Während Politik und Medien das aktuelle Asylpaket feiern, kritisiert der CDU-Bundestagsabgeordnete Klaus-Peter Willsch es als "Baldrian für erhitzte Gemüter". Lösungen würden verschleppt, das Recht weiter gebrochen.
Seit dem Jahreswechsel können wir nun schwarz auf weiß nachlesen, was in der zweiten Jahreshälfte 2015 schon laut geflüstert wurde: 1,1 Millionen Menschen haben im vergangenen Jahr die Grenze nach Deutschland überquert. Bis September 2015 waren es noch 577.000, dann zündete eine Kaskade von Maßnahmen, Plänen, Verordnungen, Beschlüssen und exekutiven Alleingängen. Es wurde verschärft, beschleunigt, verbessert und verkürzt was das Zeug hält – nur die Realität ließ sich davon nicht beeindrucken. In den Folgemonaten hat der Zustrom kontinuierlich zugenommen, sich die Zahl bis zum Jahresende verdoppelt.
Aktionismus statt Ursachenbekämpfung
Der politische Aktionismus sollte die innenpolitischen Symptome der Flüchtlingskrise lindern, ließ aber deren Ursache unangetastet: den massiven, täglichen, tausendfachen Zustrom illegaler Zuwanderer.
Ein Beispiel: Nachdem die öffentliche Debatte auf den Faktor Familiennachzug aufmerksam wurde, sprach man schnell davon, den Familiennachzug für Antragsteller mit subsidiärem Schutz für einen Zeitraum von zwei Jahren auszusetzen. PR-technisch klang das erstmal gut, Baldrian für die erhitzten Gemüter. Eine Vervielfachung der Einwanderer sei damit schließlich ausgeschlossen. Nur wer sich in die terminologischen Tiefen der Asylrechts wagte, musste nüchtern feststellen: subsidiären Schutz genossen im vergangenen Jahr ganze 1.707 Bewerber. Die „Verschärfung“ betrifft somit gerade einmal 0,6 Prozent der bearbeiteten Asylanträge. Für die SPD war das allerdings Grund genug, das Asylpaket II drei Monate lang zu blockieren. Links haben die Phantomschmerzen gezwickt.
Noch mehr Baldrian
Gleiches gilt für die sichere Drittstaatenregelung. Die Erweiterung um die Westbalkanstaaten im Asylpaket I wurde seinerzeit von Roten und Grünen fahrlässig lange verschleppt. Darüber gefreut haben sich die 250.000 illegalen Einwanderer aus der betroffenen Region, die das politische Patt genutzt haben, um noch schnell nach Deutschland zu kommen.
Zwar konnten die Zugänge vom Balkan seit Umsetzung des ersten Asylpakets drastisch gesenkt werden. Die Drittstaatenregelung scheint das bisher einzig wirksame Mittel gegen die illegale Massenmigration zu sein. Da der Rückgang vom Balkan jedoch zwischenzeitlich durch das Anschwellen des Stromes aus anderen Quellgebieten überkompensiert wurde, sollen nun im Asylpaket II auch Marokko, Tunesien und Algerien auf die Liste gesetzt werden. Auch diese Maßnahme hätte bereits im November vergangenen Jahres beschlossen werden können. Stattdessen strömen seit Monaten Marokkaner, Algerier und Tunesier illegal über die deutsche Grenze. Wenn zwei sich streiten, freut sich der Dritte.
Zwar überschlagen sich die Meldungen und Ereignisse. Seit Wochen dominiert das Thema die Nachrichten – auch wenn sich der ein oder andere öffentlich-rechtliche Sender seit Neuestem bei seinen Zuschauern vergewissern möchte, wie denn eigentlich über die Flüchtlingskrise zu berichten sei. Viel Neues aus der Politik gibt es indes nicht zu berichten. Auch das Asylpaket II ist im Wesentlichen Penicillin in homöopathischen Dosen. Wie kann das sein?
Lösungen werden verschleppt
Wie mit konstruktiven und längst überfälligen Lösungsansätzen umgegangen wird, durfte wieder einmal der bayerische Ministerpräsident und CSU-Vorsitzende Horst Seehofer erfahren: Er schlug vor, die Einreise von Flüchtlingen in diesem Jahr auf 200.000 zu deckeln. Die Vehemenz, mit der der Vorstoß als typisch bayerische provinzielle Kleingeistigkeit zurückgewiesen wurde, lässt nichts Gutes erahnen. Wenn eine solche Forderung als derart absurd dargestellt wird, sind wir von einer Begrenzung in ansatzweise handhabbarer Größenordnung offensichtlich noch sehr weit entfernt.
