Wer den Wald vor lauter Bäumen nicht sieht …

Wenn das Entscheidende von den Einflussreichen dieses Landes nicht verstanden wird, lautet die Frage von infratest dimap irgendwann: Sind Sie mit der illiberalen Demokratie in Deutschland zufrieden?

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Die Demoskopen von infratest dimap haben anlässlich 70 Jahren Grundgesetz die Deutschen befragt, wie ihnen die derzeitige Demokratie gefällt und was es vor allem zu tun gibt in diesem Land. Das Ergebnis wird publizistisch nicht an die große Glocke gehängt, deshalb soll es hier Platz finden: Viele Bürger glauben nach dieser Erhebung, dass es neue Parteien oder Bewegungen braucht, um die anstehenden Herausforderungen zu meistern. Unter den Anhängern der Linken sind es 62%. Bei den AfD-Anhängern ist dieser Anteil erwartungsgemäß noch größer. Überraschend hingegen ist, dass fast jeder zweite Sympathisant der Grünen die Notwendigkeit neuer Organisationen sieht.

Was sind die Herausforderungen für unsere Demokratie? Da würde man angesichts der überwiegenden Berichterstattung denken, die Kategorie „Populismus/ Erstarken der Ränder“ hätte den höchsten Wert erzielt – die 1.000 Befragten haben aber „Integration von Ausländern/ Bewältigung der Zuwanderung/ Flüchtlinge“ auf Platz 1 gewählt. 34% sind zehn Prozentpunkte mehr als die zweitwichtigste Herausforderung „Armut/ Soziale Ungleichheit/ Schere zwischen Arm und Reich“. Bei dieser Frage waren Mehrfachnennungen möglich und so erhielt „Entwicklung Europas/ EU“ immerhin noch 7%.

Mitte-Studie Friedrich-Ebert-Stiftung
SPD-Studie – Altes aus der Echokammer
Die Verhältnisse in Deutschland geben 59% der Befragten Anlass zu Beunruhigung. Und: Nur 40% gehen davon aus, dass sie in zehn Jahren mit der Demokratie in Deutschland zufrieden sein werden. Es ist nicht unwahrscheinlich, dass die Tatsache, dass mittlerweile der dritte AfD-Kandidat als Bundestags-Vizepräsident durchgefallen ist, von vielen Zeitgenossen eben nicht als Beleg für eine vitale Demokratie interpretiert wird. Man muss sich das mal vor Augen führen: Die größte Oppositions-Fraktion im Deutschen Bundestag bekommt nicht den ihr gemäß Geschäftsordnung des Hohen Hauses zustehenden Posten. Das kann für die Verhinderer eigentlich nur nach hinten losgehen.

Dass Dystopien derzeit in der Literatur so hoch im Kurs stehen, hat eben auch mit der Realität zu tun. Die ist zwar subjektiv (wie heißt es so schön: „Wir sehen die Dinge nicht so, wie sie sind, sondern wie wir sind“), muss aber von den Herrschenden zur Kenntnis genommen, nein, noch mehr, zum Maßstab ihres Handelns werden, und zwar auch dann, wenn die Deutung von der eigenen abweicht, gar missfällt.

Bei der Vorstellung der Polizeilichen Kriminalstatistik 2018 verschwieg der Chef des Bundeskriminalamtes, Münch, klugerweise nicht, dass die Zahl der Bürger, die sich in ihrem Lebensumfeld nicht sicher oder eher unsicher fühlen, in den vergangenen Jahren gestiegen ist, auf 21,4 % (2017). Für diese Bevölkerungsgruppe ist der Hinweis, Deutschland sei eines der sichersten Länder der Welt, eine Provokation. Der FC Bayern München vergleicht sich auch selten mit Drittligisten, eher den eigenen Status quo mit der erfolgreichsten Zeit des Clubs.

