Der Bischof und sein Generalvikar – sie haben Hamburg nie verstanden

Anfang 2018 überraschte das Bistum Hamburg mit der Ankündigung, seine schulische Tätigkeit im sozial schwachen Süden der Hansestadt gänzlich einzustellen. Seitdem fragen nicht nur Hamburgs Katholiken: Welche gesellschaftliche Position soll Kirche im 21. Jahrhundert noch haben?

© STEFANO RELLANDINI/AFP/Getty Images

Wenn eine Partei in einem Konflikt ihre ablehnende Stellungnahme zum Vorschlag des Verhandlungspartners beginnt mit den Worten „Tatsache ist objektiv, dass …“, dann weiß ich als jemand, der sich sein Leben lang mit der Psychologie von Sprache beschäftigt hat, das, was nun kommt, mag alles sein – nur eines nicht: objektiv. Und genau so liest sich denn die „Zusammenstellung der verschiedenen Stellungnahmen aus den Abteilungen Schule & Hochschule, Recht, Finanzen sowie von der externen Beratung von Ernst & Young“, die Hamburgs Generalvikar Ansgar Thim an die katholischen Gremien verteilen ließ. Ziel: Das von einer katholischen Genossenschaftsinitiative angestrebte Rettungsmodell für von der Schließung bedrohte Schulen unter kirchlicher Leitung nach Monaten der Verhandlungen abschließend zu versenken. Das, was der Generalvikar auf 17 Seiten zusammenschreiben ließ, liest sich nicht wie eine Sachbeurteilung durch einen objektiven Moderator, sondern wie das bereits vor dem Prozess geschriebene Urteil der Heiligen Inquisition über Giordano Bruno.

Finanznot und der Rückzug aus der sozialen Verantwortung

Worum geht es? Anfang des Jahres verkündete das Erzbistum Hamburg die Schließung von acht seiner Schulen. Begründung: Angebliche Unfinanzierbarbeit aufgrund Altlasten bei den Pensionsrückstellungen und nicht finanzierbarem Investitionsstau. Zur Begründung legte der Generalvikar des Bistums Ergebnisse eines vorgeblichen Gutachtens der Unternehmensberatung Ernst + Young vor, welches den Eindruck vermittelte, die Katholische Kirche im Norden sei dem Untergang geweiht, würden die Schließungen unterbleiben. Nicht nur aber, dass dieses Gutachten wesentliche Aspekte wie den kirchlichen Immobilienbesitz mangels belastbarer Unterlagen ausblendete – Insider wissen auch zu berichten, dass die Unternehmensberater zu keinem Zeitpunkt auf der Grundlage eigener Ermittlungen des tatsächlichen Finanzstatus agierten, sondern lediglich vom Bistum vorgelegte Zahlen bewertete.

Die Schulen fallen zuerst
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Die Schließungspläne des Bistums stießen auf einen für die Kirchenleitung offenbar gänzlich unerwarteten Widerstand. Hamburgs Katholiken schienen nicht bereit, den Kahlschlag, der in sozialer Asymmetrie insbesondere den finanzschwachen südelbischen Bereich der Hansestadt treffen sollte, hinzunehmen. Für katholische Verhältnisse durchaus machtvolle Demonstrationen, Bittgottesdienste und Protestversammlungen vor dem Bischofssitz schienen die Kirchenfürsten zum Nachdenken zu bringen. Gleichzeitig schlossen sich führende Hamburger Katholiken um den Sozialdemokraten und Kirchenexperten Christian Bernzen und den früheren Kultursenator Nikolas Hill von der CDU zusammen mit dem Angebot, über die Gründung einer Schulgenossenschaftsinitiative (HSGI) in die gemeinsame Verantwortung für die Schulen einzutreten. Es folgten langwierige Verhandlungen zwischen HSGI und Bistum, die bis zum Stichtag, 5. Juli, eine Rahmenvereinbarung dafür entwickeln sollten, wie Bistum und Hamburgs Katholiken gemeinsam den Schulbetrieb sicherstellen können.

