sich Trump ob eines möglichen Wirtschaftsabschwungs nervös. Er drosch so lange per Twitter auf die Fed und ihren vom ihm benannten Präsidenten Jerome Powell ein („die Fed ist unsere größte ökonomische Bedrohung, größer als China“; „die Fed ist das einzige Problem, das unsere Wirtschaft hat“, „die Fed ist ahnungslos“) bis dieser nachgab und den vor einige Zeit begonnenen schrittweisen Ausstieg aus den Niedrigzinsen rückgängig machte.
Mit seiner Steuerreform und seinem handelspolitischen Aktionismus ist Trump – wie auch bei vielen anderen Aktionen – einem Bauchgefühl gefolgt. Ein echtes Konzept steckte nicht dahinter. Allerdings macht sein Beispiel Schule: gerade im Zuge der Corona-Krise werden die Staatsinterventionen weltweit massiv hochgefahren, die ohnehin schon arg bedrohten Freiheitsrechte massiv eingeschränkt. Die Staaten neue Interventionen an. Am 11. Mürz forderten führende deutsche Ökonomen die vorzeitige Abschaffung des Solidaritätszuschlages und ein Aufweichen der schwarzen Null. Zwei Tage zuvor hatte Donald Trump der Presse gesagt, dass er den US-Kongress um die Genehmigung hoher Sonderausgaben („a big number“), wie zum Beispiel eine temporäre Kürzung der Lohnsteuer bitten wolle. All dies passiert, wie in den vorangegangen Artikeln beschrieben, in einem äußerst überdehnten und fragilen Wirtschaftsumfeld.
Um Staatsinterventionen durchzusetzen, ist es hilfreich, Angst zu schüren und Verwirrung zu stiften. Beides schaffen unsere Mainstream-Medien und etablierten politischen Kräfte mittlerweile sehr gut. Das Ausmaß an Framing, lückenhafter und expliziter Fehlinformation in den Mainstream-Medien hat ein beängstigendes Ausmaß angenommen. Hatte ich vor fünf Jahren die Sozialen, unabhängigen und alternativen Medien wie Tichys Einblick noch als eine Ergänzung zu den etablierten Medien wahrgenommen, so ist es mittlerweile umgekehrt.
Ich teile viele Auffassungen Friedrich August von Hayeks ausdrücklich nicht. So sind nach meiner Beobachtung Märkte oft höchst irrational. Ich verdiene mein Geld damit. Auch sind Beamte nicht unbedingt Menschen, die einfach auf Staatsgeld leben und keine gute Leistung bringen wollen. Ich kenne viele pflichtbewusste Beamte und sogar einige pflichtbewusste Politiker. Aber wenn Sie Der Weg zur Knechtschaft in die Hand nehmen, ein Buch, das Hayek zwischen 1940 und 1943 in England geschrieben hat und das 1944 erschien, dann werden Sie geradezu mit der Nase auf unangenehme Parallelen zum heutigen Zustand gestoßen. Hayek beschreibt anschaulich, wie in totalitären Zeiten die Planwirtschaft und die staatliche Lenkung zunimmt und wie die veröffentlichte Meinung immer strenger gelenkt und kontrolliert wird. Leider haben wir das Ende der Fahnenstange wohl noch nicht erreicht. Die neue Weltordnung wird unter massiven Geburtsschmerzen entstehen.
