Müssen wir immer differenzieren? Oder ist das nicht eher eine Ausrede davor, nicht sehen zu wollen was offensichtlich ist?
Der Kardinalsvorwurf in unserer Talkshowkratie ist der Vorwurf, oberflächlich zu sein – eine Begleiterscheinung jener „Simplophobie“, die ich mir in Teil 1 vorgeknöpft hatte. „Wir müssen differenzieren“, heißt es allerorten, egal worum es gerade geht. Es gebe schließlich nicht „die Arbeitslosen“, „den Flüchtling“, „die Presse“, „den Muslim“, niemand dürfe in Sippenhaft genommen werden, man kann doch nicht alle über einen Kamm … Noch mal: „Wir müssen differenzieren, Halleluja!“ Müssen wir? Drei Punkte zum Nachdenken:
- Das Differenzierungsdogma schreitet durchweg einher mit der Bemerkung, dass ja die „Mehrheit der XY“ total friedlich sei, anständig, verlässlich oder was auch immer. Doch was bringt das Identifizieren von Übeltätern als Teil einer Minderheit und demgemäß die Seligsprechung der entsprechenden Mehrheit? Stellen wir uns vor, morgen begehen 12 Chinesen ein religiös motiviertes Attentat mit vielen Toten. (Ich hab’ jetzt einfach mal Chinesen genommen, ich hätte für dieses Terror-Beispiel auch Holländer nehmen können oder Dänen oder Australier oder … äh, na ja.) Einen Tag später machen 12 andere Chinesen irgendwo anders auf der Welt genau das gleiche. Und am Tag drauf wieder ein Massaker verübt von anderen Chinesen irgendwo auf der Welt. Stellen wir uns vor, es passiert JEDEN TAG, dass eine stets neue Gruppe Chinesen irgendwo Leute killt und dabei religiöse Bekenntnisse verlautbaren lässt, sagen wir 50 Jahre am Stück. Irgendwann würde jeder Vernünftige schlussfolgern: Es gibt ein Problem mit Chinesen! Aber: auch in diesem Extremfall, wenn 50 Jahre lang täglich wechselnde Chinesen Terrortaten verübten, wäre noch immer die überwältigende Mehrheit der Chinesen total friedlich und hätte sich nichts zu schulden kommen lassen. Das Mehrheitsargument ist also unkaputtbar und darum nicht hilfreich, demgemäß ist hier der Vorwurf der Oberflächlichkeit nicht stichhaltig.
- Paradoxerweise ist dieselbe Oberflächlichkeit sehr wohl erlaubt, wenn die richtige Richtung eingehalten wird: „die Banker“, „die Manager“, „die Neoliberalen“ und erst Recht „wir Deutschen“, das darf gesagt werden und gilt nicht als oberflächlich, da muss keineswegs differenziert werden. Auch dann nicht, wenn es sich wie bei „wir Deutschen“ um eine Generation handelt, deren Vertreter größtenteils unter der Erde liegen.
- Wo hat man den besten Gesamtüberblick? An der Oberfläche! Wer diese zu lange meidet, verliert Beurteilungsfähigkeit. Unsere „Simplophobie“ lässt uns in Deutschland den Dingen so tief auf den Grund gehen, bis wir nicht mehr wissen, wie es an der Oberfläche aussieht – doch nur dort, an der Oberfläche, sind Zusammenhänge erkennbar. Aber hey, wen interessiert schon so was Altmodisches wie ein Zusammenhang? Schauen Sie sich an, für welche Kinkerlitzchen heute Doktortitel verliehen werden, schauen Sie nur auf’s Deckblatt: „Die Eisenwarenindustrie in Ostwesfalen-Lippe zwischen 1969 und 1972 unter besonderer Berücksichtigung der Einführung des Farbfernsehens – Schwerpunkt: Spiralschrauben (bis 3 mm).“ 850 Seiten! Und wenn dieser Experte dann gefragt wird: „Was war denn sonst noch los in der Branche damals?“, so heißt es: „Keine Ahnung, ist nicht mein Spezialgebiet.“ Ein Phänomen mit Tradition. Ich zitiere immer wieder gern aus einem Buch von Willy Hellpach (Arzt und Politiker) aus dem Jahre 1928: „Der Deutsche ist ein geborener Spezialist. Er starrt auf einen kleinen Sektor und sucht diesen mit einer Unermüdlichkeit der Detaillierung ab, die kaum ihresgleichen kennt. Selbstverständlich wird das mit einer Blindheit gegenüber allem erkauft, was außerhalb der begrenzten Aufgabe liegt. So kommt es dann, dass der Realismus des Deutschen immer etwas Kurzsichtiges an sich hat.“ Zeitlos präzise, der Mann!
Zu viel Expertitis!
Wir leiden nicht unter zu viel Oberflächlichkeit, im Gegenteil, wir leiden unter exzessiver Expertitis! Mein Bochumer Opa hat früher gern gesagt: „Datt is‘ auch so ’n Experte, doh!“ Das war kein Kompliment! Es hieß übersetzt: „Der hat keine Ahnung“. Oft sagt meine Mutter, wenn sie das neuste Maischberger-Konzert sieht: „Das klingt alles so gut, was die schlauen Leute da sagen!“ Ja, Mama, klingt gut, aber (und jetzt kommt was für Zitatebücher von mir): Man darf eine Arschgeige nie mit einem Cello verwechseln!
Wie weit kann man differenzieren? Wann ist endlich ein Atom erreicht, ein „Bis-hierhin-und-nicht-weiter“, das eine sachliche Analyse ermöglicht? Ich sage: NIE! Vor zwei Wochen hatte ich die Ehre, eine Gesprächsrunde in einer Essener Kirche zu moderieren, da ging’s um Stadtteilkultur. Ich fragte einen der Diskutanten, ob er besorgt sei über die Entwicklung im Essener Norden. Antwort: „Man darf den Essener Norden nicht so oberflächlich zusammenfassen, wie Sie das hier tun – nicht alle über einen Kamm scheren, bitte!“ Ich entschuldigte mich demutsvoll. (Da das Publikum lachte, wusste ich, dass meine Ironie dabei als solche erkannt wurde). Denken wir dies Spiel mal weiter: „Ok, mein Fehler, sprechen wir also nicht über den Essener Norden, sondern nur über den Süden des Essener Nordens.“ – „Ja, ne, auch da gibt’s total viele total unterschiedliche Straßen, die darf man nicht alle über einen Kamm …“ – „Gut, reden wir nur über die Helenenstraße.“ – „Ja, ne, auf der Helenenstraße stehen fast 200 Häuser, darf man nicht alle über einen Kamm …“ – „Verstanden, dann nehmen wir nur die Hausnummer 26b.“ – „Da haben wir aber fast 20 verschiedene Wohnparteien …“ – „Ok, ok, reden wir nur über die Wohnung Parterre.“ – „Geht nicht, da wohnt ’ne Großfamilie, und die Menschen kann man doch nicht alle über einen Kamm …“ – „Ja, ich hab’s geschnallt! Dann nehmen wir einfach ausschließlich den ältesten Sohn in der Parterrewohnung Helenenstraße 26b und reden NUR ÜBER DEN!“ – „Geht auch nicht.“ – „Warum nicht?!“ – „Der ist schizophren!“
In Teil 3 geht’s abschließend um Bernhard Brink. Das sollten Sie echt nicht versäumen!
Mehr von und über Ludger K.: www.ludger-k.de
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