Ein Pilotprojekt zur Schulrettung

Im Raum stand ein sogenanntes Pilotprojekt, das nach Auffassung der Genossenschaft die katholischen Schulen in Harburg um das Niels-Stensen-Gymnasium zusammenfassen und so das bewährte Modell eines katholischen Schulangebots von Grund- über Stadtteilschule, bis hin zum Abitur gewährleisten konnte. Doch die Verhandlungen standen von Anbeginn an unter keinem guten Stern. So sollte ein angebliches Investitionsangebot eine der Säulen, die Katholische Grundschule Neugraben, aus der gemeinsamen Solidarität brechen. Doch ebenso unerwartet, wie das Angebot kam, verschwand es wieder. Insider nennen als Begründung, dass dem Investor bewusst wurde: Sein Gesamtpaket würde nicht funktionieren. Denn anders, als von der Kirchenleitung suggeriert, habe es sich dabei nicht um einen „katholischen Gutmenschen“ gehandelt, sondern um einen knallharten Geschäftsmann, der sein finanzielles Engagement im äußersten Südwesten der Stadt dadurch absichern wollte, dass er die attraktiven Schulstandorte in zentraler Harburger Lage in Wohn- und Geschäftshäuser umwandelte. Hätte dieses funktioniert, so wäre der Erhalt des einen Schulstandortes quasi aus der Portokasse bezahlt worden. Doch da hatte die regionale Politik bereits einen Riegel vorgeschoben. Nicht nur die zuständigen Bezirkspolitiker von Union und Sozialdemokratie aller sieben Hamburger Verwaltungseinheiten – auch die Abgeordneten der Bürgerschaft, dem Hamburger Landesparlament, waren übereingekommen, eine Umwidmung der Schulgebäude nicht durchgehen zu lassen.

Grund genug dazu hatten sie: Viele der Grundstücke waren der Katholischen Kirche zum Dumpingpreis überlassen worden, weil die Stadt damit gezielt den Schulzweck befördern wollte. So ging hier die Rechnungen von Vikariat und Investor nicht auf.

Wenn Verhandlungen nur zum Schein geführt werden

Die Genossenschaft schien insofern gute Karten zu haben. Einen Versuch des Bistums, ihnen zum Preis der Schließung des Südens ein unter Sanierungsstau leidendes Schulprojekt im nordelbischen Hamburg-Barmbek aufs Auge zu drücken, lehnten die Katholiken ab. Sie bestanden darauf, die Schulen im Süden zu retten. Dort tagten derweil Lehrer, Eltern und Schüler in Dauersitzungen, um sich über die Pläne der Genossenschaft zu informieren und ihre Bereitschaft zu bekunden, als Pilotschulen an dem Projekt teilzunehmen.

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Spätestens aber die Ablehnung des Barmbeker Angebots dürfte der Punkt gewesen sein, an dem aus Sicht des Vikariats die Verhandlungen zur Farce wurden. Das Bistum ließ die Genossen gleichsam am ausgestreckten Arm verhungern. Zwar kam von Verhandlungsführer Bernzen, der als Schatzmeister der SPD über beste Kontakte in den Hamburger Senat verfügte, nie ein böses Wort gegen seine Gesprächspartner – doch wer mit Personen sprach, die die Verhandlungen gleichsam administrativ begleiteten, dem wurde hinter vorgehaltener Hand mitgeteilt, dass vor allem der Generalvikar alles daran setzte, gemeinsam mit seiner bischöflichen Abteilung Schule und Hochschule den Erfolg der Verhandlungen zu hintertreiben. So wurde seitens des Bistums beständig ein tragfähiges Finanzierungskonzept eingefordert – doch auf die dafür unverzichtbaren Zahlen ließ das Bistum die HSGI lange warten. Als sie endlich kurz vor Abschluss der Gespräche kamen, waren sie wage und unvollständig. So blieb den ehrenamtlich tätigen Experten der HSGI, unter denen sich berufserfahrene Honoratioren aus Schulverwaltung, Finanz- und Gebäudewirtschaft befanden, nichts anderes übrig, als auf Grundlage der in Hamburg durchaus nicht unangemessenen Teilfinanzierung durch die Stadt den Schulbetrieb zu rechnen. Sie taten das mit dem Ergebnis, dass Privatschule in der Hansestadt machbar ist. Zur Finanzierung der angeblich aufgelaufenen Altlasten allerdings konnten sie allerdings nichts sagen. Auch der angebliche Investitionsstau blieb im Ungefähren – die wenigen, hierzu aufgelieferten Zahlen waren unkonkret, nicht nachvollziehbar begründet. Es waren Behauptungen, die zur seriösen Berechnung nicht taugten. So war die HSGI nicht bereit, sich diese Posten ungeprüft und unverifiziert überhelfen zu lassen, auch deshalb, weil beispielsweise das im Zentrum des Pilotprojekts stehende Niels-Stensen-Gymnasium gerade erst sein 15 –jähriges Bestehen feierte – und es für die HSGI keine Veranlassung geben konnte, diese junge, mit einem attraktiven Neubau ausgestattete Schule mit Fehlern zu belasten, die möglicherweise anderen Schulstandorten anzulasten wären.

