Wir sind ein Volk? Allenfalls sind wir ein Volk von Rechthabern.
“Es gibt zwei politische Kulturen in Ost und West, die sich nur schwer miteinander verständigen können.“
I.
„Die Deutschen haben letzten Endes die Wiedervereinigung nicht gut gemanagt“, sagte Helmut Schmidt im Sommer 2012. Die herrschende Lehre ist das nicht. Die Übernahme der DDR durch die Bonner Republik gilt parteiübergreifend als heroische Meisterleistung. Weil wir alle Schwestern und Brüder sind, so das Dogma, ist die sozialistische Sozialisation der Ostdeutschen spielend zu überwinden gewesen. Der deutsche Konsenswahn lässt tief verwurzelte und sogar auf nachfolgende Generationen übertragbare Unterschiede kaum zu. Die empirische Sozialforschung misst gleichwohl solche hartnäckigen Einstellungsdifferenzen. Statistisch gesehen denken die Deutschen in Ost und West anders über Grundwerte wie Freiheit, Gleichheit, Sicherheit. Und also auch über das Fremde.
II.
Das hat selbstredend Folgen für die aktuelle Debatte. Es macht sich schnell unmöglich, wer behauptet, der Rechtsradikalismus sei überwiegend ein ostdeutsches, weniger ein westdeutsches Problem. Denn es kann nicht sein, was nicht sein darf. Tatsache aber ist nach wie vor: “Es gibt zwei politische Kulturen in Ost und West, die sich nur schwer miteinander verständigen können“ (der Rechtsextremismusforscher David Begrich aus Magdeburg). Und weil das so ist, wird der Diskurs über Migration auch dadurch erschwert, dass in Ost und West jeweils andere Einstellungen die Debatte dominieren. Es wäre leichter, über Einwanderung zu reden, gäbe es dahinter nicht auch noch den Clash of Civilisations zwischen Ost und West. Die herrschende Mainstream-Lehre aber lautet: So wie Pegida nichts mit der DDR zu tun hat, so hat auch der Islamismus nichts mit dem Islam zu tun. Es ist dasselbe Verdrängungsmuster.
III.
Die Irrationalität der Flüchtlingsdebatte kommt also auch daher, dass Motive ins Spiel kommen, die gar nicht zum eigentlichen Thema gehören. Könnte es sein, dass sich am Thema Migration etwas entzündet, was anderswo verdrängt worden ist? Die hohe Emotionalität der Debatte lässt sich anders kaum verstehen.
Der Westen ist mit Migration so vertraut, dass er die Sache pragmatischer angehen kann. Die Ängste sind geringer, gerade weil die Erfahrungen mit Einwanderern größer sind.
Bei Pegida und ihren Sympathisanten findet sich offenbar eine Sehnsucht nach Homogenität, wie es sie in der fast ausländerlosen DDR gegeben haben muss. Der Wendestress erzeugte zusätzliche Ängste. Pegidas unausgesprochener Text lautet: Die Anpassungen der Wiedervereinigung haben uns bereits überfordert. Jetzt ist Schluss mit Veränderungen!
IV.
Gäbe es Pegida nicht, wäre es leichter, unbefangen über Migration zu sprechen. Weshalb? Die sächsische Bewegung der Verpeilten und Verbohrten wird von den Medien zum Großpopanz, zur braunen Gefahr aufgebauscht. Damit wird Pegida instrumentalisiert. Aus Rücksicht auf Pegida soll nicht offen über die unübersehbare Menge, die offenen Grenzen und die gesellschaftlichen Folgen der kaum zu bewältigenden Integration gestritten werden. Wer es tut, dem wird Nähe zu Pegida unterstellt. Wer die Dinge darstellt, gilt als einer, der Pegida Argumente liefert. Die perfideste Denkschablone ist derzeit die Behauptung: Rechtsradikales Denken mache sich in der Mitte der Gesellschaft krebsartig breit.
