Die Weltflüchtlingskrise darf nicht länger allein den deutschen Kommunen aufgebürdet bleiben

Ein UN-gesteuertes Grenzsicherungsregime an den Mittelmeerküsten der Türkei und Nordafrikas muss endlich her - und ein UN-Mandat für die Krisengebiete. Ein Gastbeitrag von Wolfgang Müller-Michaelis.

Verfahren ist die Lage immer dann, wenn man das Gefühl hat, nicht mehr Herr seiner Entscheidungen zu sein. Schlimmer noch, wenn man sich von Entwicklungen getrieben sieht, denen man nur darum ausgeliefert ist, weil man versäumt hat, rechtzeitig auf sie Einfluss zu nehmen – als es noch möglich war, sie in geordnete Bahnen zu lenken. Fast aussichtslos erscheint die Lösung der aufgestauten Probleme, wenn es sich bei den Versagern um die großen Mächte dieser Welt handelt, auf deren ehemalige Führer man vor einem Jahr, beim Gedenken an den Ausbruch des Ersten Weltkriegs vor hundert Jahren, noch mitleidig zurückgeblickt hatte.

Der geniale Christopher Clark hatte sie die Schlafwandler genannt, die sehenden Auges aber doch ahnungslos in die Katastrophe des „Dreißigjährigen Krieges der Neuzeit“ hineingeschliddert waren. Nicht ohne eine Prise Überheblichkeit hatten die Kommentartoren noch zu Beginn diesen Jahres beim Rückblick auf siebzig Jahre Frieden nach Ende des Zweiten Weltkriegs das zwielichtige Agieren der Entscheidungsträger vom Sommer 1914, Frankreichs, Englands, Russlands, Deutschlands und Österreich-Ungarns, verurteilt.

Aus 1914 nichts gelernt

Deren gemeinsame Rückkehr zur Kriegsoption rund hundert Jahre nach dem ersten großen Weltenbrand – sowohl der westlichen Länder im Geleitzug der inzwischen zur globalen Führungsmacht aufgestiegenen USA als auch Russlands, das seinen angeknacksten Großmachtstatus im Ukraine-Konflikt zu erhalten trachtet – dokumentiert in erschreckender Weise, wie wenig alle zusammen aus der Geschichte gelernt haben. Das passive Schwelenlassen des israelisch-palästinensischen Konflikts einerseits und die aktive Einmischung des Westens in die Religionskriege der islamischen Welt mit den verheerendsten Folgen nach der unseligen Irak-Intervention sind die eigentlichen Auslöser einer erneuten Friedensbedrohung in globalem Ausmaß.

Leider haben die politischen Beraterstäbe ihren Scholl-Latour nicht gelesen, sonst wären unsere Entscheidungsträger und ihre medialen Begleiter nicht dem tiefgreifenden Irrtum erlegen, die Vielzahl der Konflikte in Nah- und Mittelost für kriegerische Auseinandersetzungen zwischen Staaten nach westlichem Muster zu halten. Denn tatsächlich handelt es sich um Erscheinungsformen des Jahrhunderte währenden islamischen Schisma, des Kampfes der sunnitischen gegen die schiitische Glaubensrichtung. In diesem Kampf stehen sich unter Führung der sunnitischen Vormacht Saudi-Arabien die arabischen Völker des Nahen und Mittleren Ostens und Nordafrikas einschließlich der Türkei auf der einen und die nicht-arabischen schiitischen Völker Irans und des Irak unter Führung Teherans auf der anderen Seite gegenüber.

Syrien, das im Zentrum der aktuellen kriegerischen Auseinandersetzung steht, nimmt ähnlich wie der Libanon als gemischt-religiös besiedeltes Land insofern eine Sonderstellung ein, als es, mehrheitlich ebenfalls von Sunniten bewohnt, von einer alewitischen Minderheit unter Assad regiert wird, die den Schiiten nahesteht. Das erklärt zugleich die Unterstützung Syriens durch den Iran wie auch die Feindschaft Saudi-Arabiens, die sich in der Finanzierung und der Waffenbelieferung aller vier mit dem Assad-Regime im Kampf stehenden sunnitischen Gruppierungen niederschlägt: der sogenannten Revolutionsarmee, der Al-Nusra-Front, der Al-Quaida sowie des IS, die teils miteinander konkurrieren, teils untereinander wegen des gemeinsamen Zieles Unterstützung gewähren.