Die „objektive Information“ des Vikariats

Während die Gespräche noch liefen, verteilte das Vikariat bereits am 15. Juni intern „Informationen“ zum Sachstand – ein Papier, welches sich bereits im Vorwort auf besagte, vorgebliche „Objektivität“ beruft. Es sollte den innerkirchlichen Gremien als Grundlage ihrer Entscheidungen dienen – und es darf nicht verwundern, dass diese Gremien, überwiegend mit Personen besetzt, die weder vom Schulbetrieb in irgendeiner Weise betroffen sind, noch in der Lage wären, Ränkespiele hinter den Kulissen zu durchschauen, zu dem gewünschten, ablehnenden Urteil kamen.
Es ist müßig, dieses umfangreiche Papier hier in seiner gesamten Breite darzulegen.

Doch sei beispielhaft auf eine Passage verwiesen, deren manipulativer Charakter unübersehbar ist. So behauptet das Vikariat, das HSGI-Ziel sei es, die Katholischen Schulen unter „staatliche Schulaufsicht“ zu stellen – womit den katholischen Entscheidern offenbar der Eindruck vermittelt werden sollte, dass damit der kirchliche Einfluss entfiele. Tatsache aber ist, dass alle Privatschulen der Bundesrepublik selbstverständlich schon immer unter staatlicher Schulaufsicht standen – und die Schulgesetzgebung ebenso selbstverständlich für Privatschulen gilt. Zu den Nebelkerzen des Vikariats passt dann auch die Behauptung, dass die Genossenschaft „dem Erzbistum die Trägerschaft abnehmen und die katholischen Schulen lediglich noch in der Tradition als kath. Schulen betreiben“ wolle. Die kirchliche Botschaft: Die Schulen des Pilotprojektes werden durch „Genossen“ zweckentfremdet und entchristlicht. Die Tatsache, dass der HSGI das genaue Gegenteil vorschwebt, wird unterschlagen.

Und so geht es weiter. Den Verhandlungsführern der HSGI werden „objektiv“ Täuschung, Taschenspielertricks und Unfähigkeit vorgeworfen. Angeblich sei keine der finanziellen Vorstellungen der HSGI realisierbar – dass beispielsweise die Hamburger Sparkasse längst ihre Unterstützung zugesagt hat und Mäzene im Hintergrund stehen, die ihr Geld, statt auf Bankkonten Strafzinsen zu zahlen, lieber für die Sache arbeiten lassen möchten, wird ausgeblendet. Kurz: Die „objektive Information“ ist eine Schmähschrift, die im üblichen Geschäftsverkehr dem Verhandlungspartner Verleumdungsklagen hätte aufnötigen müssen. Das Vikariat gibt sich nicht die geringste Mühe, seine feindliche Ablehnung des Versuchs, Schule durch die Betroffenen in Kooperation mit der Kirchenleitung zu gestalten, diplomatisch zu verschleiern und seine Ablehnung des genossenschaftlichen Ansinnens in wohlfeile Worte zu fassen.