Die neue Weltordnung: drei Zukunftsszenarien
Zwei Dinge sind offensichtlich: 1. Die internationale Ordnung wird sich verändern müssen, und 2. unsere Gesellschaften werden sich verändern müssen. Wie, das ist offen. Ein „Weiter so“ kann es nicht mehr lange geben. Einer, der das verstanden hat, ist Henrik Müller, Chefökonom des manager magazin und Professor für Wirtschaftsjournalismus an der TU Dortmund. „Die westlich dominierte Weltwirtschaftsordnung geht zu Ende – und es dürfte noch schlimmer kommen“, schreibt er im Sommer 2019. Müller sieht drei mögliche Szenarien. Einerseits könnte ein neuer US-Präsident, der 2020 gewählt wird, es schaffen, den Westen noch einmal zu einen. Eine westliche Großfreihandelszone nach dem Modell des gescheiterten TTIP würde entstehen. Deren Regeln müssten China, Russland und andere akzeptieren – oder draußen bleiben. Oder es bilden sich große Handelsblöcke – die EU, USMCA (früher NAFTA), und eine von China dominierte pazifische Wirtschaftszone–, die im Innern offen, nach außen aber relativ geschlossen sind. Schließlich ist auch ein kompletter Zerfall der Weltwirtschaftsordnung nicht auszuschließen. Das Resultat wäre ein Handels- und Währungskrieg aller gegen alle. Henrik Müller sieht Szenario zwei als das wahrscheinlichste an. Krisenökonom Daniel Stelter hingegen stellt vermehrte Anzeichen für einen Währungskrieg fest.
Für die Weltpolitik insgesamt sehe ich unter Einbeziehung militärischer Aspekte drei Hauptszenarien: 1. ein neuer „Kalter Krieg“ zwischen einem amerikanisch dominierten und einem chinesisch geführten Block, 2. ein heißer globaler Krieg und 3. eine halbwegs stabile Großraumordnung mit mehr als zwei Blöcken.
Ein neuer „Kalter Krieg“: Der sogenannte Westen rückt wieder enger zusammen, eine transatlantische Freihandelszone entsteht. China wird sich allerdings nicht kleinkriegen oder eingliedern lassen, so dass eine neue Blockbildung wie zwischen 1947 und 1989 die Welt dominieren wird. Letztlich wird ein neuer Konflikt der Systeme ausbrechen – zwischen dem amerikanischen Finanzkapitalismus und den Kapitalismus chinesischer Prägung. Europa spielt in diesem Szenario als Akteur keine Rolle mehr und ist fest in das US-amerikanische Herrschaftssystem integriert oder „angeschlossen“. Russland ist eine Unbekannte. Vielleicht kann es sich als halbwegs souveräner Staat halten, vielleicht findet nach dem Abtreten Wladimir Putins irgendwann ein Wechsel statt, so dass der „Westen“ Russland in seine Einflusssphäre eingliedern kann. Vielleicht wird Russland durch chinesisches Kapital immer mehr in die chinesische Einflusssphäre gezogen.
In dieser Welt wird es beiden Blöcken zunächst ökonomisch einigermaßen gut gehen, wenn auch breite Bevölkerungsschichten nicht davon profitieren werden. Die jeweiligen Wirtschaftsblöcke sind groß genug, um alle Wirtschaftsgüter kosteneffizient zu produzieren. Auch eine (zwangsweise) Reorganisation und Bereinigung der Schulden im „Westen“ könnte vielleicht mit Hinblick auf die „Bedrohung“ durch das andere System durchgesetzt werden. Allerdings wären es wahrscheinlich Europa und hier wiederum Deutschland, die die Hauptlast tragen, während sich die USA auf Kosten der Verbündeten entschulden und ihre Dominanz festigen. Für Europa ist das keine besonders erstrebenswerte Zukunft– die Oligarchisierung und Militarisierung der Politik, weiterer Sozialabbau und die Verarmung breiter Bevölkerungsschichten nach US-amerikanischem Muster sowie eine weitgehende Fremdbestimmung in der Außenpolitik wären die Folge. Das Europäische Währungssystem würde zerbrechen; wahrscheinlich würde im westlichen Block eine einheitliche Welt- oder Kryptowährung durchgesetzt.
