Der Kosmos der Heiligen ist ein großes, ein ethnologisch wie kulturhistorisch, politisch wie soziologisch unerschöpfliches, ein weltgeschichtliches Thema. Sie weisen, gleich der Kunst und der Musik, auf das »ganz Andere«, das dem menschlichen Leben seinen einzigartigen Wert verleiht.
Mitte der Siebzigerjahre hätte ich jeden ausgelacht, der mir prophezeit hätte, mein erstes größeres Werk würde einmal eine Sammlung von Geschichten der Heiligen für alle Tage sein. Als Aktivist der 68er-Bewegung gab ich im Erlanger Politladenverlag dickleibige Reprints über Sozialismus und Kommunismus heraus, und verfaßte etliche Klappentexte und Vorworte, deren Sinn mir beim heutigen Wiederlesen schleierhaft ist. Erhalten blieb mir die Obsession für Weltgeschichte, was wohl von meinem familiären »Migrationshintergrund« herrührt – entstamme ich doch einer bayrisch-böhmisch-tschechisch-wienerischen Ahnenreihe, deren biographische Logik mir ohne die Kenntnis des historischen Kontexts unverständlich geblieben wäre. Die kläglich-komische Wirklichkeit der linken Sekten jener Zeit und ein kritischer Blick zurück auf den eigenen Umgang mit den Revolutionsmythen und den Geschichtsklitterungen der Neuen Linken trieb mir das Pathos von 1968 aus.
Es war nicht wirklich ein lebensgeschichtlicher Bruch, dass mich ab Mitte der Achtzigerjahre die Faszination für Religionsgeschichte und die damals sich mächtig ausbreitenden Jugendkulte überkam. In den großen Kirchen und Orden der Vergangenheit ebenso wie in den zeitgenössischen Sekten spielte Charisma, die Ausstrahlungskraft der Meister, Gründer und Verkünder eine zentrale Rolle. Und im Widerspruch zu den damals gängigen Auffassungen über die »Rolle der Persönlichkeit in der Geschichte« galt dies ebenso für fast alle revolutionären Bewegungen, für ihre Wortführer, sogar für die von ihnen erwählten Feinde. Auf Transparenten und in Sprechchören wurden zwar die »Herrschenden« attackiert, auch als »Lügner«, »Diebe« oder »Mörder« gebrandmarkt. Doch nach der geltenden »materialistischen« Theorie waren sie nur »Charaktermasken«, fremdbestimmte Akteure einer Struktur, Zahnrädchen in der Automatik eines von ehernen Gesetzen gesteuerten Systems. Damit trugen sie genau genommen keine Verantwortung, waren eigentlich schuldunfähig – wie man selber auch nur Produkt der »Verhältnisse« ist. Eine derartig naseweise Theorie konnte auf Dauer die aufgepeitschten Emotionen einer Massenbewegung nicht befriedigen. So dauerte es nicht lange, bis das Vertrauen in den vorbestimmten Gang der Geschichte einem überbordenden Heldenkult wich. Che Guevara, Fidel Castro, Ho Chi Minh, Mao stiegen in der Kultur der aufbegehrenden Protestbewegungen zu Massenidolen auf, denen eine fast hysterische Verehrung zuteil wurde.
Der Aufstieg von Wissenschaft und Technik, der verbreitete Fortschrittsoptimismus verhinderten nicht, dass die Menschheit im 20. Jahrhundert von den größten Schrecknissen der bisherigen Weltgeschichte heimgesucht wurde. Die Täter in diesen Katastrophen verehrten oft ihre Anführer beim Marsch ins Verderben mit glühender Inbrunst. Auf der Rechten wie auf der Linken gab man sich einem maßlosen Personenkult hin. Absolute Macht, gnadenlose Gewalt und das zerstörerische Chaos des Kriegs strahlten eine mysteriöse Verführungskraft aus, die in den Kategorien der vormodernen Welt als dämonisch oder satanisch galt. Hitler, Mussolini, Franco und die Diktatoren der zweiten und dritten Reihe wurden von ihren Parteigängern in megalomanen Ritualen und Inszenierungen glorifiziert. Davon verstand man auch etwas in Moskau, wo endlose Prozessionen von ergriffenen Sowjetfamilien an den einbalsamierten Leichnamen Lenins und Stalins vorbeizogen. Der geistige Weihrauch, der von linken Autoren und Künstlern in der ganzen Welt dem Massenmörder im Kreml geschwenkt wurde, konterkariert die Mär vom wesenhaft kritischen Intellektuellen. Bei Stalins Ableben schwappte eine Welle des Wahnwitzes hoch, Nekrologe von absurder, unfreiwilliger Komik. Ein Zitat für unzählige andere: »Dein Name ist im Weltraum eingetragen/ Wie der Gestirne Schein und Widerschein.« (Johannes R. Becher)
Was drängte da aus der Tiefe des kollektiven Unbewussten an die Oberfläche? Hatten die Befunde eines Eric Voegelins oder Paul Tillichs, die literarischen Visionen von Hermann Broch und Robert Musil Recht, wenn sie Faschismus und Kommunismus gleichermaßen für »Ersatzreligionen« hielten?
