Wohin bewegt sich Deutschland?

Deutschland zerfällt immer mehr in Parallelgesellschaften, die religiös oder sozial stigmatisiert sind, in ein Prekariat und in eine Schicht Superreiche, während der Kitt einer modernen Gesellschaft, der Mittelstand, nicht von Aufstieg träumt, sondern sich vor Abstieg fürchtet.

© John MacDougall/AFP/Getty Images
The Reichstag building, which houses the Bundestag lower house of parliament, is reflected in a puddle, in Berlin on October 5, 2017

Die Deutschen sorgen sich. Um die richtige Verwendung des Wortes «Hetzjagd»? Ach was. Sorge Nummer eins ist die drohende Altersarmut. Laut einer Studie des Deutschen Instituts für Wirtschaft zu recht. Laut ihr wird der Hälfte aller heute zwischen 55 und 64 Jahre alten Arbeitnehmer das Geld zur Fortführung des gewohnten Lebensstandards fehlen. Oder in Zahlen 700 Euro pro Monat, bei einer Standardrente von rund 1.400 Euro.

Das ist dramatisch, und die Dramatik wird noch weiter zunehmen. Aus rein demographischen Gründen. Die Leute werden immer älter, der Nachwuchs, der im Umlageverfahren die Renten finanzieren soll, bleibt aus. Es braucht nur banale Versicherungsmathematik, um auszurechnen, ab wann ein Beitragszahler für einen Rentner aufzukommen hat.

Nehmen nun die Politiker – und die Medien – die Sorgen der «Bürger draußen im Lande», wie eine beliebte Floskel lautet, auch ernst? Wer den Diskurs der letzten zwei Wochen verfolgt hat, ist sich sicher: nein, keinesfalls. Ginge es nach dem neuen Justemilieu, stünde zuoberst im Sorgenbarometer die braune Gefahr, das Problem, dass die Rechte «die Machtfrage» stelle, wie sich Journalisten nicht entblödeten zu schreiben. Diese Gefahr wird begleitet von der Trinität Hetzer, Fremdenfeind und Rechtspopulist. Dagegen stehen die solidarischen, humanen und fortschrittlichen Menschen mit ihrer Willkommenskultur.

Alle Macht geht vom Volke aus?
Alle Macht den Institutionen!
Diese Darstellung hat mit der Wirklichkeit fast nichts zu tun. Es ist richtig, dass die unkontrollierte Masseneinwanderung in Deutschland braunen Schlamm aufgewühlt hat. Es ist richtig, dass die Protestpartei AfD alleine mit einem «so nicht weiter», einem «mit denen nicht weiter» laut Meinungsumfragen in Deutschland vor der SPD liegt und in der ehemaligen DDR sogar die stimmenstärkste Partei geworden ist. Das ist aber kein Ausdruck des Wiedererwachens des Nationalsozialismus. Nicht jeder, der in einem Umzug mitläuft, in dem ein paar geistlose Lumpen den Arm zum Hitlergruß erheben, ist ein Nazi. In der überwältigen Mehrheit sind es besorgte Bürger, die ihre Anliegen von den traditionellen Parteien nicht mehr ernst genommen sehen. Wähler der AfD wollen keine Nazis wählen, sondern aus Protest eine Protestpartei. Die Wähler der AfD sind sich bewusst, dass auch diese Partei keine Lösung der Rentenfrage zu bieten hat.

Dass sie dennoch dermaßen erstarkt, ist ein Beweis für die Unfähigkeit der Altparteien. Wer nur das dumme Wort von der Lügenpresse denunziert, kritisiert am Problem vorbei, dass auch die Medien nicht in der Lage sind, Ängste und Sorgen und Probleme in der Bevölkerung adäquat aufzunehmen und zu analysieren. Wer nur die Nazikeule schwingt und sich in semantischen Auslegungen verliert, wessen Geistes Kind einer sei, der dieses oder jenes Unwort verwendet, macht sich nicht nur lächerlich, sondern überflüssig.

