DER SPIEGEL diese Woche macht viel mit einem fragwürdigen "Innovationsreport" in eigener Sache von sich reden. Dabei präsentiert sich diese Woche unaufgeregt einfach nur ein gutes Heft.
Trotz Innovationsreport und Zeitdruck durch einen brandaktuellen Titel: In dieser Woche ist das Nachrichtenmagazin wieder einmal so, wie wir es schätzen. Ein lesenswerter Reigen für die, die sich informieren und dazu etwas lernen wollen.
Hofberichterstattung als neue Erlösquelle
Bereits auf Seite 3 zeigt sich, dass die Redaktion auf der Suche nach neuen Erlösquellen fündig geworden ist. Die neue Reihe SPIEGEL Biografie soll es bringen. Da trifft es sich gut, dass die von den Deutschen hochgeschätzte Queen am 21. April 90 Jahr alt wird, und sie ist damit die ideale Nr. 1 in der neuen Reihe. Zwar würde so etwas eher zu Burda passen, aber immerhin: Die Hamburger wagen sich damit zumindest auf gänzlich neues Terrain – nennen wir es die andere „Hofberichterstattung“.
Im Leitartikel „Die amerikanische Schande“ beschreibt Markus Feldenkirchen, wie sich im Vorwahlkampf in den USA eine tiefe Verwahrlosung der politischen Kultur zeigt. Der Aufstieg von Trump könne sogar die republikanische Partei zerstören. Dass sich aus der Ruine eine neue zivilisiertere Partei erhebt, wird der Wunschtraum eines ohnmächtigen Journalisten bleiben.
Die Titelgeschichte „Der wilde Mann vom Bosporus“ zeichnet ein sehr differenziertes Bild von Erdoğan. Es ist Hofberichterstattung, die informiert. Wenn auch die meisten Fakten für sich nicht neu sind, so entsteht aus den vielen einzelnen Aspekten das Portrait eines Mannes, der sich aus einer Wirtschaftsflüchtlingshütte im Hafenbezirk von Istanbul vor nichts zurückschreckend und mit allen Mitteln an die Spitze des Staates emporgearbeitet hat. Schon lange vor dem Flüchtlingstreck und vor dem Deal mit der EU hätten die politischen Verhältnisse am Bosporus und darüber hinaus rund um das östliche Mittelmeer Europa nicht gleichgültig sein dürfen. Dass man sich jetzt in die Hände dieses rücksichtslosen Potentaten begibt, der die EU allenfalls als Werkzeug betrachtet, hat einen bitteren Geschmack. Die essayistische Ergänzung zum Titel ist „Erdoğans Tanz auf dem Vulkan“ von Michael Welz.
Marc Hujer liefert mit „Präsident Jedermann“ ein einfühlsames Portrait von Joachim Gauck, der „seine Mission als Mutmacher in dankenswerter Weise erfüllt“ habe. Es täte uns allen gut, wenn Gauck Bundespräsident bliebe, ist die etwas einseitige Botschaft an der Grenze zur Hofberichterstattung. Offen bleibt, dass Gauck schwer zu verorten bleibt und durch die vorgespielte pastorale Vielgesichtigkeit klare Positionen vermissen lässt.
Wirtschaft kommt stark
Rundum spannende Themen bietet die Wirtschaft-Strecke. Ganz vorne, weil stark recherchiert und fein geschrieben: „Per Du mit dem Chef“ über die Führungskultur in deutschen Unternehmen mit netten Petitessen aus den Nähkästchen der Redakteure. Wichtig ist der Beitrag über das Geflecht aus Naturschutzverbänden, Windkraftbetreibern, Behörden und Politik. Damit begibt sich der SPIEGEL auf den Weg, die wirklich problematischen Lobbyisten der Gegenwart zu enttarnen. Unbedingt lesen: „Grüner Filz“ von Julia Klaus und Gerald Traufetter. Interessant ist das juristische Gefecht zwischen der Darmstädter Merck und Merck aus Kenilworth, New Jersey, um den wahren Träger des Traditionsnamens, das Martin Müller in dem Beitrag „Gemeinsame Wurzeln“ beschreibt.
Ann-Kathrin Nezik entführt den Leser in die zumindest meiner Generation vollkommen unbekannte Welt des E-Sports. Die neue Unterhaltungsindustrie der Jugend soll Prognosen nach in den nächsten drei Jahren auf Umsätze von mehr als eine Milliarde Dollar anwachsen. Allen voran die professionellen Counter-Strike-Spieler und deren Teams mit dem deutschen Star Denis Howell. Die weltweit besten Spieler und Teams haben hochdotierte Sponsorenverträge, es gibt Preisgelder und Fanartikel. Sensationell zu lesen in „Mit Mann und Maus“. Ein Thema, das bisher von den klassischen Medien ignoriert wird. Kein Wunder, dass das junge Publikum zunehmend in Online-Communities abwandert.
Die Todesgemeinschaft
Durchgehend mit großem Interesse gelesen habe ich die Ausland-Strecke. Walter Mayer beschreibt in „Hermetische Netzwerke“, wie Bosnien zum Rückzugsraum für radikale Sunniten wurde.
Horizonterweiternd war für mich der Beitrag „Von Waldfrauen und Manga-Mädchen“ von Bernhard Zand über das Lebensgefühl im heutigen China, das der China-Korrespondent elegant als „Gesellschaft, die immer individueller wird, die aber offiziell keinen Individualismus kennt, beschreibt“.
Zum Schluss: Ein denk-würdiges SPIEGEL-Gespräch von Volker Hage mit dem 89-jährigen Martin Walser und der Mitautorin seines jüngsten Buchs „Ein sterbender Mann“, Thekla Chabbi, über das, was sie verbindet. Auf die Frage, ob aus der Schreibgemeinschaft auch eine Wohn- und Lebensgemeinschaft geworden ist, antwortet der greise Dichter: „Mit mir gibt es nur noch eine Todesgemeinschaft“.
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