Ein Sessel genügt, Ohrensessel wäre besser. Eine einzige Glühbirne, gerne die guten, alten, nicht-öko-Birnen mit ihrem warmen Licht; irgendwo im Keller gibt es noch welche von der guten Sorte. Das Draussen verschwindet, die Sinne öffnen sich, das Abenteuer beginnt. Es heißt Buch. BUCH.
Hier die vier Vorschläge von Michael Hirz für ihr privates, ganz und gar abenteuerliches Weihnachten. Lesen Sie selbst:
Der Roman kommt mit genau fünf Personen aus, vier lebenden und einer Leiche. Ein Kammerspiel also – aber was für eins! David Vanns jüngster Roman ist ein verstörendes Buch über das Töten, über das Drama Familie, über Männlichkeit und den Barbaren in uns.
Ein elfjähriger Junge geht mit Großvater, Vater und einem Freund des Vaters, der quasi zur Familie gehört, auf die Jagd am Goat Mountain in Nordkalifornien. Wir schreiben das Jahr 1978 und der Roman ist aus der Perspektive des Jungen erzählt. Er soll seinen ersten Hirsch in der Wildnis schießen, die die Heimat seiner Vorfahren war. Das ist Brauch so in der Familie, die indianische Wurzeln hat, und die Hirschjagd ist der Initiationsritus, der den Jungen über die Schwelle zum Erwachsenwerden tragen soll. Am ersten Tag streunt ein Wilderer durchs Revier. Der Sohn beobachtet den Wilddieb durchs Zielfernrohr des väterlichen Gewehrs – und drückt ab, erschießt den Fremden. Ist das schon verstörend genug, wie ein Elfjähriger ungehemmt seinem Tötungsinstinkt folgt, ist es die Reaktion des Kindes noch mehr: Keine Reue, kein Entsetzen, nur die Faszination für die Jagd und das Töten.
Mit dem Mord an dem Wilderer beginnt ein dramatischer Konflikt zwischen den Männern – zwischen dem Großvater, einer unbarmherzigen Figur, die mit geradezu alttestamentarischer Kraft die Familie dominiert, und seinem Sohn, den die Zivilisation stärker geprägt, damit aber in der Auseinandersetzung auch schwächer gemacht hat. Der Freund des Vaters scheint der Einzige zu sein, dem die Ungeheuerlichkeit der Tat bewusst ist. Aber auch er widersetzt sich nicht ernsthaft der Aufforderung, die Jagd trotz des Mordes wie geplant fortzusetzen.
Immer wieder eskaliert der Streit zwischen den Männern, immer wieder drohen die Diskussionen über die Tat ein weiteres Todesopfer zu fordern. Von allen zivilisatorischen Hemmungen frei, rechnet jeder völlig unsentimental und wie selbstverständlich damit, Opfer einer mörderischen Attacke des anderen zu werden – eine grausame und archaische Welt, in deren DNA der Akt des Tötens ein nicht hinterfragter Bestandteil ist.
David Vanns Roman spielt in der Wildnis, der Wildnis Amerikas, aber auch in der Wildnis der menschlichen Seele, in den vorzeitlich angelegten Abgründen in uns, die sich – mühsam verborgen – urplötzlich wieder auftun und in erschreckender Vitalität zeigen. Für David Vann scheint das Schreiben Therapie zu sein: In seinen Romanen tauchen immer wieder größere Bruchstücke der eigenen Biografie auf, er verarbeitet seine eigene, schreckliche Familiengeschichte. Wie schon in seinem vorherigen Roman („Dreck“), einer atemberaubenden Mutter-Sohn-Geschichte, handelt er mit den zeitlosen Themen, wie sie in den griechischen Tragödien zu Hause sind. Das ist manchmal an der Grenze zum Pathetischen, aber ein Lichtblick in einer Welt von Verdrängung und Zerstreuung.
