In den 1970ern sympathisierte die Intelligenzia mit dem Krieg der RAF gegen die politische Elite der Bonner Republik, heute sympathisiert sie mit der Elite der Berliner Republik gegen das unbotmäßige Volk. Aber das geht neuerdings wählen.
„Deutschland im Herbst“ – angelaufen 1978 in den Kinos und mit dem Goldenen Bären ausgezeichnet und was es sonst noch alles an Ehrungen für Zelluloid gibt – soll die damalige bleierne Zeit beschreiben: Die Lähmung, das Misstrauen und die ständigen Kontrollen im Zusammenhang mit der Ermordung des Arbeitgeberpräsidenten Hanns-Martin-Schleyer, dem Höhepunkt der Terrors der RAF., wie ihn Bettina Röhl treffend beschreibt. Es war Gemeinschaftsproduktion von elf Regisseuren des damals Neuen Deutschen Films – unter ihnen Rainer Werner Fassbinder, Volker Schlöndorff und Alexander Kluge; Heinrich Böll war dabei und Mario Adorf, Heinz Bennent, Angela Winkler und Helmut Griem spielten ohne Gage. Schaut man sich heute den Film an, dann gruselt es einen: Das ist nicht nicht weniger als eine filmische Sympathieerklärung an heroisierte Terroristen; historische Zitate, aus dem Zusammenhang mit der NS-Zeit gerissen, sollen die alte Bundesrepublik in diesen Zusammenhang stellen. Helmut Schmidt war ihr Bundeskanzler; auch das gehört zum Gesamtbild.
1978: Die Intellektuellen des Landes gegen die Regierung
Es ist ein bemerkenswertes Zeitdokument: Die Intellektuellen des Landes gegen ihre Regierung und die wirklich überwältigende Mehrheit der Bevölkerung, die sich nicht lange mit rechtsstaatlichen Verfahren mit den Terroristen aufgehalten hätte. Es waren infantil-romantische Revolutionsträume gegen eine Wirklichkeit beispiellosen Wohlstands und größter Freiheit – und eine Absage an die tatsächlich grauen Gesichter und Anzüge von Beamten, die gemeinsam mit der Bevölkerung dem Wahn nüchtern und bürokratisch ein Ende bereiten mussten. Angesichts der Morde, der wirren Ideologie, des kompletten RAF-Irrsinns stellt man sich ständig die Frage: Was haben eigentlich die Schlöndorffs und Bölls und Adorfs so ständig geraucht, bis diese Heldensaga der in jeder Hinsicht grässlichen Killer im Kasten war? Was sagen die Überlebenden heute dazu? Erinnern sie sich noch, wie weit in ihr eigenes Umfeld die Szene der klammheimlichen Sympathisanten reichte? (Molenbeek lässt grüßen.)
Deutschland im Frühjahr 2016 – diesmal hat die Verblendung das Berliner Regierungsviertel so im Griff wie damals die Filmemacher. Oder umgekehrt: Aus dem bleiernen Herbst wurde ein bunter Frühling, sogar im Winter. Offensichtlich sieht die Bundesregierung ständig einen Film: Blühende Landschaften, freundliche Nachbarn in Ost und West, eine applaudierende Bevölkerung mit „Refugee-Welcome“ Stickern, dankbare Flüchtlinge, die an den Fließbändern stehen, in die Hände spucken und das Bruttosozialprodukt steigern, so dass Andrea Nahles und Sigmar Gabriel vierhändig neue Sozialprogramme echt für Alle hinausschaufeln können – und verarmte Rentnerinnen, hungernde Hartz-IV-Empfänger sowie glucksende Kinder ohne Kita-Plätze mit vor Dankbarkeit Tränen in den Augen haben.
Spricht man mit den Menschen im realen Leben, also weit von der „Wolke der Wohlhabenheit“, hört man von Sorgen. Die Konflikte in Schulen und Wohnvierteln, auf der Straße und im Supermarkt nehmen zu; die Überlastung der Sozialsysteme wird drastischer wahrgenommen, als jede der vielen Statistiken diverser wissenschaftlicher Beiräte es den Regierenden aufschreibt. Die Alltagskriminalität wird faktisch nicht mehr verfolgt. Das war schon vor der neuen Migrantenwelle so, steigert sich aber im Umgang mit ihr. Tatsächlich und gefühlt.