Wo geht die Reise hin, wo wird das enden? Der deutschen Politik und den Medien fehlen zunehmend die Messfühler – und die Sensibilität –, um die wirklichen Sorgen und Nöte der Bevölkerung aufzunehmen. Die artikuliert sich zudem immer mehr in all den neuen sozialen Plattformen im Internet und benützt immer weniger die althergebrachten Medien, um sich zu informieren. Daher weiß eigentlich niemand genau, wohin sich Deutschland bewegen wird. Nur eine Gefahr ist dabei sehr real: Das kann ganz übel enden.

Deutschland zerfällt immer mehr in Parallelgesellschaften, die religiös oder sozial stigmatisiert sind, in ein Prekariat und in eine Schicht Superreiche, während der Kitt einer modernen Gesellschaft, der Mittelstand, nicht von Aufstieg träumt, sondern sich vor Abstieg fürchtet. Löst sich dieser Kitt auf, empfindet sich der Bürger nicht mehr als Staatsbürger, sieht er seine Anliegen nicht von den Repräsentanten des Staates wahrgenommen, stellt er das Gewaltmonopol und die Rechtsordnung des Staates in Frage. Zieht sich der Staat aus bestimmten Gebieten zurück, entstehen No-Go-Zonen, in denen das Faustrecht herrscht, Bürgerwehren versuchen, ihre Auffassung von Recht und Ordnung durchzusetzen. Die nächste Eskalationsstufe wäre der offene Bürgerkrieg, der Staatszerfall, das Mosaik aus kleinsten Herrschaftsgebieten. Für Deutschland nichts Neues. Ob sich dieser Alptraum realisiert, steht in der Zukunft geschrieben. Aber heute kann man konstatieren: Die Regierenden in Deutschland tun viel dafür, dass er Wirklichkeit wird.

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Kommentare ( 96 )

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96 Comments
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Regula Frey
6 Jahre her

Nein, bitte nicht wieder Glaube („Überzeugung“) gegen Vernunft. Diese Debatte ist doch seit 75 Jahren entschieden !

Regula Frey
6 Jahre her

Das verstehe ich nicht, sprechen Sie von Araber-Clans oder dem Beamtenadel ?

Maria Mgd.
6 Jahre her

Ich bin meine eigene-prekäre, sozial stigmatisierte Parallelgesellschaft, denn- ich bin lediglich eine deutsche (huch) Hausfrau,in den mittleren 50… Das war ja,nicht immer so, allerdings habe ich mich nach langem, mit mir selbst Hadern abgefunden… 😉 Wir gehen zu keinen öffentlichen Veranstaltungen, also Stadtfeste, etc. mehr, die Gruftitreffen in der näheren Umgebung lassen wir auch des Öfteren aus. Selbst diese Szene ist mittlerweile nicht mehr so wie früher. Wir können uns im Moment noch den Luxus leisten, einmal im Monat zum Japaner unseres Vertrauens zu fahren, unsere Miete,Rechnungen, etc. selbst zahlen. Lediglich ein Unfall, mein Mann ist Handwerker- oder eigene Unachtsamkeit… Mehr

Lizzard04
6 Jahre her

Ein sehr bedenklich stimmendes Szenario wurde hier beschrieben, allerdings völlig zurecht!Leider! Was mich dabei so fassungslos macht ist zum einen, dass diese Katastrophe (und das ist es) völlig unnötig, durch die eigene politische Kaste verschuldet wurde und die Mehrzahl der (mündigen?)Bürger die regierende Unfähigkeit bei den letzten Wahlen auch noch bestätigt hat (Stichwort Untertanenmentalität). Und es macht mich unaussprechlich wütend, dass das politische Establishment die sozialen und wirtschaftlichen Errungenschaften diese Landes der letzten 70 Jahre bedenkenlos und mit Vorsatz in die Tonne tritt!