In den Randbereichen werden die beiden Blöcke mit nahezu allen Mitteln um die Vorherrschaft kämpfen: mit Krediten und Wirtschaftshilfe, Geheimdienstoperationen und Umsturzversuchen, auch über Stellvertreterkriege und vielleicht sogar direkte Interventionen. Hinzu kommen die weiteren Konfliktfelder Cyber- und Weltraumkrieg. Im Kalten Krieg waren der Iran, die Tschechoslowakei, Chile, Kuba, Nicaragua, Panama, Angola, Vietnam und etliche andere Länder betroffen. Brennpunkte zukünftiger Konflikte sind Afrika, Pakistan, Indien und Afghanistan sowie vielleicht sogar Südamerika, in dem China bereits heute Fuß fasst. Die Situation in Venezuela könnte ein Vorbote für weitere Unruhen in Süd- und Mittelamerika sein: die Regierung Maduro hält sich hartnäckig trotz massiver Wirtschaftssanktionen und Geheimdienstoperationen der USA, weil sie von China und Russland unterstützt wird.
Großer Krieg: Kaum jemand wird gerne darüber nachdenken; die meisten werden es sogar verdrängen wollen. Auch ein großer, heißer Krieg ist denkbar. Graham Allison, langjähriger Dekan der Harvard John F. Kennedy School of Government hat ein Buch darüber geschrieben, wie sich die Rivalität zwischen den USA und China zu einem Krieg auswachsen könnte. Laut Allison werden die wenigsten Waldbrände von Brandstiftern verursacht. Rahmenbedingungen wie das Klima, achtlos weggeworfene Zigaretten, nicht richtig gelöschte Lagerfeuer, Unfälle in Unternehmen und Blitzeinschläge sind viel wahrscheinlichere Ursachen. Ähnlich ist es mit der Kriegsgefahr. Planer und Kriegsstrategen müssen dieses Szenario in Betracht ziehen, um ungeplante Kriege möglichst zu verhindern.
Stabile Großraumordnung: Das aus meiner Sicht beste Szenario wäre eine Großraumordnung mit mehreren größeren Blöcken, die koexistieren und einen gewissen Austausch untereinander zulassen. Zumindest drei solcher Blöcke zeichnen sich deutlich ab: die USA und ein Teil der westlichen Hemisphäre, China und ein Teil Asiens, Europa. Vielleicht treten noch weitere Blöcke hinzu. Bereits der Staatsrechtler Carl Schmitt hatte 1950 in Der Nomos der Erde (4. Auflage, Berlin, Duncker & Humblot Verlag, 1950) eine solche Großraumordnung entworfen. Auch der amerikanische Politikwissenschaftler Samuel Huntington und sein russischer Kollege Alexander Dugin vertreten Großraumkonzepte. Bei beiden Denkern werden die Blöcke eher durch die Kulturen als durch ökonomische Verflechtungen definiert.
Die „liberal“-interventionistischen Eliten des Westens lehnen eine Großraumordnung ab, da diese ihre „offene Weltordnung“ bedrohen würde. Der Regionalismus ist ihnen geradezu ein Alptraum. Doch darf die Frage schon gestellt werden, was an relativ homogenen Großräumen, die für Stabilität im Inneren sorgen und nach außen locker kooperieren, so verkehrt sein muss. Ähnliches hat Europa 1648 mit dem Westfälischen Frieden eine Ebene darunter, auf der Ebene der Staaten, erreicht: man mischte sich in Religions- und Glaubensfragen nicht mehr beim Nachbarn ein und koexistierte. Zwar sicherte das nicht immer den Frieden, aber ein großer Vernichtungskrieg wie der Dreißigjährige Krieg konnte für die nächsten über 250 Jahre verhindert werden. Man sollte also die Möglichkeit einer Großraumordnung für die Welt nicht ungeprüft vom Tisch wischen, zumal unsere aktuelle Weltordnung an allen Ecken und Enden aus den Fugen gerät.
Die Ökonomien solcher Großräume wären leistungsfähig genug, eine gewisse De-Globalisierung zu verkraften. Die „Governance“, die politische Koordination in den einzelnen Blöcken wäre einfacher, als in der aktuellen globalen Welt mit ihren multiplen Konfliktfeldern.Und eine solche Großraumordnung wäre auch die letzte Chance für Europa und das europäische Wirtschafts- und Gesellschaftsmodell.