Ich lernte in diesen aufregenden Jahren einige Menschen mit einer starken spirituellen Ausstrahlung kennen: den Sufimeister Pir Inayat Vilayat Khan, den Jesuitenpadre Berrigan, den Benediktinermönch und Zenmeister Willigis Jäger und meinen Redakteurskollegen Paul Badde, den »Indiana Jones des Katholizismus«. Sie weckten meine Sensibilität für eine Gegenwelt jenseits des Profanen.
Es war keine rational begründete Entscheidung, meinetwegen vielleicht sogar eine romantische Eingebung, verbunden mit Politikverdrossenheit, die mich in den Achtzigern zum emsigen Sammler von Erzählungen über die Heiligen werden ließ. Ich las mit Vergnügen die sonderbaren Geschichten, in denen die alten Viten und Kalendersammlungen schwelgten. Sie malten in bunten Farben die befremdlichsten Lebensläufe. Begebenheiten, über die in der heutigen christlichen Alltagsunterweisung der Mantel des Schweigens gebreitet wird, die aber den Fächer des Menschlichen viel weiter aufspannen, als dem kirchenfrommen Verstand oder »gesunder« bürgerlicher Anständigkeit fassbar ist. Sie enthielten, ob real, ob erfunden, jedenfalls von den Autoren und ihren Lesern geglaubt, jenes Numinose, das bekanntlich sowohl das mysterium fascinans (Anziehung) wie das mysterium tremendum (Schauder) in sich vereinigt.
Die Heiligen sind der »subjektive Faktor« der Religionen. Und Religionen erzeugen »automatisch« Institutionalisierung, bringen Kirchen und die unterschiedlichsten Gemeinschaften hervor. Viele Menschen brauchen dies, sie erhalten durch sie seelischen Halt, mentale Kraft und praktische Hilfe, um mit dem Unverfügbaren und Unkontrollierbaren des Schicksals fertig zu werden.
Doch wie alle Institutionen – vom Staat hinunter bis zu den kleinen Ordnungen des Alltags – neigen auch die religiösen Gemeinschaften nach einer gewissen Zeitspanne zu Abgehobenheit, Erstarrung, bis hin zur Dekadenz. Dagegen erheben sich – nicht nur im Christentum – periodisch heilige Männer und Frauen, Eremiten, Seherinnen, Heilerinnen, Mystiker, Propheten, Wunderrabbis, Derwische, Yogis, Ordensgründer, heiligen Narren, ekstatische Nonnen und askesevirtuose Mönche. Die Weltreligionen, Kirchen, Klöster, zahllose Sekten und sakrale Vereinigungen sind im Lauf der Geschichte aus dem radikalen Protest der großen sakralen Gestalten der Weltgeschichte, der Zarathustra, Moses, Buddha, Jesus, Paulus und Mohammed entstanden. Auch die im Vergleich zu den Religionsstiftern »kleinen« Heiligen der christlichen Religionsgeschichte verweigern sich wie diese in vielfältigsten Ausdrucksformen den überkommenen Ordnungen, religiösen wie politischen und sozialen, die das Geistige, Authentische, Kreative im Menschen ersticken und abtöten. Man kann ihre Botschaft auch – folgt man Diagnosen von Theoretikern wie Foucault, Barthes oder Derrida – als radikale Reaktion auf Zwangsordnungen lesen, als Protest mit himmlischer (und daher absoluter) Legitimation gegen seelenlos gewordene Rituale und repressiv entartete Regeln.