Das Selbstverständnis der Kirchenführung

Was aber produzierte auf der Seite der Kirchenführung so viel Ablehnung, dass sie nicht nur die Hoffnungen zahlreicher Schüler zerstört, sondern auch ihren doch eigentlich urchristlichen Auftrag, insbesondere den sozial Schwachen zur Seite zu stehen, konterkariert? Denn – das sei an dieser Stelle erwähnt – die Katholischen Schulen im Süden der Stadt waren und sind alles andere als Instrumente der klerikalen Gehirnwäsche, um obrigkeitstreue Katholiken zu zeugen. Ganz im Gegenteil: Ihre Schülerstruktur ist in jeder Hinsicht kunterbunt. Längst nehmen auch Protestanten und Atheisten dieses Privatschulangebot in Anspruch. Bedeutsamer als das aber ist, dass die Katholischen Schulen sowohl eine wichtige soziale Aufgaben leisten, indem sie Kinder aus sozial schwachen Familien nicht nur durch Schulgelderlass finanziell, sondern auch pädagogisch gezielt fördern. Vor allem aber sind sie wesentliches Element einer erfolgreichen, multiethnischen Integrationsarbeit.
Hamburgs Süden ist wie kein anderes Gebiet der Hansestadt Wohnort zahlreicher Migrantengruppen. Vor allem Osteuropäer, aber auch Mitglieder verfolgter, religiöser Minderheiten aus dem Nahen Osten, Schwarzafrikaner, Vietnamesen und Südamerikaner lernen und arbeiten an den katholischen Schulangeboten problemlos miteinander – ohne Mobbing und Ausgrenzung. Hier vor allem sehen die Pädagogen die christliche Ausrichtung ihrer Schulen: Die Achtung voreinander und die Erkenntnis, unabhängig von Herkunft und Hautfarbe gemeinsam die Zukunft zu gestalten, sind oberste Maxime im Schulalltag.

All das wird nun durch das Vikariat bewusst infrage gestellt. Das verlangt eine Antwort auf die Frage nach dem „Warum“. Diese Antwort ist vielschichtig – und sie viel mit den agierenden Personen zu tun.

Die katholische Diaspora

Über allem steht die Tatsache, dass die Führung des Erzbistums Hamburg nie verstanden hat. Das machte es nicht nur deutlich, als es sich einer Einladung der Bürgerschaft verweigerte und damit in der Politik viel guten Willen verspielte.
Tatsächlich ist die Hansestadt für Katholiken Diaspora. Noch in den Sechzigerjahren des vergangenen Jahrhunderts wurden Katholiken in den staatlichen Schulen gezielt ausgegrenzt. Teilnahme am Religionsunterricht? Ausgeschlossen. Ich kann mich noch gut daran erinnern, wie unsere beiden „Katholen“ in den Materialraum gesetzt wurden, während uns die Vorzüge der Reformation vermittelt wurden. Integration galt damals nicht einmal für Katholiken.

Hamburg war seit 1528 protestantisch – militant protestantisch. Man hatte es nicht mit den „Papisten“ – noch 1805 war der katholische Mariendom, eine gotischer Prachtbau aus dem 13. Jahrhundert, symbolisch geschliffen worden. Hamburgs katholische Bürger zogen erst nach und nach wieder in die Stadt ein. Vor allem die Gründung des deutschen Bundesstaats 1871 ließ Katholiken aus Süddeutschland und dem Rheinland den Zuzug in das Kernland des Protestantismus wagen. Ein weiterer Schub kam nach 1945 – aus Deutschlands Ostgebieten vertriebene Katholiken fanden auch den Weg in die Hansestadt. Doch weil sie die Ausgrenzung – heute würde man vermutlich von Rassismus sprechen – durch jene, die schon länger dort lebten, schnell spürten, gründeten sie schon früh und noch vor dem Entstehen eigener Gemeinden eigene Schulen. Diese katholischen Schulen waren die Wurzeln des hanseatischen Katholizismus, der im Laufe der Jahrzehnte immer mehr Charakterzüge auch des Selbstbestimmungsanspruchs der skeptischen, protestantischen Glaubensbrüder annahm. Hamburger Katholiken waren auch dank ihrer Schulbildung erfolgreich – und ja: Auf den beiden katholischen Traditionsgymnasien nördlich der Elbe pflegte vor allem die Elternschaft noch lange den Nimbus einer auserwählten Elite. Mittlerweile sind Hamburgs Katholiken selbstverständlicher Teil der Stadt, wie nicht zuletzt die Karriere des bekennenden Katholiken Bernzen verdeutlicht, der kein Problem damit hat, bei den eher antipapistisch geprägten Sozialdemokraten als Schatzmeister eine führende Position einzunehmen.

Hamburg nie verstanden

Maßgeblich zwei Faktoren trugen dazu bei, die katholische Diaspora in Hamburg zu überwinden. Zum einen war da das Wirken der Vorgänger des derzeitigen Erzbischofs. Vor allem dem gebürtigen Oberschlesier Weibischof Hans-Jochen Jaschke gelang es mit seiner weltoffenen Art, Katholikentum in Hamburg nicht mehr als Fremdkörper wahrnehmen zu lassen.