David Vann „Goat Mountain“ | Suhrkamp Verlag, 270 Seiten, € 22,95 (e-Book € 19,95)
Es ist eine wahnwitzige, eine irrsinnige Geschichte, die der in Pakistan geborene britische Autor Nadeem Aslam in seinem vierten Roman „Der Garten des Blinden“ erzählt: Zwei junge Männer, Jeo und sein Adoptivbruder Mikal, reisen aus ihrer pakistanischen Heimatstadt nach Afghanistan. Wir schreiben das Jahr 2001, die Zeit unmittelbar nach dem Attentat auf das World Trade Center in New York. Die beiden wollen Verwundeten im Krieg des Westens gegen die Taliban helfen. Gleichzeitig will Mikal vor dem Alltag und der unmöglichen und verheimlichten Liebe zur jungen Naheed, Jeos Frau, fliehen. Ein afghanischer Warlord verkauft sie an die Taliban und eine mit Grauen gespickte Odyssee nimmt ihren Lauf. Während die beiden Männer zwischen unklaren Fronten zerrieben werden und ums nackte Überleben kämpfen müssen, zerfällt ihr Zuhause in der (fiktiven) pakistanischen Grenzstadt Heer. Jeos und Mikals Vater Rohan, Gründer und ehemaliger Direktor einer liberalen Schule wird von Islamisten um sein Lebenswerk gebracht und Jeos Frau Opfer der Nachstellungen eines lüsternen Hauswirts.
Was sich anhört wie eine Kriegsroman ist viel mehr: Aslams Story spielt vor dem Hintergrund des mörderischen Afghanistan-Konflikts, der wie ein Katalysator für menschliche Eigenschaften wirkt, der das Böse ebenso größer werden lässt wie das Gute. Gleichzeitig, paradox, wird immer unklarer, was richtig und was falsch ist angesichts des Horrors dieser Auseinandersetzung. „Der Garten des Blinden“ ist eine Geschichte über den bodenlosen Alltag in einer bitterarmen Region unserer Welt, eine Geschichte über die Kraft der Liebe, den unmenschlichen Starrsinn, zu dem ein einseitig verstandener Glauben befähigt, über Unfähigkeit, Hybris und Borniertheit des Westens, über Zivilisation als hauchdünnem Firnis, hinter dem ungeahnte Abgründe lauern, eine Geschichte über das zarte Pflänzchen Emanzipation in einer islamischen Welt, in der der Islamismus immer stärker an Boden gewinnt. Und es öffnet die Augen mehr als jede politische Abhandlung, was ein verfallender Staat – in diesem Fall Pakistan – mit seiner Gesellschaft und den Menschen macht, wie Gemeinschaft und Humanität rapide verfallen und Korruption, Willkür und Brutalität sich wie Krebsgeschwür vebreiten.
Wenn es eines Beweises bedarf, dass Lesen klüger macht, dass Lesen zum Verständnis der Welt in ihrer ganzen Vielfalt und Widersprüchlichkeit wesentlich beitragen kann, dann legt ihn Nadeem Aslam mit diesem Buch vor. Seine Herkunft – er ist in Pakistan aufgewachsen – und zahlreiche Reisen nach Pakistan und Afghanistan geben dem Roman die Glaubwürdigkeit des Authentischen. In einer ungemein poetischen, gleichwohl klaren Sprache zieht er den Leser schon in den ersten Seiten in seinen Bann, seine plastischen Schilderungen von Menschen, Motiven und Situationen machen den „Garten des Blinden“ zu einer fesselnden Lektüre.
Nadeem Aslam „Der Garten des Blinden“ | DVA, 427 Seiten, € 22,99
Manchmal ist das Ende noch nicht das Ende. Das gilt nicht zuletzt für die Liebe, diese schönste, komplizierteste und verletzlichste Beziehung zwischen zwei Menschen. Mit einer quälenden Trennung beginnt auch der Romanvierteiler des belgisch-französischen Autors Jean-Philippe Toussaint. Marie, weltweit renommierte Modedesignerin mit (erfolgreichen) künstlerischen Ambitionen, verlässt den namenlosen Ich-Erzähler im von der Kritik hoch gelobten ersten Band („Sich lieben“). Die Vorgeschichte wird in „Fliehen“ nachgeliefert, im dritten Band erfährt der Leser „Die Wahrheit über Marie“ und jetzt schließt Toussaint mit dem vierten kleinen Roman unter dem Titel „Nackt“ den Zyklus ab.
Die äußere Geschichte ist rasch erzählt. Ein Sommer in Paris neigt sich ermattet dem Ende zu. Ein Mann wartet voll Sehnsucht auf den Anruf einer Frau, seiner früheren Partnerin Marie. Sie sind zwar kein Paar mehr, sondern längst zwei melancholisch-einsame Metropolen-Geschöpfe, aber es verbindet sie eine intensiv erlebte gemeinsame Geschichte. Schmerzhaft haben sie erfahren, dass es eben nicht ausreicht, sich leidenschaftlich zu lieben. So können nicht miteinander, aber auch nicht wirklich ohne einander sein. Gleichzeitig bedeutet jedoch das Aus für die Beziehung keineswegs das Aus für ihre Liebe.