Die überwiegende Zahl der christlichen Heiligen jedoch führt den »heiligen Krieg« gegen das Böse im eigenen Herzen. Sie vereinen die Entschiedenheit des Täters mit den Leiden und Qualen des Opfers in der eigenen Person. Darin mag einer der Gründe liegen, warum es der katholischen, aber auch anderen christlichen Kirchen historisch immer wieder gelang, diese Impulse aufzunehmen und mit den Traditionsbeständen institutionell und rituell zu versöhnen. Ob dies auch für die Gegenwart gilt, erleben wir als zeitgenössische Zeugen.
Die Heiligen sind unendlich viel mehr als nur Stoff für frömmlerische Traktätchen. Ich halte ihren Kosmos für ein großes, ein ethnologisch wie kulturhistorisch, politisch wie soziologisch unerschöpfliches, ein weltgeschichtliches Thema. Sie weisen, gleich der Kunst und der Musik, auf das »ganz Andere«, das dem menschlichen Leben seinen einzigartigen Wert verleiht. Aus all dem entstand meine Motivation, einen Heiligenkalender zu schreiben, der weder das Gute und Bewunderswerte, noch das scheinbar Absonderliche und vermeintlich Deviante unterschlägt.
Auszug aus: Albert Christian Sellner, Rebellen Gottes. Geschichten der Heiligen für alle Tage. Conte Verlag, 624 Seiten, 24,90 € – vergriffen.
Seit Dezember 2022 als Neuausgabe erhältlich:
Immerwährender Heiligenkalender. Die erstaunlichen Geschichen der Rebellen Gottes, Conte Verlag, Paperback, 624 Seiten, 22,00 €.
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„Heilige“ und Heiligenverehrung ist etwas, das aus dem Katholizismus herrührt – und was für mich als ehemaliger „Protestantin“ oder evangelischer Schülerin vollkommen unbekannt – und auch regelrecht uninteressant und zutiefst altmodisch war! Nach einer längeren Phase des Atheismus und der vollkommenen Ablehnung von Religionen, beschäftige ich mich wieder mit sprirituellen Fragen. Dabei sind die „Heiligen“ Bestandteil unserer langen europäisch-katholischen Kulturgeschichte… und heute freue ich mich, in den „Rebellen Gottes“ auf so lockere, interessante und regelrecht freche Art und Weise – fast mit „mittelalterlichem Blick und Unverblümtheit “ des Autors – eine solch ausführliche und detailreiche Beschreibung derjenigen MENSCHEN zu erhalten,… Mehr
Seltsam, wieviel antireligiöse und besonders antikatholische Ressentiments es auch bei Konservativen gibt. Die Rede vom christlich-jüdisch-abendländischen Erbe geht zwar leicht von den Lippen, aber wenn es praktisch gelebt werden soll, dann macht man mit beim Mainstream und dem da herrschenden „Aufkläricht“(Ernst Bloch, Karl Jaspers u.a.).
Wenn Linke von einem Irrtum in einen anderen fallen! Mir ist als hätte ich grade verdorbene Muscheln verzehrt.
das Letzte, was wir brauchen, sind Heilige oder Führer. Was wir brauchen sind mutige Bürger, die die Herausforderungen des Lebens eigenhändig anpacken, und Väter und Mütter, die entschlossen für die Zukunft ihrer Kinder eintreten! Jede Form des Elitismus ist verwerflich und kann mich mal.
Tja, die Religion an sich, oder wie man es sonst nennen will, was sich da rührt, steckt halt tief in der Seele oder in den Genen, wem das lieber ist, sogar in Stalin-Anhängern. Nun gibt es gegen Stalin einiges zu sagen. Nicht jeder würde an ihn glauben. Aber wie steht es damit: Ein Außerirdischer kommt auf die Erde, schaut sich uns an und stellt fest, welche unantastbarste, heiligste aller Kühe wir verehren, die niemals in Abrede gestellt werden darf und sogar grundgesetzlich unumstößlich verankert ist, die durch kein Gremium und keine Mehrheit abgewählt werden darf: Die Demokratie. Eine Einrichtung, wo… Mehr
Rationalität wäre also immerzu sowas wie pseudorationale Gottsucherei, ein Kultus des „Hochsten Wesens“, Star- und Personenkult, nur wieder eine Religion, ect?
Ja, vielleicht wenn man immer nur Nabelschau an sich selbst betreibt bei allem und jedem.
Das Buch hieße besser ‚Mein Selbstfindungsweg vom Pol Pot und Mao zur Lieben Frau Theresa von Konnersreuth, Wie sich mein Karma, ganz aus sich selbst, ein vielversprechendes, bisher vernachlässigtes literarisches Marktsegment erschuf‘.