Der Wahlsieg eines pro-europäischen Politikers in dieser Stadt ist ein Aufbruchssignal für die ganze Türkei und zugleich ein Meilenstein auf dem Weg zu einer westlicheren und demokratischeren Politik.
Er ist der „Dieb“ von Istanbul: Der Oppositionskandidat für die Oberbürgermeisterwahlen Ekrem Imamoglu von der CHP. Bereits im März hatte Imamoglu die Wahlen in der türkischen Metropole am Bosporus für sich entscheiden können, jedoch nur mit einem knappen Vorsprung von rund 13.000 Stimmen. Dann aber kam der Staatspräsident Herr Recep Tayyip Erdogan, focht die Wahl an, sprach von „Diebstahl an den Urnen“ und erwirkte Neuwahlen am gestrigen Sonntag. Sein erklärtes Ziel: den ehemaligen türkischen Ministerpräsident Binali Yildirim in das Amt des Istanbuler Oberbürgermeisters heben.
Nun folgte jedoch die erbitterte Niederlage für Erdogan und seine AKP: Erneut siegt der oppositionelle Ekrem Imamoglu – diesmal mit einem gewaltigen Vorsprung von knapp 780.000 Stimmen. Ein wahrlich herausragender Triumph und beachtenswerter Sieg eines westlich-gerichteten Politikers im Herzen der Türkei, in Istanbul. Erdogan jedoch hat in einem Punkt Recht, nämlich, wenn er von „Diebstahl an den Urnen“ spricht, denn Imamoglu hat ihm und seiner AKP die Stimmen gestohlen, weil er den Menschen die Herzen gestohlen und sie begeistert hat.
Wie ist es ihm gelungen, gegen die übermächtige AKP-Regierung anzukämpfen? Oder ist das Wahlergebnis vielmehr ein Befreiungsschlag der Istanbuler selbst? Ein Aufschrei gegen den Regierungsstil der AKP und gegen die Entdemokratisierung der Türkei durch ihren Staatspräsidenten Erdogan?
Für mich spielen hier eindeutig zwei Komponenten eine Rolle: Zum einen das Charisma, die Ausstrahlung und Begeisterungskraft des 49-jährigen Ekrem Imamoglu, zum andern aber auch der Mut der Istanbuler, sich die Freiheit, die Demokratie und die Weltoffenheit ihrer Metropole zu erkämpfen – und so ein Vorbild für das ganze Land zu sein, weiter noch eine Vision für die gesamte Türkei zu schaffen.
Ekrem Imamoglu ist eine beeindruckende Persönlichkeit. Ein Mann voller Visionen und voller Toleranz, geprägt von den laizistischen Lehren Atatürks. Er gilt als konservativer Sozialdemokrat und Anpacker. Wenn er auf die Bühne tritt, zieht er sein Jackett aus, krempelt die Ärmel hoch und spricht von Toleranz, von Weltoffenheit insbesondere gen Westen, fordert Presse- und Meinungsfreiheit, ein Ende der politischen Verfolgung und skizziert schillernde Visionen einer neuen Türkei, ausgerichtet an den Ideen des Kemal Atatürks als Bindeglied zwischen Europa und Orient.
Er sagt den Menschen, dass es Zeit ist, anzupacken und lässt keinen Zweifel daran, dass er anpacken möchte – auch gegen alle Widerstände, die ihm die AKP gewiss bereiten wird.
Imamoglu, der seit seinem 18. Lebensjahr treu gemäß den islamischen Gesetzen das Fasten hält, ist ein konservativer Außenseiter unter den Sozialdemokraten der CHP. Er gilt als Verfechter einer weltoffenen, aber in sich souveränen und starken Türkei, ist zugleich aber insbesondere in religiösen Fragen als moderater Muslim bekannt. Seine Familie besteht aus Frauen, die frei wählen, ob sie ein Kopftuch tragen möchten oder nicht. Obgleich die AKP-Regierung unzählige Imam- und Predigerschulen aus dem Boden stampft, um Politik und Religion zu vermengen und so die Kontrolle über die Bevölkerung zu bewahren, ist es ihr doch nicht gelungen, diesen einen zu schlagen: Ekrem Imamoglu, den beliebtesten Politiker der Türkei.