Spielball im inner-islamischen Konflikt

Unter dem Strich kann der sich in Jahrhunderten aufgeschaukelte inner-islamische Konflikt, der absehbar auf lange Zeiten ungelöst bleiben dürfte, nur als hochbrisante Gemengelage politischer, religiöser und kultureller Verhältnisse betrachtet werden. Wer sich auf westlicher Seite, wenn auch aus ehrenwerten altruistischen Motiven, zum Teilhaber dieses Konflikts erklärt, dürfte die Tragweite dieses im Houellebecqschen Sinne letztlich auf Unterwerfung gerichteten Schrittes kaum ermessen haben. Von daher war die Aussage hochrangiger deutscher Politiker, der Islam gehöre zu Deutschland, nicht nur eine intellektuelle sondern mehr noch eine staatspolitische Fehlleistung.

Deren tragische Wirkung zeigt sich zum einen in der sichtbaren Erscheinung der sich eingeladen fühlenden Flüchtlingsströme aus der islamischen Welt, die praktisch von allen nicht-deutschen Europäern als Zumutung, wenn nicht gar als Angriff auf deren Souveränität und Identität empfunden werden: Und dies vor allem wegen der im Unsichtbaren bleibenden und in die Zukunft wirkenden Belastung, mit der auf diesem Wege das dem islamischen Schisma inhärente Gewaltpotenzial nach Europa importiert werden könnte – nach all den erfolgreichen Anstrengungen, die die Europäer nach zwei apokalyptischen Katastrophen unternommen haben, endlich in Frieden miteinander zu leben.

Die UNO in ihre Verantwortung 

Statt weiterhin die Verpflichtung zur Bewältigung des hochdimensionierten Flüchtlingszustroms für sich und damit zu Lasten der deutschen Kommunen zu reklamieren, sollte die Bundesregierung im Verein mit der EU-Ratspräsidentschaft und den Regierungschefs der EU-Mitgliedsländer endlich das tun, was sie von Anfang an hätten tun sollen: die Vereinten Nationen an ihre konstitutive Verantwortlichkeit für die Weltflüchtlingskrise, in der mit Vorderasien, Afrika und Südosteuropa immerhin drei der fünf Kontinente unseres Globus involviert sind, zu gemahnen. Es ist ein Armutszeugnis der europäischen Diplomatie, die sich nicht scheute, in einem Staatsakt dreißig Flüchtlingen von Griechenland nach Luxemburg ein symbolisches Geleit zu geben, es stattdessen bisher versäumte, alles in ihrer Kraft stehende zu tun, einen der Flüchtlingskrise gewidmeten Beschluss des UN-Sicherheitsrats zu erwirken.

Dessen Inhalt sollte es sein, die Koordinierungsfunktion für das Kontingentierungsprojekt in die Hände des dafür von der Völkergemeinschaft geschaffenen UN-Flüchtlingshilfswerks zurückzugeben, unterstützt durch ein zügig aufzubauendes EU-Flüchtlingskommissariat. Die Finanzierung der Flüchtlingscamps im Libanon, in Jordanien und in der Türkei einschließlich der zusätzlich zu schaffenden Einrichtungen in Nordafrika, von denen aus die Kontingente abzurufen wären, sollte ergänzend zu den bereits verfügbaren Budgets aus dem Aufkommen an Kompensationsleistungen jener Staaten der Region sowie Europas, der USA und Kanadas sichergestellt werden, die sich gegen die Aufnahme von Kontingenten entscheiden. Ergänzend sollte der Beschluss des UN-Sicherheitsrats der Bekämpfung der kriminellen Menschenhändlerringe durch ein UN-gesteuertes Grenzsicherungsregime an den Mittelmeerküsten der Türkei und Nordafrikas gelten.

Wolfgang Müller-Michaelis ist Wirtschaftswissenschaftler und emeritierter Honorarprofessor für Kommunikation und Medien, Leuphana Universität Lüneburg.

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