Kritik an Merkel oder Einarmig auf dem Kirschbaum

Wähler dürfen sich von ihren Gefühlen treiben lassen. Politiker nicht. Sie sollten nach dem Maßstab der Vernunft handeln - und nicht nur mit wirkungslosen Symbolen hantieren.

Doch, doch, mich plagen Zweifel. Habe ich mich in die rechte Ecke verstiegen? Mich gegen Merkel verrannt? Bin ich der Geisterfahrer oder sind es die anderen, die über mich den Kopf schütteln wie SPON-Kolumnist Georg Diez? Vielleicht sehe ich vor lauter Wald die Bäume, vor lauter Flüchtlingen die blühende Landschaft einer humanen, optimistischen Gesellschaft nicht mehr. Ich trete also besser einen Schritt zurück um nicht das Ganze aus den Augen zu verlieren. Was fällt mir auf?

I.

Sie kommen nicht, um in Deutschland Chaos zu stiften, sondern um dem Chaos in Syrien und anderswo zu entkommen. Sie denken nicht an die Folgen für Europa, sondern an die Folgen für sich selbst. Deshalb spielt es für Migranten keine Rolle, ob sie sich hunderttausendfach auf den Weg machen oder millionenfach. Transitzonen und Turnhallen sind besser als syrische Ruinenstädte, Zittern vor der Unerbittlichkeit deutscher Beamten erträglicher als Angst vor den Taliban. Wer hätte dafür kein Verständnis? Die Flüchtlinge trifft keine Schuld, und Verantwortung tragen sie nur jeweils für sich selbst.

II.

Die guten, hellen Deutschen bedienen sich ihres Verstandes bis genau hierher. Keinen Schritt weiter. Gute Gefühle machen das Schwierige leichter verständlich. Und es scheint moralisch gesund. So dürfen Wähler denken, es ist ihr gutes Recht. Politiker dürfen es nicht. Denn die Flüchtlingskrise ist keine Naturkatastrophe. Ihre Bewältigung keine Frage der Gesinnung, sondern des Handwerks. Die Aufgabe wird unlösbar, wenn Politiker hauptsächlich daran denken, wie sie am bequemsten aus der Geschichte herauskommen. Wie sie ihr Gesicht wahren können. Sorry, mir ist das Gesicht von Politikern gleichgültig. Viel zu verderben ist da nicht. Sie sollen die Dinge regeln, basta, auch wenn sie sie zu lange ignoriert und verschlimmert haben. Ist ein rechter Hetzer, wer das erwartet?

III.

Für die nicht für möglich gehaltene Unfähigkeit der politischen Klasse steht Angela Merkel. Aber nicht sie allein. Merkel hält keine Sonntagsreden mehr, sondern moderiert wieder und gibt das als Politik aus. Mir will sie wie eine Einarmige vorkommen, die zum Kirschenpflücken auf einen Baum klettert. Wenn sie es denn überhaupt bis in die Krone schafft – entweder pflückt sie dann oder hält sich fest. Beides zugleich geht leider nicht. Die Spitzen der Regierungskoalition haben in dieser Woche darüber geredet, wie sie Merkel beim Sturz auffangen und ihr eine Leiter basteln. Das Ergebnis nannten sie zunächst Positionspapier. Ein Papier zum Einwickeln unterbelichteter Anhänger und Wähler.

Sie rühmen ihre Handlungsfähigkeit und handeln doch bestenfalls symbolisch. Selbst die Choreographie ihres Streits ist nur eine müde Schau. Ein von niemandem ernst genommenes Talkshowgequatsche um Transitzonen/Einreisezentren/Aufnahmeeinrichtungen – ist schon egal und alles zusammen nicht viel wert. Man verheddert sich in bürokratischen Einzelheiten, weil die Kraft zu wirksamen Lösungen fehlt. Es geht den Beteiligten ja gar nicht um Lösungen, sondern darum, den Streit in den eigenen Reihen zu entschärfen, die Leute zu beruhigen.

Es ist immer dasselbe. Die Öffentlichkeit dieses Landes betet den Konsens an. Die Berichte der Medien handeln durchweg von der Frage, wer sich eventuell um die eine oder andere Nuance bewegt habe. Der Streit gilt als beendet. Einigkeit als Selbstzweck. Das Ergebnis wird den Flüchtlingsstrom weder kanalisieren noch abschwellen lassen. Großtuer Seehofer umarmt Nichtstuerin Merkel. Für wie umnachtet halten die beiden ihre Wähler?

IV.

Dagegen hilft nun in der Tat nicht, die Verantwortung ressentimentgeladenen Rechtspopulisten ohne jede Regierungserfahrung zu übertragen. Was dieses Land und Europa benötigen, ist die Rückkehr zu gesunden demokratischen Verhältnissen.

Der Deutsche Bundestag hat keine einzige Abstimmung zur Flüchtlingsfrage zustande gebracht, nicht eine nennenswerte Debatte. Die politische Klasse ist in der Lage, Monate mit Unsinn wie die Autobahnmaut und nationalen Schicksalsfragen vom Range des Mindestlohns zu verplempern. Nur die großen Sachen sind ihr zu groß. Schön, dass wenigstens über die Straffreiheit von Sterbehilfe so offen diskutiert wird. Ein Stündchen, um über die Selbststrangulierung dieser Gesellschaft zu reden, sollte dann doch wohl noch übrig sein.

V.

Die Verlogenheit kommt daher, dass das Unvereinbare für vereinbar erklärt wird. Wem das Asylrecht obergrenzenfrei heilig ist, muss man den Flüchtlingen die lebensgefährliche Tour und Tortur ersparen und sie am besten mit dem Flugzeug abholen. Wer den Strom stauen will, muss die Reise beschwerlicher machen und Flüchtlinge abschrecken – in letzter Konsequenz auch ihren Tod in Kauf nehmen. Andere sollen sich die Hände schmutzig machen, man selbst wäscht die seinen in Unschuld. Diese Wahrheit ist schwer erträglich. Deshalb zeigt man mit dem Finger auf die, die sie aussprechen.

Wer aber beides zugleich will, Willkommenskultur und Abschreckung, und diese Unvereinbarkeit ignoriert, leidet an kognitiver Dissonanz oder ist Zyniker, der sich als Christ/Humanist kostümiert und glaubt, er komme damit durch. Diese Gesellschaft wird nicht darum herum kommen, eindeutig zu definieren, wie viele Einwanderer sie unter welchen Bedingungen aufnehmen kann und will. Offen ist nur noch die Frage, wo die bisher verweigerte Obergrenze liegen soll.

VI.

Das Dumme ist nur: die Konsequenzen der gegenwärtigen Realitätsverweigerung tragen nicht Angela Horsthofer und Gabriel Sigmarkel. Die schreiben bald schon ihre heroischen Memoiren. Als Ghostwriter ihrer selbst.

Das Flüchtlingsproblem macht besonders deutlich, weshalb diese Demokratie nicht gut funktioniert. Sie würde auch ohne die Flüchtlinge nicht mehr richtig gut funktionieren. Wir würden es nur nicht so deutlich merken. Ein Grund, den Migranten dankbar zu sein. Sie führen Politiker vor, treiben sie vor sich her. Vielleicht sind die bald auf der Flucht. Vor ihren Wählern und sich selbst.

 

Wolfgang Herles: Die Gefallsüchtigen – Gegen Konformismus in den Medien und Populismus in der Politik

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