Als der ersehnte Anruf Maries kommt, teilt sie ihrem Ex-Partner mit, dass ein naher Bekannter ihres Vaters auf Elba gestorben sei und bittet ihn, sie zur Beerdigung zu begleiten. Zusammen reisen sie auf die Mittelmeerinsel und erleben dort merkwürdige Dinge: Es geschieht ein Einbruch, es fallen Schüsse, eine Schokoladenfabrik ist nach offensichtlicher Brandstiftung in Flammen aufgegangen, es geht um Kumpanei zwischen einem Finsterling und der Polizei. Alles äußerst mysteriös und wer auf Aufklärung wartet, wird enttäuscht. Alle diese Vorgänge, die sich wie die Zutaten zu einem Krimi lesen, sind nichts als Leimruten, die der Autor auslegt.
Keine dieser Indizien führt weiter, hat eine tatsächliche Bedeutung. Sie sind Teil einer Außenwelt, die unerheblich ist und die für die ganz eigene, ganz hermetische Welt des Paares nicht zählt. Wie ein hypnotisierter Traumtänzer ist der Mann auf Marie fixiert, seine Wahrnehmung hat keinen anderen Gegenstand als diese eine, diese einzige Frau. Und ganz am Ende des vierten und letzten Teils des Romanzyklus finden sie denn auch wieder zusammen. „Aber du liebst mich ja?“ lautet der letzte Satz Maries, in dem etwas fast unwirklich Verwundertes zum Ausdruck kommt und der ein großartiges Finale dieses Vierteilers ist.
Natürlich ist diese ewige Geschichte vom Suchen und Finden der Liebe, von ihren Irrungen und Wirrungen schon unzählige Male beschrieben worden. Doch Jean-Philippe Toussaint paraphrasiert dieses unendliche Drama zwischen Mann und Frau auf eine sehr eigene Art. Die Rollenzuteilung ist bei Toussaints Paar eindeutig, die Frau ist die Handelnde, die bestimmende Kraft, der Mann ist der Beobachtende, Abwartende. Er lässt sich treiben, ist ohne Initiative, bleibt unentschieden und merkwürdig kraftlos. Da er der Erzähler ist, entsteht eine eigentümliche Stimmung von trauriger Verlorenheit, von schmerzhaft-schöner Melancholie.
Nichts erfährt man wirklich über den Erzähler, er bleibt nicht nur ohne Namen, er ist auch ein Mann ohne Eigenschaften, ohne Alter, ohne Biografie, ohne Beschreibung auch nur seines Äußeren. Er wirkt wie eine leere Hülle, die ausgefüllt ist ausschließlich von seinem Gefühl für Marie.
Mit „Nackt“ bleibt Toussaint auf der Höhe seiner Erzählkunst, die das Buch auf die Shortlist des bedeutendsten französischen Literaturpreises, des Prix Goncourt brachte und zum Bestseller in unserem Nachbarland machte. Über das größte aller Gefühle zu schreiben und das ohne in Kitsch und Klischee abzugleiten, das macht die Größe des Autors aus – und den Reiz, dieses Buch zu lesen.
Jean-Philippe Toussaint „Nackt“ | Frankfurter Verlagsanstalt, 158 Seiten, € 19,90
„Angst“ heißt der neue Roman von Dirk Kurbjuweit, und einen besseren Titel hätte der Autor wohl kam finden können. Es ist die Angst des Bürgers, die thematisiert wird, die Angst vor dem Ungeplanten, dem nicht Kalkulierbaren, die Angst vor Kontrollverlust und – den eigenen Abgründen. Aus der Literatur und aus dem Kino kennen wir den Einbruch des Verstörenden, der Gewalt in die vermeintliche Idylle, die brutal auch Gewissheiten beenden oder – wohl eher – als Illusion entlarven.