Die wachsende Skepsis gegenüber der ungesteuerten Migration im schutz- und hilflosen Staat rechtfertigt diesen Schluss nicht. Oder ist etwa der sozialistische französische Ministerpräsident Valls ein Pegida-Anhänger? Er hat sogar die Schließung der Grenzen gefordert.
Unterstützt Pegida, wer den Zerfall der Europäischen Union fürchtet, weil die deutsche Flüchtlingspolitik Europas Union unübersehbar spaltet? Pegida ist gegen Europa, bürgerliche Migrations-Skeptiker sind stark dafür. Eigentlich ist das nicht zu übersehen.
V.
Während Pegida sich aus Angst vor der unvermeidlichen Veränderung Deutschlands in den Hass stürzt, wollen auf der linken Seite des Mainstreams nicht Wenige Deutschland bis zur Unkenntlichkeit verändern. Die mit der Wiedervereinigung verbundene Renationalisierung war vielen nicht geheuer. Gegen die Wiedervereinigung zu agitieren, war aber nicht opportun. Den Deutschen ihr Nationalbewußtsein auf andere Art auszutreiben, nämlich durch Überfremdung, mag sich wie Rache an der Renaissance des deutschen Nationalstaats anfühlen, im Osten wie im Westen. Es ist eine stillschweigende Allianz der Wiedervereinigungsgegner, die sich hier findet. Wenn wir schon ein Volk sind, dann bitte ein anderes, ein von einigen Millionen Muslimen in seinem Kern dekonstruiertes Deutschland.
VI.
Diese verborgenen Motive zerstören den sachlichen Diskurs. „Stattdessen schwankten Politiker zwischen Affirmation und moralischer Diskreditierung“ (David Begrich). Flüchtlinge sind Projektionsflächen für Dinge, für die sie nichts können. Und deshalb sind auch die Medien nicht in der Lage, die reine Emotionalität der Ereignisse zu sprengen.
Auf der Pegida-Seite ist die „Lügenpresse“ so verhasst wie der Islam. Viele Ostdeutsche erinnern sich. Es sind ja nicht offensichtliche Falschmeldungen, die stören, als vielmehr der Volkserziehungston. Die Westpresse sei nicht viel besser als einst die DDR-Presse, lautet eine oft zu hörende Klage – nicht nur aus dumpfen Pegidakreisen.
Ein beliebiges, kleines, doch typisches Beispiel aus der Qualitätspresse.
Ausgerechnet auf der berühmten Seite Drei der Süddeutschen Zeitung formulierte die berühmte Reporterin Evelyn Roll anlässlich der Beerdigung von Helmut Schmidt: „Heute sagen eigentlich alle: Der Nato-Doppelbeschluss war richtig und notwendig. Ohne die Agenda 2010 würde Deutschland nicht so dastehen, wie es das tut. Über Merkels Flüchtlingspolitik sagen die Migrationsforscher und einige schlaue Leute in der deutschen Wirtschaft, dass man ihr in zehn Jahren dankbar sein werde.“ Hätte Roll in ihrem Artikel das „die“ vor Migrationsforscher und das Adjektiv „schlaue“ vor Leute weggelassen, gäbe es keinen Grund, sich zu beschweren. Aber warum überlässt die Autorin das Mitdenken nicht den Lesern? Es reicht doch schon, wenn sie fälschlicherweise suggeriert, mit ihren umstrittensten Taten hätten Kanzler immer Recht gehabt.
VII.
Die Deutschen wollen sich ständig gegenseitig missionieren. Wie schon im Kalten Krieg. Aber es gibt weder die reine Wahrheit, noch die reine Unwahrheit in dieser globalen Sache.
Wir sind ein Volk? Allenfalls sind wir ein Volk von Rechthabern.
Helmut Schmidt ließ zu seinem Abschied den Choral singen: „Der Geist hilft unser Schwachheit auf“ (BWV 226). Ja, wie wärs mal mit Geist. Ausnahmsweise.
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