Für Herrn Erdogan stellt der Wahlsieg Imamoglus eine doppelte Niederlage dar. Er verliert mit Binali Yildirim nicht nur einen seiner wichtigsten Vertrauten, den er um jeden Preis als nächsten Istanbuler Oberbürgermeister installieren wollte – auch gegen alle internationalen Proteste – und der jetzt ohne jede Schlüsselposition dasteht. Erdogan verliert auch die so wichtige, die so traditionsreiche Stadt am Bosporus, von der man nicht umsonst sagt, „wer Istanbul regiert, der regiert die Türkei.“
Istanbul ist die wohl westlichste Stadt der ganzen Türkei. Nicht nur geographisch ist diese Stadt ein Brückenbauer und verbindet Europa und Asien, Okzident und Orient, Abendland und Morgenland miteinander. Istanbul ist eine westliche Metropole im Herzen der Türkei und an keinem anderen Ort prallen Tradition und Moderne so stark aufeinander wie hier. Die Stadt am Bosporus zeigt, wie das friedliche Zusammenleben von Religionen, Kulturen und politischen Einstellungen gelingen kann – ganz getreu der Vision Kemal Atatürks für eine pro-westliche und tolerante Türkei.
Der Wahlsieg eines pro-europäischen Politikers in dieser Stadt ist ein Aufbruchssignal für die ganze Türkei und zugleich ein Meilenstein auf dem Weg zu einer westlicheren und demokratischeren Politik. Durch den Wahlsieg Imamoglus besteht eine neue Chance für Annäherungen zwischen Europa und der Türkei und zugleich geht vom gestrigen Wahlsonntag auch ein Signal für Frieden und Stabilität im Nahen Osten aus.
Ich wünsche dem neuen Oberbürgermeister von Istanbul, Ekrem Imamoglu, viel Erfolg und Geschick in seinem Tun. Ich wünsche ihm aber vor allem auch den Mut, gegen Widerstände anzukämpfen und seine Atatürk-Linie konsequent zu verfolgen, dabei aber das Wohle der gesamten Türkei und seine Verantwortung als Hoffnungsträger einer ganzen Nation nicht aus dem Blick zu verlieren.
Weiter wünsche ich mir von ganzem Herzen, dass vom Wahlergebnis in Istanbul ein Aufbruchssignal für die gesamte Türkei ausgeht: Ein Signal für Frieden, Freiheit und Weltoffenheit. Die Türkei, mein Geburtsland, ist ein wunderbares Land mit tollen Menschen, einer beeindruckenden Kultur und überwältigend-schönen Landschaften. Meine große Hoffnung ist, dass die Türkei zukünftig den Menschen als dieses Land in Erinnerung bleibt und nicht als Land ohne Presse-, Meinungs- oder Versammlungsfreiheit.
Von der progressiven Metropole Istanbul aus soll ein neuer Wind über das ganze Land wehen und damit auch die Feinde einer Erneuerung des Landes hinfort wehen, denn der Diebstahl der Herzen kann nicht nur in Istanbul gelingen, sondern auch in der gesamten Türkei.
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Erdogan wird das Zitat zugeschrieben. „Wir nutzen die Demokratie wie ein Schiff. Wenn wir im Hafen angekommen sind, steigen wir aus.“ Herr Imamoglu sollte dieses Zitat uminterpretieren: „Wir nutzen die Demokratie wie ein Schiff. Wenn wir im Hafen angekommen sind, bauen wir noch ein Schiff und noch ein Schiff und noch ein Schiff, bis wir eine ganze Flotte haben und jeder einsteigen kann.“ Ich wünsche ihm und seinen Mitstreitern von ganzem Herzen viel Erfolg bei der Redemokratisierung der Türkei!
Wo waren die ansonsten stets Kultur bereichernden Autokorsos in deutschen Großstädten? Das Erdo verloren hat ist gut, wir sollten aber nicht den Tag vor dem Abend loben.
Istanbul würde nur westlich werden, wenn es wieder Konstantinopel heißen würde. Dazwischen stehen aber der Islam und die Moslems. Also bleibt alles so wie es ist.