Die brauchen wir aber mehr als dringend. Trotz des Winters sind im Dezember durchschnittlich 4000 Flüchtlinge pro Tag nach Bayern gekommen. Auf ein Jahr hochgerechnet kumuliert sich das auf rund 1,5 Millionen – mehr als im gesamten Jahr 2015. Noch dazu warnte jüngst Entwicklungsminister Müller, dass „erst zehn Prozent der Fluchtwelle bei uns ist“. Der Höhepunkt der Flüchtlingskrise stehe Deutschland noch bevor. Acht bis zehn Millionen Menschen seien unterwegs. Immerhin haben wir im vergangenen Jahr rund 20.000 Asylbewerber abgeschoben. Das ist doch eine gute Quote.
Apropos Abschiebung: Natürlich sind auch die Vorfälle in Köln und anderen deutschen Städten in der Silvesternacht nicht unbeantwortet geblieben. Innenminister de Maizière und Justizminister Maas haben als zügige Reaktion einen Gesetzesentwurf „Erleichterte Ausweisung krimineller Ausländer“ vorgelegt. Das Volk will es, das Volk kriegt es, möchte man meinen. Unerwähnt blieben aber die faktischen Abschiebehemmnisse, etwa wenn die Betroffenen Frau und Kinder haben oder ihre Heimatstaaten die Rücknahme verweigern. Man muss keine Glaskugel bemühen um abschätzen zu können, dass auch diese Maßnahme nicht die gewünschte Wirkung erzielen wird.
Nachdem die Vorfälle in Köln zunächst verschleiert, dann marginalisiert und schließlich auf die Polizeibeamten vor Ort abgeschoben werden sollten, waren sich die politischen Verantwortlichen zumindest darin einig, dass die Straftäter jetzt „mit allen Mitteln des Rechtsstaats die ganze Härte des Strafrechts treffen“ müsse. Stellvertretend für die ganze Republik rief mein Kollege Wolfgang Bosbach aus: „Was denn sonst?!“ Treffender kann man die Fassungslosigkeit gegenüber solchen Worthülsen wohl kaum zum Ausdruck bringen. Was sagt es über den Zustand unserer Rechts- und Vollzugspraxis aus, wenn wir betonen müssen, dass wir geltendes Recht anzuwenden beabsichtigen? Dass das wohl nicht mehr selbstverständlich sei, ergänzte Bosbach. Selbstverständlich ist nach solchen Vorfällen mittlerweile jedoch das Warnen vor Pauschalisierungen.
Rechtliche Fragwürdigkeiten
Der ehemalige Verfassungsgerichtspräsident Papier und der ehemalige Verfassungsrichter Di Fabio haben die aktuelle Regierungspolitik als rechtswidrig bezeichnet. In seinem umfangreichen Gutachten „Migrationskrise als föderales Verfassungsproblem“ für den Freistaat Bayern findet Di Fabio deutliche Worte, die ich für den interessierten Leser gerne kursorisch darstellen möchte: „Das geltende europäische Recht nach Schengen, Dublin und Eurodac wird in nahezu systematischer Weise nicht mehr beachtet, die einschlägigen Rechtsvorschriften weisen ein erhebliches Vollzugsdefizit auf.“ Der Bund stehe aber in der Pflicht, die Wiederherstellung des europäischen Rechts und seine Wirksamkeit zu erreichen. „Zurzeit dürfte allerdings das erforderliche Mindestmaß an politischer Anstrengung eher unterschritten als erfüllt sein.“ Das ist ein eindeutiges Urteil.
Merkels Leitsatz „Wir schaffen das“ signalisiere zudem eine Grenzenlosigkeit der Möglichkeiten, die das Einreisegeschehen möglicherweise unwillentlich, aber jedenfalls zurechenbar verstärkt habe. Deutschland wirke dadurch „als Attraktor, als ein Magnet für Wanderungsbewegungen und begünstigend für organisierte Schleuserkriminalität“.