Der zweite Faktor ist der stete Zustrom christlich und katholisch geprägter Neubürger aus Süd- und Osteuropa ebenso wie aus Nahost, Schwarzafrika und Südamerika. Für ihre Integration übernimmt die Katholische Kirche in besonderem Maße Verantwortung – und das katholische Kindergarten- und Schulwesen prägt hierbei den Schwerpunkt der Arbeit.

Die Außendarstellung des jungen Hamburger Bischofssitzes lief problemlos, bis 2015 der 1966 in Köln geborene Stefan Heße zum Erzbischof von Hamburg ernannt wurde. Der Doktor der Theologie entstammt einer katholischen Tradition, die ferner der Hansestadt nicht sein könnte. Ist in Köln der Bischof trotz allen Widerspruchs, den seine Äußerungen bei Kritikern erfahren mögen, gleichsam eine der höchsten Autoritäten, so findet ein Bischof in Hamburg in der Öffentlichkeit kaum statt. Zwar gilt er als einer der Honoratioren der Stadt – doch wirkliches Gewicht hat sein Wort nicht einmal bei den Christdemokraten der Hansestadt. Das schmerzt, wenn man daran gewohnt ist, dass der Bürgermeister zum Bischof kommt – und nicht umgekehrt.

Um gleichwohl einen Weg zu seinen neuen Schäfchen zu finden, bestätigte Heße den seit 1998 in Hamburg in der Kirche tätigen Ansgar Thim als Generalvikar – und tat dabei den vielleicht wirkungsrelevantesten Fehlgriff seiner Karriere. Denn Thim hatte zwar 1957 in Krakow am See im schönen Mecklenburg das Licht der Welt erblickt und sollte insofern Zugang zur norddeutschen Mentalität haben – doch seine kirchliche Sozialisation erfolgte unter gesellschaftlichen Umständen, die sein Denken bis heute prägen sollten.

Mehr noch als im bundesrepublikanischen Norden der 50er und 60er Jahre war Katholische Kirche in der DDR tatsächlich Diaspora. Wie weit dieses ging, erfuhr ich, als wir 1990 im Landratsamt Teterow beim Aufräumen zufällig auf die Liste jener Personen stießen, die im Falle einer ernsthaften Krise durch den Arbeiter- und Bauernstaat in „Vorsorgehaft“ genommen und interniert werden sollten. Die frisch gebackene Landrätin staunte nicht schlecht, ihren eigenen Namen an prominenter Stelle zu finden – und das nur deshalb, weil sie dem SED-Staat als praktizierende Katholik bekannt war, die sich in der Gemeindearbeit engagierte.

Den Staat als Feind

Für Thim, der unter diesen Umständen einer als systemfeindlich eingestuften Minderheit sozialisiert wurde, ist der Staat der natürliche Gegner des Glaubens. Auf seiner Tournee durch die zur Schließung anstehenden Schulen wiederholte er mehr als einmal, dass für ihn ausschließlich die Gemeindearbeit Kirche ist. Schule interessiert ihn nicht – vor allem dann, wenn er, wie auf Hamburgs katholischen Schulen üblich, dort keinen ständigen Missionierungsgedanken zu erkennen meint und zahlreiche Schüler ohne katholischen Hintergrund das Angebot nutzen. Insofern war es vielleicht auch der entscheidende Fehler der Hamburger Katholiken, sich zur Rettung der Schulen des Genossenschaftsgedankens bedienen zu wollen.

Genossenschaften sind in Thims Welt jede staatlich verordneten Zwangskollektive, die er als LPG aus seiner Jugend kannte – Inkarnation eines kirchenfeindlichen Sozialismus.

Einen weiteren Grund, weshalb die Genossenschaft von vornherein chancenlos gewesen sei, nennt ein langjähriger Mitarbeiter des Bistums: „Kirche verhandelt nicht. Sie lässt sich bestenfalls zu einem Akt der Gnade bewegen.“ Mit anderen Worten: Hätten Hamburgs Katholiken sich unterwürfig gezeigt und um den Erhalt der Schulen gebettelt statt um ihn zu kämpfen, hätte sich die Bistumsleitung vielleicht dazu bewegen lassen, auf die eine oder andere Schließung großzügig im Namen Gottes zu verzichten. Ein Beleg dafür, dass Teile des Klerus sich auch im vierten Jahrhundert nach Beginn der Aufklärung nicht von ihren mittelalterlichen Ritualen und Herrschaftsvorstellungen haben lösen können.

