Horst Seehofers Russlandreise ist möglicherweise ein Teil dieses Deals auf Gegenseitigkeit. Seehofer ist kanzlerinnenfest. Und sie weiß das ganz genau.
Wie man es macht, macht man es verkehrt. Das erfuhr gerade Horst Seehofer, als er nach einer scharf kritisierten Moskaureise die Politik der deutschen Bundesregierung als „Herrschaft des Unrechts“ bezeichnete. Nun wusste schon Voltaire: „Recht zu haben ist gefährlich, wenn die Regierung unrecht hat.“ Von unten nach oben wäre das auch leicht gesagt, allerdings hat Seehofer nun das Problem, als Parteivorsitzender der CSU und Koalitionär der Union selbst Regierung zu sein. Außerdem ist „Herrschaft des Unrechts“ natürlich nichts weiter, als die ziemlich enge Umschiffung des Begriffs vom „Unrechtsstaat“.
Wir erinnern uns: Unrechtsstaat war in der Union immer nur absoluten Feindbildern wie der DDR vorbehalten. Selbst Kuba und Chile wurden in der Regel nicht so tituliert. Zumindest beim Merkel treuen und neutralen Teil in der CDU dürfte Horst Seehofer nun einen echten Malus haben. In der Sache liegt er allerdings auf einer Linie mit so honorigen Verfassungsrichtern wie Papier und di Fabio. Hans-Jürgen Papier, Ex-Verfassungsgerichtspräsident erklärte nämlich noch im Januar 2016: „Noch nie war in der rechtsstaatlichen Ordnung der Bundesrepublik die Kluft zwischen Recht und Wirklichkeit so tief wie derzeit. Das ist auf Dauer inakzeptabel.“ Wann beginnt Dauer? Wann wird ein rechtsfreier Zustand zur Herrschaft des Unrechts?
Wann wird rechtsfrei zu Unrecht?
Schaut man sich die Nachrichten der letzten Tage an, fällt vor allem auf, das es zwar jede Menge Angriffe, sogar Diffamierungen Richtung Seehofer gibt, aber kaum Widerspruch im zentralen Punkt, dass das Recht gebrochen wird. Insbesondere die SPD-Führung übertrifft sich in Seehofer-Beschimpfungen. SPD-Vizechef Ralf Stegner erklärte im Brustton der totalen Empörung, dass Seehofers Aussage „erkennbar abstrus“ und für eine „besorgniserregende geistige Verwirrung“ sprechen würde. Wenn das allerdings Verfassungsrichter ganz anders sehen – natürlich sind auch diese höchsten Fachleute des Rechts nach ihren Aussagen diffamiert worden – dann zeigt das möglicherweise, wie blank die Nerven liegen und wie unumkehrbar der Rechtsbruch.
Wenn Atlantiker wie Elmar Brok oder Norbert Röttgen auf Seehofers Russland Reise schimpfen, gut, dann sind sie wenigstens konsequent. Aber von manchem in der SPD darf man da schon überrascht sein. Gehen wir aber mal ein paar Jahre zurück. Wenn Gerhard Schröder seinen Freund Putin 2004 einen lupenreinen Demokraten nannte, war das ganz offensichtlicher Bockmist, denn lupenrein demokratisch kann überhaupt niemand sein. Dabei handelt es sich ja allenfalls um ein Ideal, eine Annährung.
Und wenn man mit gebührendem Abstand zurückschaut, dann relativiert sich Schröders Aussage. Denn es ist schon ein Unterschied, ob er Putin selbst lupenrein demokratisch nennt oder seine unter verschiedenen Einflüssen stehende Regierungspolitik. So sagte Schröder damals lediglich, er sei sicher, dass Putin Russland zu einer ordentlichen Demokratie machen will und machen wird. Erkennen Sie den Unterschied? Eine Willensbekundung und eine Zukunftsbetrachtung. Sonst nichts. Keine Gegenwartsanalyse, kein gar nichts.