Während also die Zuwanderung in der Wahrnehmung der wahlberechtigten Bevölkerung die drängendste Aufgabe der Politik ist, fragen sich viele Vertreter dieser Berufsgruppe und auch jede Menge Journalisten: „Wo sind wir schon besonders bunt? Wo fehlt uns noch Farbe?“ Wie heißt es in einer sehr feinen Radio-Comedy: „Es ist ja wie es ist!“

Wappentier Schnecke
Der Fortschritt in Deutschland
Wir machen gerade aufgrund der Art der Migration nach Deutschland diverse Rückschritte: in punkto Gleichberechtigung, beim Thema Gewalt, beim Umweltschutz, bezüglich der Gesundheit und absurderweise auch bei unserer wichtigsten moralischen Aufgabe seit 1945, dem Kampf gegen den bzw. der Vorbeugung von Antisemitismus. Selbst, wann man 110 und 112 wählt, wissen die Menschen nicht mehr. Und dass der Wortschatz degeneriert, ist ebenfalls keine steile These. Das gemeinsame Narrativ löst sich allmählich auf zugunsten eines Mosaiks, an dem nur fanatische Individualisten Gefallen finden können, die irrtümlicherweise meinen, darin komme gelebte funktionierende Globalisierung zum Ausdruck.

Was die bei der Umfrage am zweitmeisten genannte Herausforderung für unsere Demokratie anbelangt, die Schere zwischen Arm und Reich, so kann man bei Wirtschaftsnobelpreisträger Angus Deaton nachlesen, dass der Zuzug von Menschen aus ärmeren Ländern das Lohnniveau bei den einfacheren Tätigkeiten drückt. Wenn aber die weniger qualifizierten Deutschstämmigen aus bestimmten Jobs gedrängt werden, weil sie sich im Gegensatz zu den neuen Mitbürgern mit dem Stundenlohn nicht zufrieden geben, dann entsteht eine weitere Gruppe potentieller Wähler nationalistischer Angebote. Wir sind noch eine Aufstiegsgesellschaft – für die, die zu uns kommen!

Die Bremer SPD, die seit dem Krieg den Bürgermeister an der Weser stellt, plakatiert dieser Tage „Bremen fürchtet keine Fremden“. Deutschlands Staatsoberhaupt, bekanntermaßen ebenfalls Sozialdemokrat, hat da schon eher verbalisiert, was das Gebot der Stunde ist: „Die Sehnsucht nach Heimat, nach Sicherheit, Entschleunigung, Zusammenhalt und Anerkennung dürfen wir nicht den Nationalisten überlassen.“

Eine Provokation
Ralf Schuler will, dass auch Andersdenkende frei zu Wort kommen
Und sogar die Friedrich-Ebert-Stiftung hat mit Michael Bröning einen Mann in ihren Reihen, der ein Buch geschrieben hat mit dem Titel „Lob der Nation“. Er empfiehlt diese positive Haltung ganz dringend den Linken im Land. Übrigens lernt man in der großartigen Gegenwartsanalyse „Das Zeitalter des Zorns“ von Pankaj Mishra, dass Nationalismus und Kommunismus als Begriffe beide in den 1790er Jahren erfunden wurden. Sie stehen für Brüderlichkeit und Gleichheit.

Um es auf den seit einiger Zeit wunden Punkt zu bringen: Weltoffenheit verpflichtet nicht dazu, sich über den dauerhaften Besuch von Artgenossen zu freuen, die sich als kulturell deplatziert erweisen. Es gibt auch falsche Vielfalt! Oder heißen Mannschaften Spieler willkommen, die das Team schwächen? Diese Kausalität greift auch auf der Makroebene von Gesellschaften. Und wenn das nicht zeitnah von den Einflussreichen dieses Landes verstanden wird, lautet die Frage von infratest dimap irgendwann: Sind Sie mit der illiberalen Demokratie in Deutschland zufrieden?


Martin Busch arbeitet seit über 20 Jahren als Redakteur und Moderator für die Hörfunkprogramme von Radio Bremen. Nach seinem Soziologie-, Politik- und Linguistik-Studium an der Universität Hamburg (Schwerpunkt Markensoziologie) promovierte er im Fach Kommunikationswissenschaften. Er ist Autor der Streitschrift “Deutschland, Deutschland ohne alles – warum Europas größte Wirtschaftsmacht ein sozialer Pflegefall ist“, im Dezember 2018 ist der Aphorismen-Band „Als Freiheit und Fortschritt begannen, Eigentore zu schießen“ erschienen.

