Mit Umfragen Politik machen

Eine schlichte Wahrheit wäre, den Durchschnitt der Ergebnisse aller gängigen Umfrage-Institute im zeitlichen Verlauf den Medien-Konsumenten mitzuteilen. Der mündige Leser kann sich dann eine eigene Meinung über erkennbare Trends bilden.

Regelmäßig werden in Deutschland Meinungsumfragen zum zukünftigen Verhalten bei irgendwelchen Wahlen gemacht: „Wen würden Sie wählen, wenn am nächsten Sonntag eine Wahl wäre?“ Es gibt in Deutschland sieben Meinungsforschungsinstitute, die regelmäßig im Wochenrhythmus, 14-Tage-Rhythmus oder Monatsrhythmus danach fragen.

Bei Google „Sonntagsfrage“ eingeben, und schon hat der daran Interessierte einen Überblick über die jeweils aktuellsten Ergebnisse! Es werden auch zu Landtagswahlen – freilich unregelmäßiger und seltener – die Sonntagsfrage gestellt. Die Nachrichtenagentur DPA stellte den Medien regelmäßig auf solche Ergebnisse bezogene Meldungen zur Verfügung.

Eine regionale Zeitung verwendete mit dem Hinweis auf die Quelle DPA zu Beginn des Artikels eine Meldung zur kommenden Landtagswahl in Baden Württemberg:

Wenn am Sonntag gewählt würde, bekämen die Grünen 28 Prozent (+1 im Vergleich zu November), die SPD nur noch 15 (-3). Der CDU würden 34 Prozent der Wähler ihre Stimme geben (-3), der FDP 6 Prozent (+1). Damit gäbe es weder eine Mehrheit für Grün-Rot noch für Schwarz-Gelb. Die AfD bekäme 11 Prozent, im Vergleich zum November wären das 5 Punkte mehr. Die Linke käme mit unverändert 3 Prozent nicht in den Landtag.

Es liegt nun im Entscheidungsbereich der Medien-Redaktionen, ob sie die Meldung übernehmen wollen, wie sie in ihrem Medium platzieren wollen, mit welcher Überschrift sie sie versehen und ob und wie sie die Meldung abändern (z. B. kürzen) wollen.

Für eine Abänderung kann es sachliche und inhaltliche Gründe geben. Eine inhaltliche Abweichung soll am nächsten Beispiel gezeigt werden. In einer anderen regionalen Tageszeitung wird die gleiche DPA-Meldung wie folgt widergegeben:

Wenn am Sonntag gewählt würde, bekämen  ….die Grünen 28 Prozent (+1 im Vergleich zu November), die SPD nur noch 15 (-3). Der CDU würden 34 Prozent der Wähler ihre Stimme geben (-3), der FDP sechs Prozent (+1). Damit gäbe es weder eine Mehrheit für Grün-Rot noch für Schwarz-Gelb. Die AfD bekäme elf Prozent. Die Linke käme mit unverändert drei Prozent nicht in den Landtag.

Bei dem zweiten Text wird aus einem Komma ein Schlusspunkt, und dann wird der folgende Satzteil weggelassen:

Die AfD bekäme elf Prozent, im Vergleich zum November wären das 5 Punkte mehr.

5-Prozentpunkte von 6 Prozent auf 11 Prozent innerhalb von zwei Monaten, das ist eine sensationelle Entwicklung. Es ist innerhalb dieses kurzen Befragungsintervalls fast eine Verdoppelung der ermittelten möglichen Wählerzahl für die AfD. Ist die unbedeutend erscheinende Abwandlung des ursprünglichen DPA-Textes weniger irgendwie sachlich begründet, sondern mehr den politischen Vorlieben bzw. Abneigungen der verantwortlichen Redakteure entsprungen? Das ist natürlich viel subtiler als eine aktuelle „Focus-online“ Überschrift:

Emnid-Umfrage zeigt: Erschreckender Trend: AfD steigt bundesweit zur drittstärksten Kraft auf

Es ist vorstellbar, dass die Redakteure der Regionalzeitung ebenso wie die Focus-Redakteure die AfD absolut nicht mögen. Jetzt bekamen sie diese DPA-Meldungen auf den Bildschirm und waren erschrocken über den sprunghaften Anstieg der Zahlen für die AfD. „Für uns erschreckender Trend“ wäre ehrlicher gewesen. Die Lokalredaktion der Regionalzeitung überlegte, wie diese eindeutige „Siegermeldung“ für die AfD, wenn schon zu verhindern, dann wenigstens abzuschwächen wäre. Da ist ihnen dann durchaus gekonnt das Weglassen der Entwicklungszahl für die AfD eingefallen.