Machtkampf hinter Kirchenmauern

Doch es geht auch profaner. Tatsächlich tobt hinter den Mauern des Bistums ein Kampf um Macht und Arbeitsplatz. Vor allem die Mitarbeiter in der Schulabteilung bangen um ihren Job, seitdem die Genossenschaft erklärt hat, keinen von ihnen übernehmen und das angedachte Pilotprojekt mittelfristig auf alle katholischen Schulen ausdehnen zu wollen. Dann lieber einige Standorte schließen und mit der Verwaltung des Restes eine Jobgarantie erwirken.

Schwerer allerdings wiegt die Frage, wer im Bistum das Sagen hat. Bischof Heße gilt als schwach. „Er wäre der ideale Dorfpfarrer – als Bischof ist er fehl am Platz“, befand hinter vorgehaltener Hand jemand, der den Verhandlungsprozess von Anfang an im Hintergrund begleitet hatte. Soll heißen: Der Philosoph und Theologe ist ein netter, verbindlich auftretender Mann, dem jedoch die Tragweite politischer Entscheidungen verschlossen bleibt, weil er sich im Goldenen Käfig seiner Klerikalität verbarrikadiert.

Die Richtlinien der Politik im Bistum bestimmt deshalb Thim. Für ihn, der den Schulschließungsprozess in die Wege geleitet hat, wäre ein positiver Abschluss der Gespräche mit der HSGI eine persönliche Niederlage. Deshalb informierte er Heße nur unzureichend über sein Vorhaben, als er ihn beispielsweise in dem Glauben ließ, alle derzeit an den Schulen eingeschriebenen Schüler würden dort auch ihren regulären Abschluss machen können. Von Schülern des NSG darauf angesprochen, dass diese Garantie nur für die Oberstufe gelten solle, war Heße sichtlich irritiert und meinte, er habe das anders verstanden. Immerhin: In Folge dieser Irritation setzte er durch, dass auch die gegenwärtigen fünften Klassen des Gymnasiums dort ihr Abitur machen können. Wie das allerdings funktionieren soll, wenn dann nur noch eine oder zwei Klassenstufen unterrichtet werden – das fragen sich nicht nur Schüler und Eltern. „Der Letzte macht das Licht aus“ muss nicht immer eine ideale Lösung sein.

Wie der Generalvikar dem Bischof alle Verantwortung auflädt

Mit seiner „Zusammenstellung“ schob Thim seinen Bischof faktisch vors Loch. Schlägt Heße wie gewünscht den Ball gegen die Schulen, so gibt er damit gleichzeitig seinen finalen Rückzug aus der politischen Führung des Bistums bekannt. Entscheidet er gegen Thim, wird dieser jede Verantwortung an möglichen Misserfolgen bei der Schulrettung bis hin zum vorgeblich unvermeidbaren Verkauf von Gemeindehäusern und Kirchen ausschließlich seinem Vorgesetzten anlasten.
Heße befindet sich deshalb in mehr als nur einer Zwickmühle. Bleibt er bei der Schulschließung, so ist der mittlerweile brüchige Steg zur Hamburger Politik abschließend in den Abgrund gestürzt. Hamburgs Katholiken, deren zivile Führung mit Bernzen und Hill zwei renommierte Vertreter gefunden hat, werden dem Bischof die Diffamierung durch den Generalvikar als Hazardeure und Strauchdiebe im Zuge des Versuches, selbst Verantwortung für die eigene Bildung zu übernehmen, nicht vergessen.

Schlägt Heße hingegen das unmissverständliche Drängen seines Generalvikars aus, liegt die Last künftiger Verantwortung nicht nur für die Schulen, sondern auch für die angeblich maroden Finanzen des Bistums allein auf seinen Schultern.

Eine letzte Frist zum 5. Juli

Der Erzbischof, der einen zugesagten Gottesdienst anlässlich der 15-Jahr-Feier des Harburger Gymnasiums am 29. Juni kurzfristig mit fadenscheiniger Begründung abgesagt hatte, ließ die Schulleitungen wissen, dass er am 5. Juli seine abschließende und unwiderrufliche Entscheidung verkünden werde. Bereits jetzt, so ist zu hören, soll er bis in den Vatikan hinein Gespräche geführt haben darüber, welches der richtige Weg sein könne, um die Harburger Katholiken, die die größte Gemeinde des Bistums stellen, nicht zu verlieren und gleichzeitig den Alleinentscheidungsanspruch des Klerus nicht zu gefährden.

