Wer hätte gedacht, dass schon Tage nach dem AfD-D-Day das große Relativieren, die kollektive Selbstentwaffnung der Gegenseite das Gebot der Stunde sein würde?
Giovanni di Lorenzo hat den Anfang gemacht und weitere folgen, wie gestern bei Maischberger die Journalisten Claus Strunz (überraschend aufgeräumt) und Hans-Ulrich Jörges (weniger überraschend …). Wer hätte gedacht, dass schon Tage nach dem AfD-D-Day das große Relativieren, die kollektive Selbstentwaffnung der Gegenseite das Gebot der Stunde sein würde? Fazit bei Maischberger war tatsächlich, dass die AfD ihre Chance verdient hätte. Dass sie es in der Hand hat, einen Selbstreinigungsprozess in die Wege zu leiten, dem doch alle jungen Parteien zu Beginn ihrer politischen Arbeit in den Parlamenten unterworfen seien. Das klingt zunächst vernünftig, aber das hätte man gerne auch vor den Wahlen so formulieren dürfen.
Die FAZ titelt heute zu Maischberger: „Der rechte Haken ging ins Leere“ und man ist gerne bereit, vorschnell anzunehmen, gemeint sei bereits eine Relativierung der Nazi-Vorwürfe an die AfD-Riege, vorerst ist aber noch Angela Merkels Position nach dem Infight am Supersamstag gemeint.
Das betrifft nicht nur die Rechtspopulisten
Sogar die Spon-Kolumnisten reihen sich ein in den neuen Relativierungszirkus gegenüber einem/ihrem vormals so bedingungslosen AfD-Bashing. Augstein macht die Kehrtwende zwar auf seine verschrobene Weise und anders als Sascha Lobo, indem er einfach seinen Themenschwerpunkt verlagert, aber Lobo trägt vor, als hätte es diesen großen Reigen der AfD-Anklageschriften nie gegeben. So erklärt er zwar noch zu Beginn seiner aktuellen Kolumne, das die Sprache der Wut, die maximale Zuspitzung zum bestimmenden Gestus öffentlicher Debatten geworden sei, legt aber nach: „Das betrifft nicht nur die Rechtspopulisten.“
Wir haben es also mit einem gesamtgesellschaftlichen Problem zu tun. Aha. Und am Ende des Tages wird es bei Sascha Lobo – da darf man sicher sein – sogar nur noch ein Problem der sozialen Medien, ein Facebook-Problem im Allgemeinen sein. Denn der einstige Prophet der Netzwelt, der immer wieder blühende virtuelle Landschaften gepredigt hat, war schon Anfang des Jahres verzweifelt, als er seiner verblüfften Community erklärte, es hätte sich – „eher unabhängig von politischen Überzeugungen – insgesamt eine Netzöffentlichkeit erhoben, die in irritierend großen Teilen eine Fratze ist.“ Das Netz weckt also die Unschlauen in jeder Ecke. Und die verdrucksten deutschen Dichter und Denker ducken sich unisono weg.
Da erinnert Sascha Lobo streckenweise sogar an den Exzellenzgedanken eines – sagen wir mal – Alexander Kisslers, der Bildung für die wichtigste „Ressource rohstoffarmer Länder“ wie Deutschland hält, und der schon viel früher die Idee hatte, das möglicherweise etwas faul ist mit diesen neuen Massenmedien, als er in anderem Zusammenhang feststelle:
„Kultur ist Inbegriff des Nachhaltigen, ist, was Menschen im Wechsel der Gezeiten kontinuierlich tun, wenn sie das Feld des Geistes oder der Natur bestellen.“
Präzise Selbstkritik für den Beichtstuhl
Und nein, die sozialen Medien besitzen diese Nachhaltigkeit nicht, das hat jetzt wohl auch ein Sascha Lobo erkannt. Für ihn mißversteht „die Sprache der Wut (…) Differenzierung als Schwäche.“ Präziser kann man Selbstkritik eigentlich nur noch im Beichtstuhl äußern.
Aber für welche persönlichen Sprachverwirrungen wird hier um Absolution gebeten? Schauen wir mal. Was die Kollegen Georg Diez und Jakob Augstein angeht, reicht ein Blick in deren Archive bei Spon. Beinahe jeder beliebige Artikel des vergangenen Jahres liegt dann mit auf Lobos aktueller Büßerbank. Oder wie es mit Jan Fleischhauer ein weiterer Spon-Kolumnist in vollendeter Ironie auf den Punkt bringt:
„Den deutschen Journalismus trifft keine Schuld. Meine Kollegen haben alles in ihrer Macht stehende unternommen, um die Menschen davon abzuhalten, AfD zu wählen. Sie haben die Wähler ermahnt, sich nicht mit den falschen Leuten einzulassen. Sie haben ihnen gedroht, dass man sie für Nazis halten würde, wenn sie es doch täten. Sascha Lobo hat es vergangene Woche über den therapeutischen Weg versucht.“
Und Fleischhauer fügt mit Blick auf die Strategie der AfD-Gegner im Wahlkampf an:
„Stigmatisierung ist eine legitime politische Strategie, um sich politischer Konkurrenz zu erwehren. Seit Sonntag wissen wir, dass diese Strategie gescheitert ist.“
Eine große Kehrtwende?
Wir leben nun also seit vergangenen Sonntag in einer Post-Stigmatisierungszeit. In einer Zeit, in der man Maischberger schaut und dort das AfD-Vorstandsmitglied Alice Weidel beobachtet, die, was ihre Argumentations- und Debattenkunst angeht, beide Flanken speerangelweit offen stehen hat, wo aber dennoch keiner der Anwesenden den Dolch ansetzen mag, um ihr auf schnellstem Wege den Garaus zu machen. Um die AfD publikumswirksam öffentlich-rechtlich zu meucheln.
Tatsächlich eine große Kehrtwende, eine Überraschung, die zu analysieren Aufgabe der nächsten Wochen sein dürfte. Und ein Arbeitsauftrag an die AfD, der nicht zu unterschätzen ist. Denn wenn es nun schon eine mediale Sehnsucht nach gemäßigter, nach koalitionskompatibler AfD-Politik gibt, dann ist der Erwartungsdruck besonders hoch. Oder ist dieser Kuschelkurs nur eine neue Strategie, die doch nie in einer Zwangsumarmung enden wird? Schauen wir also gespannt nach rechts. Und wundern uns.
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