Es sei zumindest umstritten, „ob die nach einer Kontaktaufnahme mit dem österreichischen Regierungschef Faymann von der deutschen Bundeskanzlerin am 4. September 2015 konzedierte Übernahme von Ungarn über Österreich nach Deutschland kommender Einreisewilliger eine humanitär notwendige Maßnahme oder eine grobe, bis heute andauernde Missachtung gesetzlicher Vorschriften durch ein an Recht und Gesetz gebundenes Verfassungsorgan war. Für anerkannte Staatsrechtslehrer wie Wolfgang Durner oder Martin Nettesheim ist die Ankündigung der Bundeskanzlerin, Flüchtlinge könnten künftig direkt in Deutschland Asyl beantragen, unvereinbar mit § 18 Asylgesetz (AsylG), der die Einreise von Asylbewerbern aus sicheren Drittstaaten weiterhin für unzulässig erklärt. Nettesheim vertritt die Ansicht, die ‚Entscheidung über Staatsgrenzen‘ sei von so grundsätzlicher und wesentlicher Natur, dass sie vom Gesetzgeber getroffen werden müsse. Durner fragt pointiert, ob Bundesrecht neuerdings durch Kanzlerwort geändert werden könne.“
„Selbst wenn man unterstellt, dass die Lage Ende August und Anfang September 2015 quasi im rechtfertigenden Notstand zu Gunsten einer menschenwürdigen Behandlung von Flüchtlingen notwendig gewesen sein sollte, so würde das nichts an der Tatsache ändern, dass damit allenfalls eine punktuelle, auf wenige Tage beschränkte einstweilige Maßnahme zu rechtfertigen wäre, aber keine längere oder gar dauerhafte Außerachtlassung des geltenden Rechts. […] Nach der Wesentlichkeitstheorie hat der parlamentarische Gesetzgeber in grundlegenden normativen Bereichen, zumal im Bereich der Grundrechtsausübung, alle wesentlichen Entscheidungen selbst zu treffen. Geht es um eine politische Entscheidung, mit ‚weitreichenden Auswirkungen auf die Bürger‘, handelt es sich um eine ‚wesentliche‘ Entscheidung im Sinne des Vorbehalts des Gesetzes.“
Aber es geht noch um mehr. Letztliche rekurriere dies auch auf den subjektiven Rechtsanspruch des Bürgers auf demokratische Teilhabe an der öffentlichen Gewalt. Dieser Anspruch sei nach dem Bundesverfassungsgericht unmittelbar in Art. 1 Abs. 1 GG verankert und gehöre – über Art. 20 Abs. 1, 2 GG i.V.m. Art. 79 Abs. 3 GG – zu den unveränderlichen Kerngarantien des Grundgesetzes. Er sei nur dann erfüllt, wenn der Bürger mit seiner Wahl einem überhaupt noch wirkungsmächtigen Organ zur Macht verhilft, das heißt, wenn „der das Volk repräsentierende Deutsche Bundestag und die von ihm getragene Bundesregierung einen gestaltenden Einfluss auf die politische Entwicklung in Deutschland behalten. Das ist dann der Fall, wenn der Deutsche Bundestag eigene Aufgaben und Befugnisse von substantiellem politischen Gewicht behält oder die ihm politisch verantwortliche Bundesregierung maßgeblichen Einfluss auf europäische Entscheidungsverfahren auszuüben vermag.“
Politik vorbei an Volk, Vernunft und Parlament
Doch von Beginn an wurde Politik vorbei an Volk, Vernunft und Parlament gemacht. Di Fabio konkludiert, damit werde offenbar, dass im europäischen Gefüge eine besorgniserregende Spannungslage eingetreten sei. Der gemeinsame Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts sei akut gefährdet. „Insofern bedeutet die Migrationskrise – einschließlich der durch das Verhalten der Bundesregierung möglicherweise (mit)verursachten Entwicklung – eine exzeptionelle Erschütterung des europäischen Verbundgefüges.“
Schließlich rechnet Di Fabio noch mit zwei weiteren Fehlannahmen (um das Wort Täuschung zu vermeiden) der deutschen Asylpolitik ab: Zum vermeintlich grenzenlosen Recht auf Asyl stellt er klar: „Das Grundgesetz garantiert jedem Menschen, der sich auf dem Gebiet der Bundesrepublik Deutschland befindet und ihrer Herrschaftsgewalt unterworfen ist, eine menschenwürdige Behandlung. Das Grundgesetz garantiert nicht (abgesehen von deutschen Staatsangehörigen) den Schutz aller Menschen weltweit.“ Innenminister de Maizière, der die Nichteinhaltung deutschen Rechts mit einer Überlagerung durch europäisches Recht zu rechtfertigen versucht, hält er vor: „Der Bund darf zur Sicherung der Staatsgrenzen Hoheitsrechte auf die Europäische Union übertragen, bleibt aber im Falle des nachweisbaren Leistungsverlusts europäischer Systeme in der Gewährleistungsverantwortung für die wirksame Kontrolle von Einreisen in das Bundesgebiet.“ Eine Rechtfertigung für die Aufgabe staatlicher Souveränität darf es nicht geben.
Seit Monaten kämpfe ich mit einer kleinen, aber nun endlich zunehmenden Zahl an Mitstreitern in der CDU/CSU-Bundestagsfraktion für einen Kurswechsel der Bundesregierung. In der vergangenen Fraktionssitzung habe ich erneut die Rückkehr zu geordneten Verfahren an unseren Grenzen angemahnt. Durch unzählige Kommentare und hunderte E-Mails, die mich dazu erreichen, weiß ich, dass die Meinung in der Bevölkerung hier auch eindeutig ist. Ich möchte die Bürger ermutigen, ihre Abgeordneten aufzufordern, den tagtäglich tausendfach stattfindenden Verfassungsbruch an den deutschen Grenzen nicht einfach hinzunehmen. Wir brauchen jetzt eine Mehrheit, um diesen Wahnsinn zu beenden. In diesem Sinne: Vorwärts, zurück zur Vernunft!
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