Wladimir Putin stellt eine mindestens 200.000 Mann starke „Nationalgarde“ auf, die ihm unmittelbar unterstellt ist. Schwächezeichen oder Schritt zur Neuordnung der persönlichen Macht?
Wieder einmal geben „russische Verhältnisse“ der Außenwelt Rätsel auf. Hintergrund: Jüngst gab Russlands Präsident bekannt, dass eine mindestens 200.000 Mann starke „Nationalgarde“ aufgebaut werden solle, die unmittelbar dem Präsidenten unterstellt ist. Schwächezeichen oder Schritt zur Neuordnung der persönlichen Macht?
Russlands Sicherheitskräfte sind für Außenseiter kaum überschaubar. Denn sie umfassen neben traditionellen Polizeikräften und den klassischen Militäreinheiten zahlreiche Sondereinheiten, die den unterschiedlichsten Stellen zugewiesen sind. So verfügen beispielsweise Armee und Marine über „Spetsnaz“-Einheiten – Elitetruppen, die unter anderem sowohl zur Sabotage als auch zur Sabotageabwehr eingesetzt werden. Als Teile der Armee unterstehen sie dem Militärgeheimdienst GRU.
Dem Innenministerium unterstellt sind unter anderem die paramilitärische Spezialpolizei OMON (Otrjad Mobilny Osobogo Nasnatschenija – „Mobile Einheit besonderer Bestimmung“) sowie Spezialeinheiten zur Terrorbekämpfung und Personen- wie Objektschutz. Neben dem Innenministerium hält auch der Inlandsgeheimdienst FSP für diese Aufgaben eigene Eliteeinheiten mit den Bezeichnungen „Wympel“ und „Alpha“ vor.
Einige Spezialeinheiten sind derart geheim, dass nicht einmal bekannt ist, ob sie tatsächlich existieren. So soll der russische Auslandsgeheimdienst eine Einheit namens „Zaslon“ unterhalten, die beispielsweise in Syrien und im Irak tätig sein soll.
Putins eigene Armee
Zu dieser unübersichtlichen Gemengelage soll nun, wie Russlands Präsident Vladimir Putin vergangene Woche ankündigte, eine weitere paramilitärische Truppe hinzukommen. Putin bezeichnete sie als „Nationalgarde“ – doch es macht niemand in Russland einen Hehl daraus, dass es sich dabei um eine klassische Prätorianergarde handeln wird, die unmittelbar und ausschließlich dem Befehl des Präsidenten unterstellt ist. Mit anderen Worten: Putin schafft sich eine eigene Privatarmee.
Grundlage dieser Präsidentengarde sollen demnach Einheiten sein, die bislang dem Innenministerium unterstellt waren. 200.000 Mann sollen den Grundstock bilden – vorgesehen ist eine Aufstockung auf das Doppelte. Offizielle Aufgabe dieser neuen Armee: Die „Auflösung von Massenunruhen“, die Bekämpfung von Terrorismus und Banditentum, die Befreiung von Geiseln sowie die Überwachung des privaten Waffenbesitzes und die Kontrolle privater Sicherheits- und Wachdienste.
Das mag auf den ersten Blick plausibel klingen – und lässt dennoch die Frage zu, weshalb diese Aufgaben nun plötzlich von einer Quasi-Armee-Einheit des Präsidenten und nicht von den ohnehin schon übermäßig aufgeblähten, vorhandenen Sicherheitskräften wahrgenommen werden. Und es lässt vor allem die Frage zu, weshalb der Präsident eines Landes, das nicht einmal doppelt so viele Einwohner hat wie die Bundesrepublik Deutschland und bereits über rund 800.000 reguläre Militärkräfte und eine bestenfalls zu schätzende Anzahl von „Spezialeinheiten“ verfügt, nun auch noch eine Präsidentenarmee benötigt, die allein für sich schon mehr als doppelt so viele Angehörige haben wird wie die deutsche Bundeswehr.