Dieser Wahlsieg sorgt in deutschen Vorstädten für Trauer und Stille. Keine Hupkonzerte oder sonstigen Feierlichkeiten. Hieran sieht man welche Klientel aus der Türkei wir bei uns willkommen geheißen haben.
Was ist jemals schon gutes aus der Türkei gekommen? Mir fällt nichts ein!
Es sind viele tolle Menschen aus der Türkei hier hergekommen. Besonders in Istanbul leben aufgeschlossene, moderne Menschen. Die deutsche Anwerbemethode für billige Arbeitskräfte für die Industrie hat sich aber leider auf die rückständigen, mittelalterlichen Gebiete Anatoliens beschränkt. Ergebnis davon ist, dass wir die Städte voll islamistisch-nationalistischer Erdogan-Anhänger haben. Liberale Türken sind in unserem Land die absolute Minderheit.
Stimmt leider.
Es ist an der Zeit, dass Erdogan freie und geheime Wahlen abschafft, weil er so – zusammen mit dem Islam als Ganzes – auf dem Müllhaufen der Geschichte landen wird („Müllhaufen“ zitiert nach Mustafa Kemal „Atatürk“, dem Vater der Türken). Empohlene einschlägige Lektüre: „Nur ein schlechter Muslim ist ein guter Muslim“ von Laila Mirzo, riva Verlag 2018, ganz rezent und hoch aktuell. Untertitel: „Über die Unvereinbarkeit des Islam mit unserer Kultur“. Das begründet die Sehnsucht nach „dem“ Westen in Istanbul – neben der generellen, insbesondere wirtschaftlichen Erfolglosigkeit der Türkei. Ohne Öl ist da nichts los. Man müsste ja was lernen,… Mehr
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..sind denn am BER auch die *Dirgen beteiligt? hätt´ ich gar nicht gewußt – den Flughafen in ´stanbul, den haben sie jedenfalls fertig gebracht.
+++
Wer wohl den Flughafen in Stanbul gebaut hat? Die Türken? Haben lassen.
+ na ja, zumindest steht ihnen deren eigenes (Besser-) Wissen nicht im Weg, wie dies bei BER der Fall zu sein scheint. Man sollte sie nicht unterschätzen: allein in ´stanbul die letzten zehn Jährchen: eine Metro gebaut, den Bosporus zwei mal untertunnelt, es fährt dort die Marmaray, eine dritte Brücke über den Bosporus ist entstanden – und die Türken machen nicht den Fehler, wie die Griechen und verschulden sich über die Ohren, deren Verschuldungsgrad bezogen auf BIP rd. about 35 % – der Zuwachs in der Wirtschaft jährlich runde sieben Prozent, die Privateinkommen haben sich real verdreifacht…nur so…am Rande. ganz… Mehr
„Der Wahlsieg eines pro-europäischen Politikers“, soll man dazu die Türken nun beglückwünschen oder sie bedauern?
Mit einer „modernen“ Führung, was das auch immer bedeutet, kommt die Türkei dem „Westen“ näher, was aber paradoxerweise dazu führen wird, das dessen Untergang sich beschleunigen wird.
Nichts, gar nichts wird sich ändern. Fünfzig Euro Spende in zwei Jahren. Es wird sogar noch schlimmer werden.
Da bricht sich sofort wieder die Naivität ihre Bahn wenn es heißt „Pro-Westlich“. Ein Land im Süden oder Osten ist nicht westlich. Kann es auch geografisch niemals wrrden. Es kann mit Maßen demokratisch werden, aber nicht nach Westen rücken. Natürlich ist damit nicht die Himmelsrichtung gemeint, aber auch der westliche Lebensstil ist im Osten nicht gewollt und umsetzbar. Die immateriellen Standards die seit Jahrzehnten versuchen in der Tr Fuß zu fassen sind alle gescheitert. Man sollte hoffen das wieder ansatzweise demokratische Strukturen in die Politik einzug erhalten, wer aber jetzt in Jubel ausbricht versteht nicht das das Ganze mehr ist… Mehr
Das dachte man beim „arabischen Frühling“ auch.