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Kommentare ( 47 )

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Udo Kemmerling
5 Jahre her

Zustimmung in weiten Teilen, lediglich erneute Ratlosigkeit beim Begriff „Nationalismus“. Ich versuche immer den „nationalistischen“ Teil im Wahlprogramm der AfD zu finden. Elsaß-Lothringen, Österreich, die polnischen Abstimmungsgebiete, nirgendwo steht, dass die wieder in den Schoß der Volksgemeinschaft überführt werden sollen. Nicht, dass jetzt irgendeine Heulsuse denkt, dass ich das so will. Ich versuche nur Nationalismus zu erklären. Pickelhauben würden dazugehören, und eine Bundeswehr (die selbstredend in Wehrmacht umbenannt werden müßte), deren Angehörige nicht bestenfalls die Front mit dem Privatfahrzeug erreichen. Wie sie sehen, wird es grotesk, wenn man Nationalismus nachweisen will, wenigstens in Deutschland. Bei Putin sieht das ganz anders… Mehr

conferio
5 Jahre her
Antworten an  Udo Kemmerling

Bevor sie über Putin und die Russen urteilen sollten sie mal in im land gewesen sein. das würde helfen…und nicht umsonst steht der Server unseres Forums in Russland, weil hier keine freie Meinungsäußerung mehr möglich ist. man muss nur Fakten schreiben, die Merkel und Kahane nicht gefallen, dann ermittelt der Staatsschutz. Ein US Bürger hält sich übrigens immer noch in Russland auf, weil er die Wahrheit sagen wollte. Die BRD steht immer noch unter dem besatzungsstatut…nur eben verdeckt. Deswegen keine Verfassung, die in 146 vorgesehen war, und kein Friedensvertrag. Darüber können sie mal ne Viertelstunde nachdenken

Anna-Maria
5 Jahre her

Viele Kommentare gingen um Liberale..
Hier ist eine frühere Rede von Orban. Er hat die Frage gestellt: wer bestimmt, was liberal ist, wer bestimmt, was mich einschränkt?
Wer bestimmt, was mich gut tut? Für diese Rede hat die Westen Orban gekräuzigt
https://pusztaranger.wordpress.com/2014/08/01/viktor-orbans-rede-auf-der-25-freien-sommeruniversitat-in-baile-tusnad-rumanien-am-26-juli-2014/

Susanne R.
5 Jahre her

Die sehen den Wald, weigern sich aber, ihn zu hegen und zu pflegen. Der Bürger ist offensichtlich nur noch dazu da, das Roden und Umpflügen der Bäume im Namen von obskurem Umgestalten der Gesellschaft ohne Legitimation zu bezahlen.
Gestern am Wahlstand der SPD: „Ich will keine Vereinigten Staaten von Europa.“ – „Dann brauchen wir gar nicht mehr weiterreden.“

Kassandra
5 Jahre her
Antworten an  Susanne R.

Herrlich. Die haben nicht mal Argumente, um jemanden das schmackhaft zu machen!
Twitter auf der Straße. Liebe Susanne R., die haben Sie sofort „geblockt“!
Aber so wird das nichts, mit dieser Partei.

Alf
5 Jahre her

Bite kein Trübsal blasen. Die Europawahl bietet die Möglichkeit, die etablierten Parteien in den Abgrund zu wählen. Wie hieß es damals: Was muß passieren, damit Sie (ADM) einem Neuanfang nicht im Wege stehen? Eine geniale Frage und es gibt nur eine Antwort. Wer die deutsche Flagge nicht hochhalten kann, diese von sich wirft, hat auf der politischen Bühne nichts verloren. Dies gilt auch für Politiker, die Deutschland nicht vertreten können, weil sie der EVP vorstehen.