Sollte Heße bei diesen Gesprächen auf klerikale Traditionalisten getroffen sein, dürfte das Schicksal der Schulen besiegelt sein. Für die steht das Überleben der Institution Kirche vor jeglichem sozialen und gesellschaftspolitischem Engagement.
Sollten Heßes Gesprächspartner jedoch Jesuiten sein, so besteht für die Schulen vielleicht noch ein Rest an Hoffnung. Die Krieger Jesu haben ihre Kirche immer auch als Speerspitze für Bildung und Weltoffenheit verstanden. So ist es auch nicht verwunderlich, dass führende Hamburger Vertreter des Ordens wiederholt vernehmlich und öffentlich heftige Kritik an dem Schließungsvorhaben geübt haben.

Allein stehen sie damit auch in der Kirche nicht. Christel Peters, Ordensschwester und erste Leiterin des Harburger Gymnasiums, befand in einem Schreiben an die Genossenschaft: „Schulen sind das Bindeglied zwischen jungen Familien und katholischer Kirche. Diese Verbindung zu kappen wird die Kirchen mit Sicherheit entvölkern, vor allem aber den (noch) lebendigen Glauben unterminieren.“
Dem ist auch aus nicht-katholischer Sicht nichts hinzuzufügen.

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Kommentare ( 13 )

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Albrecht fragt
6 Jahre her

Muß Thiem angesichts der finanziellen Probleme sich nicht vorwerfen lassen, seinen Job als oberster Verwalter in den letzten Jahren nicht ordentlich gemacht zu haben ? Trägt er nicht die fachliche Verantwortung für die mangelnde Finanzplanung ? Wer übernimmt in der Verwaltung des Bistums die Verantwortung dafür ? Disqualifizieren ihn seine zumindest fragwürdigen Aussagen und sein gesamtes Management dieser Krise, nicht weiter Generalvikar zu sein ?
Könnte seine Zunkunft nicht als einfacher Gemeindepfarrer in Harburg liegen ?

Gerro Medicus
6 Jahre her

Ach ja, ich hatte vergessen, den wahren Grund zu nennen: konfessionelle Schulen sind out, seit der Papst sich zum Islam als gleichberechtigter Religion bekannt hat. Da im Süden Hamburgs diese islamischen Neuankömmlinge besonders stark vertreten sind, möchte man da keine Konflikte und sich „öffnen“. Das darf natürlich nicht zu offensichtlich sein. Daher schafft man dann lieber die ganze Organisation ab.

Gerro Medicus
6 Jahre her

Schickt diese Sachverhalte doch mal an den Papst, mit der Frage, wieso wir als Zivilgesellschaft unbegrenzt Migranten unterstützen wollen, wenn die reiche Katholische Kirche (geschätztes Vermögen weltweit an die 100 Mrd, davon alleine in Deutschland ca. 20 Mrd, im Vatikan 13 Mrd (siehe dazu Publikationen im Stern, in der Welt und der SZ), die allesamt sehr wahrscheinlich viel zu niedrig sind, weil nicht ordnungsgemäß bilanziert wird. So ist der Wert des Kölner Doms in der Bilanz der Erzdiözese Köln mit nur 27 Euro angesetzt!) nicht mal die wenigen Mio Euro für den Erhalt seiner Schulen übrighat? Und dieser Verein muss… Mehr

bkkopp
6 Jahre her
Antworten an  Gerro Medicus

Versuchen Sie doch mit dem ‚Vermögen – Kölner Dom‘ einen Schulbetrieb, oder die Dauerbaustelle‘ Instandhaltung des Vermögenswertes‘ zu bezahlen. Es gibt viele gute Gründe, warum die Katholische Kirche in Hamburg, und anderswo, sozial, und überhaupt, engagiert sein und bleiben sollte – das historische ‚Kulturvermögen‘, mit seinen gigantischen Erhaltungskosten ist aber nicht der Grund dafür.