Die Auflösung von Massenunruhen
Eine offensichtliche Kernaufgabe dieser neuen Armee ist bereits offiziell bekannt gegeben worden: Die „Auflösung von Massenunruhen“. Und dieses dann nicht infolge möglicherweise komplizierter Abstimmungsprozesse zwischen Innenministerium, Geheimdienst und Armeeführung, sondern auf unmittelbaren Befehl des Präsidenten. Der Rückschluss liegt auf der Hand: Putin hat offensichtlich das Vertrauen sowohl in die Kräfte des Innenministeriums als auch des Militärs verloren, beispielsweise bei „Hungerrevolten“ auf das eigene Volk zu schießen. Einmal mehr scheint hier seine DDR-Erfahrung durchzublicken, deren Untergang 1989 er maßgeblich der Tatsache anlastet, dass die Offiziersebene nicht nur bei der NVA, sondern selbst bei der Spezialeinheit des Wachbataillons „Feliks Dzierzynski“ der DDR-Staatssicherheit angesichts der wankenden Politik nicht mehr bereit war, die bewaffneten Einheiten gegen das eigene Volk antreten zu lassen. Gleichzeitig – und dieses macht den Zeitpunkt der Einrichtung dieser neuen Armee so spannend – ist hier die offensichtliche Befürchtung zu erkennen, dass zumindest Putin mittlerweile derartige Hungerrevolten konkret befürchtet. Denn ginge es bloß um eine generelle Neuordnung, dann hätte diese längst erfolgen können und wäre längst vollzogen. Ein konkreter Anlass wird daher der wirtschaftliche Zusammenbruch Russlands sein, den Putin nicht mehr aufzuhalten in der Lage ist. Auch wenn immer wieder betont wird, dass das russische Volk zu großem Leiden bereit sei, so scheint sich zumindest bei Putin die Erkenntnis durchgesetzt zu haben, dass die Grenzen selbst dieser Leidensfähigkeit in absehbarer Zeit erreicht sein könnten.
Bekämpfung von Terrorismus und Banditentum
In eine ähnliche Richtung kann die Aufgabe der „Bekämpfung von Terrorismus und Banditentum“ weisen, denn dass damit nicht auf jenes mafiöse Oligarchenwesen gezielt wird, welches Russland seit geraumer Zeit aussaugt, scheint naheliegend sein. Denn auch dieses hätte man – wäre es gewollt – längst in den Griff bekommen können. Vielmehr ist im russischen Neusprech, welches von den russischen Propagandaorganen regelmäßig zelebriert wird, jeder Oppositionelle, der es wagt, Kritik am Präsidenten zu üben, bereits ein Terrorist. Und unter Banditentum wird nicht die russische Mafia verstanden, sondern im Zweifel jeder, der dem Präsidenten nicht zu willen ist oder für politische Spielchen gebraucht wird – sei es über konstruierte Mordvorwürfe oder angeblichen Steuerbetrug. Da bildet die „Überwachung des privaten Waffenbesitzes und die Kontrolle privater Sicherheits- und Wachdienste“ dann gleichsam das Sahnehäubchen – denn damit hätte der Präsident, sollte er es dennoch für zweckmäßig erachten, sogar die Handhabe, jede der zahlreichen Privatarmeen, die das Oligarchenwesen hat entstehen lassen, im Ernstfall auszuschalten.
Fassen wir allein all diese Aspekte zusammen, dann verfügt Putin künftig über eine Elitetruppe, die ihn in die Lage versetzt, Russland im Handstreich in eine Ein-Mann-Diktatur zu verwandelt.
Bemerkenswert ist auch, wer – unter Putin – diese Präsidentenarmee befehligen soll. Diese Aufgabe wird Wiktor Solotow zufallen. Der wiederum ist ein langjähriger Vertrauter des Kremlchefs und war bereits in der Vergangenheit mit der Leibwache zuständig für dessen persönliche Sicherheit.
Womit wir uns nunmehr jenen zuwenden sollten, die unmittelbar durch die Einrichtung der Privatarmee betroffen sind.