Zum Abschluss dieses dritten Teils träume ich kurz: Deutschland vertritt seine Interessen aktiver als Führungsmacht in Europa, indem es eine solide Geldpolitik und eine grundlegende Reform des Euro-Systems durchsetzt. Frankreich bringt seinen ständigen Sitz im Sicherheitsrat und seine Atomstreitmacht zugunsten europäischer, nicht nationalstaatlicher Interessen ein. Das europäische Wahlrecht wird reformiert: ein Bürger, eine Stimme. Das Parlament wird zu einem echten Parlament, schlägt die Mitglieder der Kommission vor und wählt diese. Ein verteidigungspolitisch unabhängiges Europa betreibt eine Entspannungspolitik nach allen Seiten.
In Teil IV lege ich dar, was Sie persönlich tun können, um sich gegen die kommenden Krisen zu wappnen.
Max Otte ist Investor, Fondsmanager, Publizist und politischer Aktivist. Er hatte Professuren an der Boston University, der Hochschule Worms und der Karl-Franzens-Universität Graz inne und nahm einen Lehrauftrag an der Universität Erfurt wahr. Ende 2018 schied er freiwillig und mit Dank des Ministers als Beamter und Professor auf Lebenszeit aus, um sich ganz diesen Tätigkeiten widmen zu können. Otte hat über ein Dutzend Bücher geschrieben, darunter die Bestseller Der Crash kommt (2006), eines der bestverkauften deutschen Wirtschaftsbücher aller Zeiten, und Weltsystemcrash (2018).
Sie müssenangemeldet sein um einen Kommentar oder eine Antwort schreiben zu können
Bitte loggen Sie sich ein
Die Überschrift sehe ich als unsinnig an: eine neue Weltordnung ebtstehte. Nein, denn die entsteht nicht, weil es auch heute gar keine gibt oder geben kann. Unsere Basis ist das Lebensfeld und nicht eine Hyper- Ordnung, denn das ist nur das Mittel, nicht die Lebensbasis! Wir machen uns Ordnungen und leben in Ordnungen, die uns (und die unseren) übersteigen (die der Natur, des Kosmos), aber die unseren sind eben uns nicht übergeordnet, sondern Ordnungen neben uns, nicht über uns! Otto denkt also antik und nicht aufgeklärt.(Sind sie römischer Katholik?)
Die Carl Schmitt´sche Konzeption mehrerer mit einander teils konkurrierender, teils kooperierender Großräume wäre in der Tat für Europa die beste Alternative unter in Betracht kommenden Möglichkeiten einer neuen globalen Ordnung. Der prognostische Blick des langjährigen Gesprächspartners von Carl Schmitt, ich meine Ernst Jünger, sah allerdings den „Weltstaat“ schon 1960 am Horizont erscheinen. In dem Sammelband „Wo stehen wir heute“, Herausgeber H.Walter Bähr, mit damals bedeutenden Autoren , wie Friedrich Heer, Karl Jaspers, Max Picard, Eduard Spranger, Arnold Toynbee u.s.w. veröffentlichte E.Jünger die Konzeption des „Weltstaates“ unter dem Titel „Der Weltstaat – Organismus und Organisation“ Eine „offene Weltordung“ der „liberal“ interventionistischen… Mehr
Geld regiert die Welt. Immer und jederzeit. Und niemand, aber auch wirklich niemand, wird etwas dagegen tun können. Von daher ist es fast schon egal, welches System nach einem Crash die Oberhand gewinnt. Der Mensch an sich ist Überlebensweltmeister und nur die Stärksten holen das Bestmögliche für sich heraus. Sie schützen ihren kleinen Kreis und der Rest ist ihnen egal. Glauben Sie ernsthaft, dass das auch nach weiteren Umstürzen anders sein könnte? Man denke an die Weimarer Republik und ebensolche Beispiele in anderen Ländern der Erde, da wurde nur eine Kaste gegen die nächste getauscht. Der Mensch ist in Wirklichkeit… Mehr