Nun ist Seehofer nicht Schröder. Und er agiert im Jahre 2016. Die Frage aller Fragen an den bayrischen Ministerpräsidenten wäre jetzt folgende: Halten Sie Angela Merkel für eine lupenreine Demokratin? Auf die Antwort darf man gespannt sein. Oder auch nicht, denn eigentlich ist die Sache klar, Horst Seehofer würde sich wie Schröder bei Putin nicht widersprechen, würde er der Kanzlerin bescheinigen, sie sei eine lupenreine Demokratin und gleichzeitig erklären: „Wir haben im Moment keinen Zustand von Recht und Ordnung. Es ist eine Herrschaft des Unrechts“. Was bei ihm selbst, als Vorsitzender einer Regierungspartei funktioniert, warum sollte es für Merkel nicht auch gelten? Diese Dualität würde erst dann nicht mehr funktionieren, würde man der Kanzlerin eine persönliche Verantwortung für die unkontrollierte Zuwanderung – darum geht es im Wesentlichen, wenn Seehofer von „Herrschaft des Unrechts“ spricht – konstatieren. Die Spannung steigt: Kann man das?
Merkels Makel
Die Kanzlerin regiert mit einer großen Koalition. Also wie despotisch, wie weit am Recht vorbei, kann man als deutsche Bundeskanzlerin eine Entscheidung fällen, ohne, dass die Organe und noch dazu der ganze Hofstaat inklusive Koalitionspartner, inklusive Seehofer und Vizekanzler das verhindern könnten? Man kann nicht? Doch Merkel konnte. Der Sündenfall. Der große Makel der Merkel. Nein, die Bundeskanzlerin ist in der Sache keine lupenreine Demokratin mehr. Und Seehofer würde seine gesamte Argumentation in der Einwanderungskrise ad absurdum führen, würde er es ihr dennoch bescheinigen. Sie ist es nicht mehr, seit sie in einer eigenmächtigen Entscheidung am parlamentarischen Prozess und möglicherweise sogar am Amtseid vorbei Millionen Menschen aus dem arabischen Raum nach Deutschland eingeladen hat.
Es gibt einen für die Kanzlerin verfänglichen Zeugen der Anklage – und dazu muss man gar nicht in die Anwalts-Trickkiste greifen – denn ausgerechnet Vizekanzler Sigmar Gabriel erklärte noch im Januar auf einer Pressekonferenz: „Was nicht geht, ist, dass Frau Merkel sich für die Einladung von einer Million Flüchtlinge aus dem arabischen Raum feiern lässt …“ Gabriel hat also genau verstanden, was Horst Seehofer noch Mühe hat zu denken (im Folgende wird sich noch aufklären, warum er sich so schwer tut).
Aber Frau Merkel weiß ja selbst längst um ihren Sündenfall. Schon in ihrem Exklusiv-Interview bei Anne Will war sie bemüht zu reparieren, was nicht reparieren ist, bemüht, zu erklären, diese Flüchtlinge wären auch von alleine gekommen. Ihre Einladung wäre also gar keine gewesen. Wer liegt nun falsch, die Kanzlern oder ihr Vize?
Die Bemühungen, diesen Kardinalsfehler in einer weiteren solitären, nicht legitimierten Kanzlerinnen-Entscheidung rückgängig zu machen, sind allerdings verstellt. Aber nicht von Seehofer! Denn ausgerechnet Sigmar Gabriel boykottierte das aktuelle Asylpaket II und machte damit schon Trockenübungen für den Moment, Kanzler einer Koalition der drei linken Kräfte im deutschen Parlament zu werden. Die rechte AfD ist neutralisiert, als nicht koalitionsfähig gebrandmarkt, so bleiben die Grünen und die Linken über, die beide zusammen an annährend 20% Prozent der Wählerstimmen herankommen könnten.