In „Angst“ ist es ein Stalker, der die scheinbar intakte Familie des Architekten Randolph Tiefenthaler heimsucht. Der Stalker wirkt erst wie ein harmloser Soziopath, unansehnlich, Hartz IV-Existenz ohne Antrieb und Beschäftigung, das krasse Gegenteil der vierköpfigen Vorzeigefamilie von Tiefenthaler und seiner Frau Rebecca, die ihre vielversprechende wissenschaftliche Karriere als Genforscherin zumindest vorübergehend aufgegeben hat zugunsten der zwei gemeinsamen Kinder. Das Böse, das wissen wir seit Urzeiten, wohnt im Dunklen, unter der Erde, und so ist es auch im Fall der Tiefenthalers, wo der Stalker sich im Souterrain ihrer großbürgerlichen Berliner Etagenwohnung mit den hohen Stuckdecken eingenistet hat.
Der Stalker, der im Roman konsequent ohne Vornamen „Herr Tiberius“ genannt wird, macht der schönen Rebecca erst schlüpfrige Komplimente, schreibt ihr aufdringliche Liebesbriefe, beobachtet das Paar durchs Schlafzimmerfenster – und beschuldigt es dann, ebenso ungerechtfertigt wie ungeheuerlich, des Kindesmissbrauchs. Spätestens diese Verleumdung lässt die Tiefenthalers zu dem Instrumentarium greifen, das der Rechtsstaat kennt: Nachdem sie Herrn Tiberius erfolglos zur Rede gestellt haben, konsultieren Randolph und Rebecca Tiefenthaler Anwälte, sie schalten ihrerseits die Polizei ein, wenden sich an andere Behörden. Doch alle Versuche, Herrn Tiberius zumindest aus der Wohnung im Tiefparterre zu werfen, scheitern.
Wie ein tödlich-lähmendes Gift wirkt die Existenz von Herrn Tiberius auf das Leben der Familie Tiefenthaler. Die Unbefangenheit im Umgang mit den eigenen Kindern ist seit dem Missbrauchsvorwurf dahin, der Ich-Erzähler ertappt sich erschrocken dabei, wie er der Frage nachgeht, ob möglicherweise seine Frau gegenüber den Kindern übergriffig ist – die ihrerseits von ähnlichen Gedanken geplagt wird.
Peu à peu schwindet die behagliche Sicherheit dieser neobürgerlichen Vorzeigefamilie. Und hinter der perfekten Kulisse zeigt sich, dass Tiefenthalers Idyll einer glücklichen Ehe nichts anderes als Selbsttäuschung ist. Angst und Zweifel dominieren das Denken dieses zutiefst liberalen Zeitgenossen, sein fester Glauben an den Rechtsstaat weicht der Überzeugung, dass ihm nur rohe Gewalt und Selbstjustiz helfen können. Gerade diese Situation bringt ihm seinen Vater näher, einem kleinbürgerlichen, paranoiden Waffennarr, dem sich Tiefenthaler gerade wegen dieses Ticks früh entfremdet hatte.
Die Pistole des Vaters ist es, die die Ohnmacht der Familie beendet, die äußere Sicherheit wieder herstellt. Aber um welchen Preis. Der gebildete, kultivierte Architekt entdeckt in sich den Barbaren, der jenseits aller Rechtsstaatlichkeit zur Selbstjustiz Zuflucht nimmt, der zivilisatorische Standards wie lästigen Ballast über Bord wirft und zur rohen Gewalt greift. Reflektiert wie er ist, erkennt er in jedem Stadium dieser Entwicklung, wie die Angst ihm ein Handeln diktiert, das er bislang zutiefst verachtet hat. Und zu einer weiteren, ebenfalls verstörenden Erkenntnis verhilft ihm die Situation: Die Fremdheit mit dem eigenen Leben, der Verlust der Innigkeit in einer langen Beziehung, in der aus einem Liebespaar ein Elternpaar wird.
Der Autor Dirk Kurbjuweit hat darauf hingewiesen, dass die in dem Roman beschriebene Erfahrung in den Grundzügen autobiographisch ist. Bei ihm ist der abgründige Gedanke an Selbstjustiz nicht zu Tat geworden sondern zum Roman. Aber die Vorstellung, sich von allen Skrupeln und vermeintlich tief verankerten Überzeugungen zu lösen, die hat er, wie er in radikaler Offenheit jüngst bekannte, gehabt. Da war Gewalt dann nicht das Problem, sie war die Lösung.
Dirk Kurbjuweit „Angst“ | Rowohlt Berlin, 252 Seiten, € 18,95
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