Geschickt haben es finanzkräftige Kreise verstanden, hier auch besonders in Deutschland und unter Einspannung ihrer Medien, die betroffene Mittelschicht zu spalten. In Links, Rechts, Grün, Liberal und dazu noch Konservativ. Die eigentliche Mitte, die sie eigentlich vertreten müsste, wurde so bewusst politisch ausgeblutet. Allein schon durch die Digitalisierung wird es enorme weitere Veränderungen in der Gesellschaft geben. Eine weitere Zentralisierung der Wirtschaft und damit der Finanz und Machtmittel auf immer weniger Personen, scheint nicht ausgeschlossen. Ob die Menschen tatsächlich die Kraft aufbringen können sich zu einigen und dagegen erfolgreich aufzubegehren, scheint fraglich. Die Digitalisierung, samt KI, kann so zu einer… Mehr
Wie von Ihnen zu erwarten, Herr Hellerberger, finde ich Ihren Kommentar wohltuend analytisch. Und weil Analyse alleine noch kein Qualitätsmerkmal ist, sondern auch treffsicher und in einem gewissen Sinne „richtig“ sein muss, empfinde ich Ihren Kommentar als besser als den mMn sehr ausschweifenden Breitband-Textzyklus von Herrn Otte (ja, viel schreiben kann er zweifellos…). Ihrem letzten Abschnitt allerdings stimme ich anders als dem Vorhergehenden weder zu noch widerspreche ich ihm ausdrücklich. Aber eine so weit nach vorne reichende Prognose muss mMn viel mehr implizite Verzweigungs-Annahmen machen, und dann wahrscheinlichkeitsgewichtet präferieren (wobei alleine schon die Wahrscheinlichkeitszuordnungen zunehmend subjektiv werden und damit nicht… Mehr
Also läuft es darauf hinaus was Brzezinski in The Grand Chessboard beschrieben hat. Drei große Blöcke und Länder die unter verschiedenen Einflüssen stehen. Die Afrikanischen und ein Teil der Asiatischen Volkswirtschaften, wie Indien oder Indonesien, werden zwischen den dreien stehen oder bilden selber einen Block. Schöne neue (wirtschafts) Welt.
Geboren Anfang der 80er kann ich nur sagen, die Knüppel, die mir zwischen die Knie geworfen wurden, sind Legion.
Schade, die ersten 2 Teile habe ich verpasst. Den Beitrag halte ich nämlich für hervorragend. Unzweifelhaft wandelt sich die Welt. Ich selbst habe schon vor Jahren behauptet, dass die Zeit der westlichen Vorherrschaft sich so langsam dem Ende zuneigt. Das asiatische Jahrhundert hat längst begonnen. Alle wesentlichen Länder Ostasiens haben es inzwischen geschaft, eine breite Mittelschicht aufzubauen, während sie in Europa schwindet. Über die Gründe kann man herzlich streiten. Um meine Meinung dazu hier zu schildern fehlt mir gerade die Zeit. Aber ich möchte an den leider schon verstorbenen G. Westerwelle erinnern. An seiner Aussage zur spätrömischen Dekadenz war sehr… Mehr
Merkwürdigerweise scheint niemand den Einfluss der afrikanisch-arabischen Welt jemals in irgendein Szenario mit einzubeziehen, obwohl diese aufgrund von (1) Kontrolle über Schlüsselrohstoffe, (2) exponentiellem Bevölkerungswachstum und (3) ideologisch untermauerter Aggressivität nicht zu vernachlässigen sein dürfte. Auch chinesisches Kapital wird in Afrika auf Dauer nicht den Deckel auf dem Topf halten können.
Im Gegensatz zu den anderen „Guten“ leistet China im Gegenzug für die afrikanischen
Länder Wirtschaftshilfe und baut Infrastruktur auf, türmt nicht bloß die Konten afrikanischer Despoten in Europa oder den USA weiter auf.
Mit dem Deckel auf dem Topf halten ist, leider, u.a. auch die Bundeswehr in Mali beschäftigt. Und ganz nebenbei sorgt sie damit auch für den weiteren Zustrom chancen- und arbeitsloser Einheimischer in die europäischen, vornehmlich das deutsche Sozialsystem….
Sage doch niemand, unsere beste Physikerin könne doch nicht vom Ende her denken, äähh, upps, oder so….