Karl Heinz Muttersohn
6 Jahre her

Nein, die Migration ist nicht die Mutter aller Probleme. Auch Merkel nicht, wie viele hier zu glauben scheinen. Die Mutter aller Probleme ist der Untertanengeist und die Obrigkeitshörigkeit der Deutschen. Diese hat historisch betrachtet schon viel Leid über Deutschland und die Welt gebracht und ist gerade dabei die Etablierung einer weitere Diktatur zu dulden. Diesmal kommt sie allerdings in ziemlich guter Verkleidung daher: Als alternde Matrone im Hosenanzug und mit selbst montiertem Heiligenschein wird sie von den Medien hofiert bis Blut kommt.

WojtekThomalla
6 Jahre her

No-Go Zonen gibt es ja jetzt schon. Es wird sicherlich zu Zersplitterungen kommen. Doch wird es als Dach sicher eine Orwellsche Macht geben, die das alles nicht zum Explodieren bringt, sondern irgendwie kontrolliert. Leider habe ich die Sorge, dass die „Biodeutschen“ das alles noch lange stützen werden. Man stelle sich vor: Die Deutschen machen beim „Wir schaffen das“ das Gleiche wie vor 73 Jahren beim „Endsieg“… Oder war vielleicht bereits das 3. Reich und dessen Vernichtung der totale Untergang und die „Wirtschaftswunderzeit“ nur eine Art schöne Phase in der Palliativstation?

Don Nicolas
6 Jahre her
Antworten an  WojtekThomalla

Herr Thomalla, bitte! Zuerst: lesenswerter Kommentar. Aber wie kommen Sie denn darauf, es gäbe No- Go- Areas? Im Homeland NRW, wo ich wohne, hat uns seinerzeit der Innenminister, der Name fällt mir grad nicht ein, aber es hatte was mit Treibjagd zu tun, also der Mann hat uns wiederholt versichert, es gäbe definitiv keine No- Go – Areas. Der wußte doch auch genau, was in der Sylvesternacht in Köln war, also nach einer Woche etwa: garnichts Besonderes. Sollen wir denn an den Worten eines Ministers zweifeln? Da muß ich Ihnen auch gleich noch dazu sagen, damit Sie die Dinge in… Mehr

AnSi
6 Jahre her
Antworten an  Don Nicolas

Humor ist, wenn man trotzdem lacht! Danke für den Beitrag!

Klaus Mueller
6 Jahre her

Genauso wird es kommen. Bisher haben es das deutsche Volk und seine pseudo-demokratischen Politiker niemals unversucht gelassen ein geeintes, stabiles und prosperierendes Gemeinwesen zu destabilisieren. Die Meilensteine sind 1908 als greifbarer Startschuß, dann 1917 (alle gegen alles), 1933 (alle für einen), 1990 (23 statt 146) und 2015 (alle hierher). Wv. 2030.

Heiner Hannappel
6 Jahre her

Nach nun vier Büchern, mit denen ich mich an dieser Kanzlerin abarbeite, das letzte mit dem Titel „Die Erosion unserer Vernunft, Kultur, Werte und Demokratie“ mit über 500 Seiten, die außer dem Merkelversagen auch das Versagen der Menschheit auf diesem Planeten beinhaltet, lese ich nun diesen richtigen Artikel, der mir Mut macht. Denn ich bin nach vier recherchierten und geschriebenen Büchern etwas müde und traurig geworden., da ich keinerlei Veränderungen in der politischen Kaste sehe, die auf allen Feldern wie auch in der noch nicht bewältigten Euro/ Finanzkrise einen Status Quo zu erhalten versucht, aber mit ihren Bemühungen dazu am… Mehr

imapact
6 Jahre her

Exakte Zustandsbeschreibung. Nur eine Anmerkung zur „Lügenpresse“. Während manche damit früher die „Lückenpresse“ meinten. hat der Begriff seit Chemnitz m.E. seine Berechtigung. Denn nach wie vor wird da ununterbrochen von den „Ausschreitungen Bund Hetzjagden“ gefaselt, für dieses einfach keine überzeugende Beweise gibt.

Endstadium0815
6 Jahre her

Genauso ist es. Sehr gute Aussage zu diesen etwas grotesken Zeilen.