Was jetzt wie „Erbsen zählen“ erscheinen mag, hat aber einen wichtigen Hintergrund, der sich in einem bekannten Aphorismus von Georg Christoph Lichtenberg widerspiegelt:
Die gefährlichsten Unwahrheiten sind Wahrheiten mäßig entstellt.

DPA hat wahrheitsgemäß 11 Prozent Wählerstimmen für die AfD laut Politbarometer der darauf spezialisierten Forschungsgruppe Wahlen festgestellt. Das sind 5-Prozentpunkte mehr gegenüber der gleichen Befragung vorher. DPA meldete auch das. Es wurde dann aber von der einen Tageszeitung weggelassen.

Eine nur mäßig entstellte DPA Meldung!

Wer auch weiß, dass die Meinungsforschungsinstitute statistische Ausreißer bei den Rohdaten glätten, kann nachvollziehen, dass plötzliche extreme Veränderungen von allen Meinungsforschungsinstituten zunächst abgeschwächt werden. Als einziges Institut in Deutschland veröffentlicht die Forschungsgruppe Wahlen (FGW) bei der Sonntagsfrage zur Bundestagswahl jeweils zwei Zahlen:

(1)    Die Rohdaten, die mit „politische Stimmung“ bezeichnet werden und
(2)    Die „Projektion“, also die Wahlprognose

Der Unterschied zeigt sich z. B. bei den Zahlen für die AfD:

(1)    8 Prozent im November 2015, 13 Prozent im Januar 2016
(2)    6 Prozent im November 2015, 11 Prozent im Januar 2016

Alle anderen Meinungsforschungsinstitute behandeln den Schritt von (1) zu (2) als streng gehütetes Betriebsgeheimnis. Die FGW verschweigt wie alle anderen den Schritt von den „Rohdaten“ (0) zu (1). Journalisten, die solche Ergebnisse von Umfragen interpretieren, müssten das wissen und berücksichtigen.

Es ist dann kein professioneller Journalismus, wenn eine Abweichung von einem Prozentpunkt in Überschriften und in den erläuternden Texten je nach politischer Einstellung als Gewinne oder Verluste einer Partei herausgestellt werden. Wenn Journalisten eine solche minimale Abweichung, die bei den Rohdaten auf einen einzigen von tausend oder zweitausend Befragten zurückzuführen sein kann, den Lesern oder Zuschauern als bedeutsame Gewinne oder Verluste von Parteien verkauft werden, dann ist das in jedem Falle eine Wahrheit, mäßig entstellt.

Es ist auch eine Wahrheit, mäßig entstellt, wenn Journalisten die Ergebnisse einer Wahlumfrage, die passend zu ihrer politischen Grundüberzeugung ist, wohlwollend kommentieren, auch wenn sie eher als Ausreißer gegenüber den Ergebnissen aller sechs anderen Meinungsforschungsinstituten einzuschätzen sind.

Eine schlichte Wahrheit wäre, den Durchschnitt aller sieben Ergebnisse im zeitlichen Verlauf den Medien-Konsumenten mitzuteilen. Das sähe aktuell so aus:

SoFrage

 

 

 

 

 

Der mündige Leser kann sich auf Grund dieser Zahlen eine eigene Meinung über erkennbare Trends bilden! Wenn einer der Institutsleiter öffentlich seine Zahlen so interpretiert, dass die AfD ihr Potential mit 10 Prozent wohl ausgeschöpft habe, ist das mehr Wunschdenken als seriöse Trendanalyse.

Der dargestellte Trend zeigt etwas anderes: Die Regierungsparteien verlieren seit Sommer 2015 zusammen rund 10 Prozent ihrer Wähler, die parlamentarische Opposition profitiert nur wenig davon, die außerparlamentarische Opposition nimmt nur in der Gestalt der AfD kräftig zu.

Dieter Schneider, Jahrgang 1941, studierte Betriebswirtschaftslehre in Frankfurt am Main. Nach sieben Jahren Management-Tätigkeit brachte er als selbständiger Unternehmensberater und Journalist den branchenspezifischen Information- und Beratungsdienst „Marktlücke“ heraus, den es ununterbrochen Anzeigen- und PR-frei fast 40 Jahre gab. Seit 2013 publiziert Dieter Schneider mit gleichem Namen MARKTLÜCKE Management-Themenmagazine, zuletzt drei Ausgaben mit dem Titel „Wertschätzen“.

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