2016: Die Intellektuellen des Landes gegen das Volk
Europa wollen alle; Grenzkontrollen werden als Eingriff in die persönliche Freiheit wahrgenommen. Aber ganz ohne jene Kontrollen, die der Innenminister gleich wieder aufheben möchte, bloß weil ein paar kurze Wochen lang der Zustrom an Flüchtlingen sinkt? Die europäische Hauptstadt Brüssel ist offenkundig lokal unregierbar, aber zieht immer mehr Kompetenzen an sich, so dass die Frage sich unweigerlich aufdrängt: Wozu haben wir dieses austarierte System von Landes- und Bundesparlament, wenn doch die Entscheidungen ohnehin in irgendwelchen intransparenten Minister- oder Europaräten getroffen werden? Oder besser noch gleich bei der Europäischen Zentralbank, deren Wirken jetzt für jeden Einzelnen sichtbar ist, wenn er nur sein Girokonto anschaut und plötzlich Gebühren entdeckt, statt wie einst Zinsen gutgeschrieben zu erhalten – die Laune ist im Eimer, wenn die Standmitteilungen der Lebensversicherungsverträger erstmals durchgelesen werden: Offensichtlich haben wir eine Währungspolitik, deren Ziel die Verarmung der Menschen zu sein scheint oder die zumindest nur um diesen Preis ihre Stabilitätsillusion noch aufrecht erhalten kann. Europa ist, was die Menschen wollen, die Politik aber gerade versemmelt. Das alles will man nun (!) dem Wähler besser erklären. Der Souverän ist der Trottel. Seine Lebenswirklichkeit ist nicht so, wie er es sie sieht, sondern wie die Regierung es sich im Film erhofft.
30 Prozent sind doch auch was
Dabei gehen dieser Koalition die Wähler verloren. Folgt man dem Deutschland-Trend der ARD, dann käme die Große Koalition nach einer Bundestagswahl heute noch auf eine solide Mehrheit – aber eine richtig „große“ Koalition wären gemeinsame 55-Prozent auch nicht mehr. Ja, es ist nur die berühmte Sonntagsfrage und es kann sich noch viel ändern bis zum Wahltag. Aber erstaunlich schnell verlieren sowohl Union als auch SPD. Ihre herkömmliche Koalitionsmechanik funktioniert schon nicht mehr. In den Landeshauptstädten werden Not-Koalitionen geschmiedet, grün-schwarz oder schwarz-rot-grün oder sonst irgendwelche Farb-Panschereien, die alle nur ein Ziel haben: Die tatsächlichen Wahlergebnisse sollen irgendwie verschwinden. Augen zu und weg damit! Gemeinsam sind wir doch noch irgendwie stärker! Leider verwischen so die Unterschiede immer mehr, und die Unzufriedenheit wächst: Alternativen müssen an den Rändern gesucht werden, weil die Mitte in der Soße des Machterhalts um jeden Preis verschwimmt.
So gerät das herkömmliche politische System in der Krise. Die SPD versucht, was der FDP mit dem Projekt 18 nicht gelang; allerdings von oben und mit größerer Erfolgswahrscheinlichkeit; wenn es so weitergeht ist sie in den Prognosen schon im kommenden Monat auf 18. Was für ein schäbiges Ende einer einst wichtigen Partei – das wünschen ihr nicht mal notorische Kritiker! (Der Blick in andere EU-Länder zeigt: kein Einzelfall.) Die CDU testet den unteren Ausgang im 30-Prozent-Turm. „Wenn wir unsere Politik nicht ändern in Berlin, dann werden wir unter die 30% rutschen“, sagte Horst Seehofer der dpa (das Schicksal der Democrazia Christiana lässt schauern). Die CSU verzichtet daher vorsichtshalber auf Wählerumfragen. Ihre Ergebnisse lagen immer um 7-8 % über denen der CDU. Nach dieser Daumenregel landet die CSU, wäre morgen Bundestagswahl, unter 40%. Noch Fragen zu Horst Seehofer? Die AfD liegt in Bayern demoskopisch solide bei 9%. Damit kann man nicht regieren, aber die in Bayern wirklich erbärmliche SPD wird es an die Regierung bringen, als Juniorpartner der CSU – der nächste schlechte Scherz.
Dafür laufen im Frühjahr 2016 die Illusionsmaschinen auf Hochtouren. Beim Tucher-Bräu in Nürnberg erhalten böse „Rechte“ kein Bier mehr, da stellen sich doch einige Fragen: Wie ist es mit dem CSU-Ortsverein? Ist er schon „rechts“ und warum gerade noch nicht? Bleibt der jetzt auf dem Trockenen? Und wird Zenzi jetzt in Ideologietasking geschult, damit sie mit Trockenlegen auf unbotmäßige Stammtischbemerkungen reagiert? Der Zwang zur Political Correctness hat also nicht nur Facebook gereinigt, sondern wird bald auch die Klotür als Pinnwand der noch möglichen Subversion erreichen. Aber hilft es, wenn Justizminister Heiko Maas dann Kontrollen schickt? Das Raumschiff Berlin hat einfach abgehoben und kreist weit entfernt vom hier und jetzt – um sich selbst.
Übrigens: „Deutschland im Herbst“ hat viele studentische Hirne versifft, die heute als Lehrer und Politiker ihr Unwesen treiben und Wirkung entfalten. Ein Bestseller wurde er nicht.
Das Land hat sich erstaunlich schnell erholt davon. Das gibt Hoffnung. Und jedenfalls wäre ein Bundestag dieser Sortierung spannender als der heutige: AfD mit 14 und FDP mit 7 Prozent vertreten – das wäre die konservative und die liberale Opposition zum links geneigten Allerlei, das heute auch noch von Grün und den Linken mehr hofiert als opponiert wird. Das ließe wieder spannende Debatten erwarten, und bekanntlich ist der Streit die Mutter der produktiven Alternative.
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