Misstrauensvotum gegen Alle außer sich selbst
Wenn Putin sich nun eine Privatarmee schafft, die allein schon so stark ist wie die regulären Streitkräfte von Deutschland und Frankreich zusammen, und diese einem seiner engsten Vertrauten unterstellt, dann ist dieses ein unverkennbares Misstrauensvotum gegen Alle – außer sich selbst. Es signalisiert seiner Umgebung nicht nur, dass Putin sich von der Vorstellung verabschiedet hat, sein Amt irgendwann freiwillig zu räumen – es zeigt auch, dass Putins Vertrauen in seine Mitarbeiter an erkennbare Grenzen stößt.
Da ist zum einen der Innenminister Vladimir Kolokoltzew. Zwar betonte der neue Chef der Nationalgarde, Solotow, dass die neue Armee ihre Aufgaben „in enger Abstimmung“ mit dem Innenministerium wahrnehmen werde – das allerdings ändert nichts daran, dass der bislang mächtige Chef des Inneren in Sachen Sicherheit künftig zum Marionettenminister schrumpft. Ohne die ihm bisher unterstellten Einheiten mag er zwar bei Bedarf von Solotow konsultiert werden – doch wie sollte er vom Präsidentenwillen abweichende Vorstellung künftig umsetzen? Seine korrupten Polizeitruppen werden kaum in der Lage sein, der Prätorianergarde Paroli zu bieten.
Hart getroffen allerdings wird auch Armeechef Sergej Shoigu. Der Halbturwine wurde noch vor kurzem in einem offiziellen Armeeportal als künftiger Nachfolger Putins auf dem Präsidentenstuhl ins Gespräch gebracht (Tichys Einblick berichtete) – ein Text, der ebenso plötzlich verschwand, wie er aufgetaucht war. Da in Russlands offiziellen Publikationen nichts zufällig geschieht, könnte es vor allem dieser kleine Betrag gewesen sein, der Putins Entschluss, sich eine eigene Armee zu schaffen, zumindest beflügelt hat. Denn mit den avisierten 400.000 Elitesoldaten der „Natsgvardia“ wird er über ein Instrument verfügen, das es im äußersten Krisenfall selbst mit jenen fast 800.000 regulären Soldaten aufnehmen kann, welche wiederum zu einem Großteil aus ohnehin unmotivierten Wehrpflichtigen gestellt werden. Sobald Solotow Putins Privatarmee aufgebaut hat, werden auch Shoigus mögliche Hoffnungen ausgeträumt sein.
Doch selbst von seiner bisherigen Machtbasis – dem KGB – entfremdet sich Putin mit seiner neuen Garde. Dessen Dienste hatten sich in jüngster Vergangenheit zunehmend mehr Kompetenzen angeeignet. Und sie hatten sich gegen den Putin-Getreuen Ramsan Kadyrow gestellt, der in der mit brutaler Gewalt am Abfall gehinderten Provinz Tschetschenien mittlerweile wie ein orientalischer Potentat herrscht und sich sein eigenes Gesetz schafft. Um Kadyrow zu stutzen, machte der Inlandsgeheimdienst FSB nach der Ermordung des Oppositionellen Boris Nemzow umgehend Kadyrows Sicherheitskräfte für die Tat verantwortlich. Nicht, dass der FSB damit eine Unwahrheit verbreitet haben wird – bemerkenswert ist nur, dass hier durch eine der mächtigsten Institutionen faktisch einer der wichtigsten Ausputzer des Kremlchefs öffentlich unter Anklage gestellt wurde. Der reagierte seinerzeit prompt, schirmte die Beschuldigten gegen die föderativen Polizeikräfte ab und untersagte dem FSB, in Tschetschenien aktiv zu bleiben. Damit wurde sowohl das Föderationsrecht als auch die Inlandaufklärung vor die Tür der Kadyrow-Enklave gesetzt. Putin ließ dieses unwidersprochen geschehen.
War bereits jenes Vorgehen Kadyrows ein kaum zu erklärender Affront gegen den mächtigen KGB, so stellt nun die Präsidentengarde einen weiteren, deutlichen Machtverlust der Geheimdienstler dar. Darüber, was Putin bewogen haben mag, nun auch die Hand zu beißen, die ihn bislang gefüttert hat, darf trefflich gerätselt werden und es ist nicht auszuschließen, dass der kleine Leningrader genau diesen KGB als Hauptverantwortlichen für die gescheiterten Pläne in der Ukraine und anderswo und damit für den rasanten Niedergang der Wirtschaft verantwortlich macht.