FrankZZZ
5 Jahre her

Inzwischen bin ich auch der Meinung, daß die existierende Demokratie nicht funktioniert : Parteien, die man vielleicht gewählt hat, bilden eine Koalition mit Parteien, die man nie wählen würde und heraus kommt eine Politik, die man nie haben wollte. Die Medien beeinflußen die Bürger im Sinne der Politiker. Dies kennt man von Autokratien und dies ist immer ein Zeichen der Abwesenheit von demokratischen Verhältnissen. Die Bürger, die einfach strukturiert sind und alles glauben, was ihnen vorgesetzt wird, stimmen dann im Sinne der Politiker/Medien. Wir, die auch ein Gehirn benutzen, gehen dann in der Masse einfach unter. Ändern kann man nur… Mehr

Gernoht
5 Jahre her
Antworten an  FrankZZZ

Ob die Demokratie funktioniert oder nicht, hängt nur von der Seite ab, auf der man steht. Ein Profiteur der aktuellen Zustände wird ihnen den grünen Klee vom Himmel herunterloben, ob der besten aller Deutschlands wo wir je hatten. Derjenige, der jeden früh zur Arbeit trabt, um zwangsweise den eigenen Wohlstandsverfall noch etwas aufzuhalten, sieht das möglicherweise anders. Aber das sind ja nur Rechtsextreme.

FrankZZZ
5 Jahre her
Antworten an  Gernoht

Ja, stimme Ihnen zu.
Selbst meine eigenen Kinder auf deren Erziehung ich Einfluß hatte, sind vom „System“ so beeinflußt, daß sie einen völlig konträren Eindruck haben.

Dieter Rose
5 Jahre her

Nein, nein und nochmals nein!!!

Indigoartshop
5 Jahre her

“ .. nach seinem Soziologie-, Politik- und Linguistik-Studium an der Universität Hamburg (Schwerpunkt Markensoziologie) .. “ Nee, komm, laß mal stecken. Dieses Land wird nicht durch Hirnis gerettet, denen irgendwann auf ihrem Zug ins Shankri-La aufgestoßen ist, daß sie auf dem Holzweg sind. – Zu spät. Dieses Land ist dem Untergang geweiht. So wie ein Patient, der an einer Immunschwäche zugrunde geht – nicht an HIV (= Grün, Rot, Merkel) sondern an einer opportunistischen Infektion (=Migration, Deindustrialisierung, Engergiewende, Euro). Wer kann, haut ab. Wer nicht kann – zu alt ist -, der flüchtet in die innere Emigration und hofft inständig,… Mehr

T. Pohl
5 Jahre her

„Die Demoskopen von infratest dimap haben anlässlich 70 Jahren Grundgesetz die Deutschen befragt, wie ihnen die derzeitige Demokratie gefällt…..“

In wessen Auftrag ? Das muss bei einer Umfrage (oder Studie) die erste Frage sein. Es handelt sich dabei ja um eine Firma und irgendwer muss deren Rechnung bezahlen.

beat126
5 Jahre her

Wer ein Verfassungsgericht als höchste Macht des Staates definiert hat, kann nicht Demokratie sein – Deutschland ist per Definition eine Juristokratie. Das Demokratieprinzip gibt es nur mit dem Gesetzgeber als höchste Macht des Staates. https://www.nzz.ch/feuilleton/die-vorrangstellung-der-justiz-ist-ein-demokratiedefizit-ld.1476849 Also, wie kann die „illiberale“ Politik befreit werden? Es geht nur, wenn zunächst die Lehrmittel an Schulen und Universitäten der Wahrheit angepasst werden. Man fange mit der fehlenden Gewaltenteilung an, die man aus dem GG von 1949 geerbt hat. Wenn in den Büchern heute steht, dass die Exekutive die Polizei und die Feuerwehr sei, woher sollen die Bürger dann wissen, dass es die ausführende politische… Mehr

Protestwaehler
5 Jahre her

Wie viele der Befragten hatten denn überhaupt noch das Gefühl in einer funktionierenden Demokratie zu leben… die Antwort hätte mich viel eher interessiert.