Türkei: Wie Attentate in die Präsidialdiktatur führen sollen

Das mörderische Attentat in der Türkei ist Höhepunkt einer schrittweisen Übernahme der Macht durch die AKP, die sich immer stärker islamisiert und radikalisiert. Damit ist die Hoffnung ausgeträumt, es könnte eine Art fortschrittliche, westlich-islamische Politik geben. Und die Angst vor Putin schützt Erdogan vor Kritik aus Berlin und Washington.

Als ich 2002 ein längeres, politisches Gespräch mit dem Geschäftsführer einer zentralanatolischen Teppichknüpferei führen konnte, gab es die „Partei für Gerechtigkeit und Aufschwung“ – kurz AKP für „Adalet ve Kalkınma Partisi“ – gerade einmal ein Jahr. Mein Gesprächspartner entpuppte sich schnell als glühender Anhänger dieser Neugründung. Er begründete das damit, dass die Altparteien die Türkei in eine unhaltbare Situation manövriert hätten. Es sei an der Zeit, dass frischer Wind die Entwicklung in der Türkei in eine neue, freie Zukunft führe. Dafür benötige man neue Männer, die nicht aus der alten Elite kämen. Diese vermutete er in der AKP. Hintergrund dieser seinerzeit durchaus berechtigt erscheinenden Überlegungen war ein Totalzusammenbruch der türkischen Wirtschaft im Jahr 2001 gewesen. Nachdem in Folge unterschiedlicher Faktoren wie Kapitalflucht und Staatskrise die türkische Lira freigegeben werden musste, war die Staatsverschuldung explodiert, 21 Banken in den Bankrott gegangen. Ähnlichkeiten mit den aktuellen Situationen in Zypern und Griechenland sind insofern nicht zufällig – und hätten ohne den massiven Einsatz der EU in diesen Ländern zu ähnlichen Konsequenzen führen können.

Die Sammlungsbewegung aus national-religiösen bis religiös-liberalen Kräften, die damals bereits maßgeblich vom gegenwärtigen Präsidenten Recip Tayyip Erdogan geprägt war, entwickelte sich in dieser Situation des Wirtschaftszusammenbruchs im Eiltempo zur führenden politischen Kraft im EU-Anwärterland Türkei. Auch wenn belegbare Zitate Erdogans bekannt waren, in denen er sich als überzeugter, auch militanter Vertreter eines Islamischen Staates offenbarte, schien die Politik der jungen Partei gemäßigt-islamisch und demokratisch. Die aus einer früheren Entwicklungsphase Erdogans stammenden Bekenntnisse wurden schnell als Jugendsünden abgetan. Gerade christlich-demokratische Politiker nicht nur in Deutschland träumten bald von einer wirtschaftsliberalen, islamischen Schwesterpartei – verkennend, dass überzeugte Anhänger des klassischen Islam niemals die Herrschaft des Volkes über die Herrschaft des Koran würden stellen können.

Erdogan schien es tatsächlich zu gelingen, die Türkei aus Niedergang und Lethargie wach zu küssen und der Wirtschaft eine neue, unbekannte Dynamik einzuhauchen. Innerhalb von zehn Jahren konnte er das Bruttoinlandsprodukt auf 840 Milliarden Dollar fast verdreifachen. Gleichzeitig minimierte sich die zuvor galoppierende Inflation auf für türkische Verhältnisse minimale Steigerungsraten zwischen sechs und zehn Prozent. Maßgeblich getragen allerdings wurde das Wachstum durch die expandierende Tourismusbranche, die als Dienstleistungsgewerbe über die Hälfte des Bruttosozialproduktes erwirtschaftete. Die Landwirtschaft hingegen dümpelt mit einem Anteil von knapp über zehn Prozent auf niedrigem Niveau dahin, bindet aber gleichzeitig über 30 Prozent der türkischen Arbeitskräfte – immer noch das klassische Wählerpotential der AKP.

Im Außenhandel hängt das Wohl und Wehe der Türkei von der EU ab: Fast 60 Prozent des türkischen Exports geht nach Europa – und dennoch muss das Land am Bosporus mit einem Leistungsbilanzdefizit von acht Prozent zurechtkommen.

Vom „tiefen Staat“ zur Präsidialverfassung

Innenpolitisch war die bisherige Politik der AKP davon geprägt, das, was man als „tiefen Staat“ bezeichnete, auszumerzen. Insbesondere im Militär vermutete de AKP eine Art Geheimorganisation, die durch Entlassung und Inhaftierung führender Militärs ausgehebelt werden sollte. Gleichzeitig sorgte die AKP durch entsprechende Gesetzgebung dafür, dass die Unabhängigkeit der Justiz zunehmend weniger gewährleistet ist. Unabhängige Journalisten ebenso wie kritische Künstler fühlen sich in der Türkei durch die Staatsorgane zunehmend mehr beeinträchtigt, verlassen das Land. Die junge, städtische Generation, die beispielsweise in den Protesten gegen die Bebauung des Gezi-Parks in Istanbul ihr Recht auf politische Teilhabe artikulierte, wurde durch die Staatsorgane vorsätzlich kriminalisiert.

Erdogan, dessen AKP trotzdem oder gerade deshalb fest im Sattel zu sitzen schien, geriet zunehmend mehr in einen Strudel von Korruptionsvorwürfen und eigener Hybris, die er durch gezielte Einflussnahme in die Justizorgane und die Durchdringung der Medien abzusichern sowie durch überdimensionierte Prestigeobjekte wie seinen 40.000 Quadratmeter-Palast in einem Schutzgebiet bei Ankara zu präsentieren suchte. Zunehmend unverhohlener strebte Erdogan ein Präsidialsystem an, welches ihm als Präsidenten eine fast schon totalitäre Macht einräumen sollte. Die Absicherung seines Zieles sollte ihm die Wahl zur 25. Großen Nationalversammlung im Juni dieses Jahres bringen. Doch die AKP sollte die angestrebte absolute Mehrheit deutlich verfehlen, verlor 8,9 Prozentpunkte und fiel auf eine Zustimmung von 40,9 % zurück. Neu in das Parlament zog trotz einer Sperrklausel von zehn Prozent die kurdisch-sozialdemokratische „Partei der Völker“ (Halklarin Demokratik Partisi) des charismatischen Selahattin Demirtash in das Parlament ein – und stellte damit Erdogans Traum von einer maßgeschneiderten Dauerherrschaft nachhaltig in Frage.

Zeitgewinn durch Neuwahlen

Die AKP war auf einen Koalitionspartner angewiesen – und ließ erwartungsgemäß die einberaumten Koalitionsgespräche platzen, um mit einer AKP-dominierten Minderheitsregierung in nunmehr für den November anberaumte Neuwahlen zu gehen. Nichts allerdings spricht angesichts der Situation dafür, dass sich das Ergebnis deutlich zu Gunsten der AKP ändern wird. Ganz im Gegenteil hatte die Demirtash-Partei mit 13,1 % der Stimmen den Beweis angetreten, die hohe Zugangshürde überwinden zu können, sodass sie nunmehr nicht nur für die Kurden des Landes interessant wurde, sondern auch für die säkular ausgerichtete, junge Generation zum Hoffnungsträger avancierte.

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