Marcel Seiler
6 Jahre her

Meine eigene Position ist voll Widersprüchlichkeit: Einerseits denke ich, die Kirche sollte sich auf ihre spirituelle Aufgabe rückbesinnen; das ist ihr Job! Sie sollte keine SPD/Grüne-Vorfeld-Organisation sein wie jetzt. Andererseits bieten nur nominal christliche Schulen die Gewähr, Muslime auszuschließen oder *wirklich* zu integrieren. Sogar viele Gutmenschen-Eltern werden das merken, wenn ihre Kinder woanders verprügelt wurden.

Aus diesem Grund ist mir nicht klar, ob ich die Kirche zur Schulschließung beglückwünschen oder dafür kritisieren soll. Ausweg: Katholische Schulen mit hohem Schulgeld nur für Reiche! Ja, das ist die Lösung.

Marcel Seiler
6 Jahre her

Herr Spahn, können Sie den Artikel nicht auf ein Drittel oder Viertel kürzen? Auch ich halte die Katholische Kirche in Vielem für kritisierbar, aber eine so lange Kritik mag ich meiner knappen Zeit und Aufmerksamkeit doch nicht zumuten.

Axel Fachtan
6 Jahre her

Nun, wer Deschners Kriminalgeschichte des Christentums liest, wird den schwindenden Einfluss von Glaubens- und Wahnsystemen nicht als großen Mangel empfinden.

Wer aber Ordnung schaffen und den Glauben erhalten will, kommt nicht darum herum, durch qualifizierte kirchliche Schulen den Nachwuchs zu sichern und in die Gesellschaft hineinzuwirken. Ein Bischof und seine Presseabteilung werden dazu nicht ausreichen. Gerade nicht in der katholischen Diaspora.

Die Verhinderungstaktik ist ein Baustein zur weiteren Säkularisierung des Nordens.

Marie-Jeanne Decourroux
6 Jahre her
Antworten an  Axel Fachtan

@Axel Fachtan: »Wer Deschners Kriminalgeschichte des Christentums liest, wird den schwindenden Einfluss von Glaubens- und Wahnsystemen nicht als großen Mangel empfinden.« Der Verweis auf Dreschners polemisches »Werk« musste hier kommen – wie der Refrain in fast jedem Beitrag über die Katholische Kirche. Wer sein Weltbild aus der Lektüre von Dreschners ressentimentgeleitetem Oeuvre ableitet, dem ist kaum zu helfen. Jedenfalls legt er kein Zeignis für eigenständiges Denkens ab (vielleicht kann er immerhin seine eigenen Ressentiments damit kühlen). Wissenschaftliche statt »Kriminal«-Geschichte findet sich stattdessen (zum Beispiel) bei Arnold Angeneldt. Sein Buch »Toleranz und Gewalt – das Christentum zwischen Bibel und Schwert« befasst… Mehr

Marie-Jeanne Decourroux
6 Jahre her

Druckfehlerkorrektur: Arnold Angenendt

Marie-Jeanne Decourroux
6 Jahre her

Audiatur et altera pars. (Ich warte auf eine Replik des Hamburger Ordinariats.)

Tizian
6 Jahre her

Wie immer, Nehmen ist seliger denn Geben!

mielforte
6 Jahre her

Welche Position? Im wahrsten Sinne die ganz oben. Also wie geht es mit dem heiligen römischen Reich weiter? Wieviele Schäfchen müssen dazugemischt werden? Wo dürfen sich die Religionen eins auf die Birne geben? Wo nicht? Sollen sie assimilieren oder soll es einen Gewinner geben? Heißt der Gewinner Jesus von Nazareth? Das sind die wirklich wichtigen Fragen und nicht die Bildung im Süden Hamburgs.

MaxxMurxx
6 Jahre her
Antworten an  mielforte

Zu Ihren Fragen: Das „Heilige Römische Reich“, ab ca. 1200 auch „Heiliges Römisches Reich Deutscher Nation“ genannt, bezeichnete die Garantie der Deutschen Kaiser für die Integrität des Papstes nach dem Untergang des Römischen Reiches. Es wurde 1806 unter dem Druck Napoleon Bonapartes aufgelöst. Dieses „Erste Deutsche Reich“, das 806 Jahre lang bestand, führte dazu, das sich das „Dritte Deutsche Reich“, oder auch „Drittes Reich“ genannt (das Zweite war das Kaiserreich von 1871 – 1919), „Tausendjähriges Reich“ nannte, weil es vorhatte, länger zu existieren, als die 806 Jahre des Ersten. Da es seit dem Jahr 1806 kein Heiliges Römisches Reich mehr… Mehr