In der großen Koalition bleibt Gabriel immer der Juniorpartner. In einer rot-rot-grünen Koalition wäre er der wahrscheinlichste Kanzlerkandidat und könnte wie nebenbei das abgeschliffene Profil der SPD schärfen als reanimierte linke Kraft im Bund: also die Stärkung einer Position betreiben, die der absurd anmutende Linksruck der CDU bisher auf eine Weise verwässert hat, die die SPD in eine der größten Sinnkrisen ihrer Geschichte führte. Was für eine Schlüsselrolle als Sedativ dabei der AfD erwächst, ist ein weiteres Kuriosum.
Noch einmal zurück zu Horst Seehofer und der Empörung über seinen Moskaubesuch. Stellen Sie sich einmal kurz vor, dass auch dieser Besuch sehr wohl mit der Kanzlerin abgestimmt gewesen wäre. Womöglich erleben wir sogar genau in dieser Reise ein Paradebeispiel lupenreiner Diplomatie. Seehofer gibt den Garanten für eine positive deutsche Haltung gegenüber Putin und Angela Merkel kann derweil ihre Hände in Unschuld waschen und die West- und Nato-Bindung pflegen. Ein schöner Schachzug sogar, denn auch Seehofer wäre mit diesem Canossagang nach Moskau kein Verlierer. Seine Popularitätswerte sind in Bayern sogar noch gefestigter und davon profitiert dann wiederum auch die Union auf Bundesebene. Wenn dann auch noch die Medien die gespielte Empörung der CDU und der SPD über Seehofers vermeintlichen Alleingang bierernst nehmen, dann möchte man Mäuschen spielen und schauen, wie man sich im Kanzleramt die Raute reibt.
Lupenreine Diplomatie statt lupenreine Demokratie?
Seien wir weiter ehrlich. Wer erinnert sich nicht an die Bilder von Angela Merkel neben Erdogan, der die starke Frau aus Berlin kurzerhand neben sich auf einen dieser beiden demokratiefernen Goldthrone setzte. Bilder, die uns von Putin und Seehofer aus Moskau erspart geblieben sind, die es aber sicher ebenfalls gegeben hat. Das Mobiliar im Kreml gibt das vielfach her.
Weitere goldene Stühle stehen übrigens in Saudi Arabien jederzeit für die Kanzlerin bereit. So war es Angela Merkel, die den verstorbenen Abdullah noch 2015 als Mann von „Klugheit und Weitsicht“ pries. Saudi Arabien, das ist jenes Land, in dem Systemkritiker ausgepeitscht werden und wo die Tatsache, dass Frauen keine Autos steuern dürfen, noch zu den geringsten Einschränkungen gehören dürfte, wenn man die üblichen Genitalverstümmelungen im arabischen Raum (in Ägypten bis zu 95%, in Saudi Arabien vorwiegend bei einer großen Zahl von Migrantinnen) nicht thematisieren mag.
Despot, Demokrat, Putin, Merkel, Gabriel, Seehofer. Am Ende des Tages kann also Tagespolitik nirgends und nie lupenrein demokratisch sein. Das macht sie aber noch nicht zu einem Auslaufmodell. Sie basiert allenfalls auf einer mehr oder weniger gefestigten demokratischen Legitimation und auf einer immer wieder zu erneuernden demokratischen Willenserklärung jedes einzelnen Würdenträgers. Merkels Einladung an Millionen Menschen aus dem arabischen Raum, nach Deutschland zu kommen (Zitat Siegmar Gabriel s.o.), wird dann aber zum ultimativen Sündenfall. Illegitim. Undemokratisch. Unverantwortlich. Außerdem ein Milliardengrab. Mit einzigartigen Folgen für ganz Europa. Und mit ihrem Amt nicht mehr vereinbar. Aber das an die ganz große Glocke zu hängen – so weit würde Seehofer niemals gehen. Er würde sich sein eigenes politisches Grab schaufeln. Nein, man gönnt sich hier einfach eine komplexe zwar, aber eine einvernehmliche, politisch für beide Unionsseiten komfortable Win-Win-Situation. Horst Seehofers Russlandreise ist möglicherweise ein Teil dieses Deals auf Gegenseitigkeit. Seehofer ist kanzlerinnenfest. Und sie weiß das ganz genau.
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