Was war das doch für eine Zeit, in der Taxifahrer an der Wall Street spekulierten, Hausfrauen ihre Königinnen-Illustrierte gegen Börsenjournale tauschten und Rentner ihr Ruhegeld mit Optionsscheinen hebelten: „Neuer Markt“, so hieß das Zauberwort, mit dem sich die Panzertüren zum Reichtum auch für Kleinanleger öffneten. Immerhin ein Noch-Staatsunternehmen, die Deutsche Telekom, heizte mit einer 300-Millionen-Euro-Kampagne das Börsenfieber und die Gier so richtig an, mit der vermutlich teuersten Werbekampagne in der Geschichte Deutschlands. Über 50 Milliarden Euro nahm der damalige Bundesfinanzminister Hans Eichel durch die Versteigerung von Mobilfunklizenzen ein – davon kann heute Wolfgang Schäuble nur noch träumen, wenn er uns die Cents aus der geballten Faust kratzt. An einem Tag verlor der Neue-Markt-Star Gerhard Schmid (Mobilcom) eine Milliarde an Börsenwert. „Macht nix, es kommt morgen wieder“, sagte er nur achselzuckend. So viele Nullen gab’s erst wieder zehn Jahre später in der Finanzkrise, allerdings mit umgekehrten Vorzeichen.
„Noch nie war es so einfach, reich zu werden“, das habe ich selber damals geschrieben. Es hat ja auch gestimmt. Allerdings nur sehr kurze Zeit. Das Ende ist auch bekannt, seit vor genau zehn Jahren die Kurse nach Süden abdrehten: Kursstürze, die sich zu wahren Höllenfahrten auswuchsen, Kurstabellen, die sich lasen wie Vermisstenlisten, Pleiten und Prozesse, in denen die Heroen des Geldes sich als Betrüger entpuppten, eine grandiose Vermögensvernichtung. Vermutlich hat der eine oder andere von uns noch ein paar solche Leichen im Depot, die man nur deshalb nicht auskehrt, weil das Eingeständnis der Verluste nur böse Erinnerungen heraufbeschwört – lieber verdrängen, was nicht mehr zu retten ist.
Es gibt aber auch eine andere Geschichte, die unter der Überschrift „Neuer Markt“ erzählt werden kann. Mit Qiagen steht ein früherer Star des Neuen Marktes auf der Schwelle zum Dax. Das wäre eine willkommene Blutauffrischung für das feine Börsensegment, in dem rund die Hälfte der Mitglieder aus dem 19. Jahrhundert stammt und die Kinder der Nachkriegszeit noch als Teenager durchgehen. Klitschen aus der Zockerbude wuchsen zu respektablen Unternehmen mittlerer Größe, etwa Aixtron und United Internet; es sind Unternehmen, die das haben, was unserer Volkswirtschaft so dringend fehlt: Unternehmergeist, neue Produkte, neue Ideen.
Der Neue Markt steht als Synonym für die vorerst letzte Gründerzeit in Deutschland: Es war plötzlich ebenso chic, Unternehmen und möglichst gleich eine Aktiengesellschaft zu gründen, wie es Mode wurde, Unternehmensanteile zu besitzen; frisches Kapital für neue Ideen gab es daher im Überfluss; Optimismus und Glaube an technischen Fortschritt, egal, ob Internet oder Biotech, verdrängten die deutsche Selbstverliebtheit in Tristesse, Selbstzweifel und Technikfeindlichkeit. Das ist die brisante Mischung, aus der Neues entsteht: Großartige Unternehmen ebenso wie grandiose Selbstüberschätzung und grauenhafter Betrug; Versuch und Irrtum liegen nahe beieinander. Hören wir auf, mit den Zähnen zu knirschen wegen Telekom und Infineon, Mobilcom und EM.TV.
Versuchen Sie dafür einmal, heute Geld für eine etwas ungewöhnliche Existenzgründung zu kriegen – da greift der Bankberater statt zum Kreditantrag lieber zum Überweisungsschein ins Irrenhaus. Die Zahl der Unternehmen schrumpft, und das Kapital für junge Unternehmen wird knapp. Es wird bewahrt und verwaltet, aber nicht mehr gegründet, beklagt Qiagen-Chef Peer Schatz, . Geist und Geld finden nicht mehr zusammen, und das macht uns viel ärmer als Versuch und Irrtum.
(Erschienen am 06.03.2010 auf Wiwo.de)
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