Aus Angst vor dem Putsch zur Ein-Mann-Diktatur
Es lässt sich angesichts der Gesamtsituation der Eindruck nicht verdrängen, dass Putins Umfeld unmittelbar vor dem Putsch gestanden haben mag – und vielleicht immer noch steht. Denn noch wäre Putin nicht gerettet, sollten seine internen Gegner und Konkurrenten tatsächlich seine Absetzung (und damit sein plötzliches Verschwinden) geplant haben. Noch nämlich steht die Nationalgarde nicht und ist vor allem nicht auf den Präsidenten eingeschworen.
Da jedoch in Russland traditionell das Verhältnis zwischen den Geheimdiensten und dem Militär von tiefer, gegenseitiger Verachtung geprägt ist und das Innenministerium durch den nun verkündeten Schritt bereits entmachtet ist und im Zweifel zwischen allen Stühlen sitzt, könnte Putin tatsächlich eine Chance haben, mit der Privatarmee sein Überleben im Amt zu sichern.
Und dann? Unterstellt, Putin sollte aus dem Desaster, das er mit seinen außenpolitischen Abenteuern und seinem wirtschaftlichen Unverstand angerichtet und das sein Land an den Rand des Ruins gebracht hat, gelernt, dann könnte diese Präsidentenarmee mit den von Solotow formulieren Aufgaben nicht nur dem Ziel dienen, das Überleben des Präsidenten zu retten, sondern vielmehr der erste Schritt dazu sein, die durch die zahlreiche offizielle, halboffizielle und inoffizielle bewaffnete Einheiten diffusen Machtverhältnisse tatsächlich dahingehend zu ordnen, Russlands selbstzerstörerische, an das oströmische Byzanz erinnernden Camerilla-Kämpfe über den Weg zur absoluten Ein-Mann-Diktatur zu beenden. Gerade die Befugnis, „private Sicherheitsdienste“ zu kontrollieren und gegen Bandenkriminalität vorzugehen, könnte erst die entsprechenden Instrumente der Oligarchen und anderer entmachten, um sich später auch gegen die dann immer noch staatlichen Konkurrenzen zu richten.
Caesar oder Tyrann?
In diesem Falle könnte Putin sich wie einst Gaius Octavius zu der Aufgabe berufen sehen, in einem durch eigenes Verschulden zermürbten Staat die übermächtig gewordenen kleinen und großen Heerführer unter Kontrolle zu kriegen. Gaius Octavius nahm 27 vc den Weg, sich bedeutende Militäreinheiten unmittelbar zu unterstellen – und ging als Kaiser Augustus in die Geschichte ein, weil er auf einem darniederliegenden Staatswesen eine Ein-Mann-Diktatur errichtete und in der Lage gewesen ist, sein Rom zu neuer Blüte zu bringen. Beide Ziele dürfte Putin mit Augustus teilen wie dessen Skrupellosigkeit. Allerdings spricht wenig dafür, dass Putin auch über den Charakter und den Weitblick des Augustus verfügt. Vor allem aber fehlte Putin in einem solchen Falle die Zeit. Denn Gaius Octavius, Großneffe und Haupterbe des Gaius Julius Caesar, war Mitte Dreissig, als er die absolute Macht übernahm. Putin, der sich zunehmend mehr als Erbe Stalins versteht, ist bereits über Sechzig.
So spricht dann doch mehr dafür, dass es Putin tatsächlich nur darum geht, sich selbst vor dem Schicksal mancher seiner Vorgänger zu bewahren, indem er möglichen Konkurrenten und Usurpatoren vielleicht gerade noch rechtzeitig den Wind aus den Segeln nimmt. Und nach dem ohnehin schon eingerichteten Polizei- und Geheimdienststaat nun einen Militärstaat anstrebt, in dem er über seine Präsidentengarde unanfechtbar wird.
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