Warum uns zu viele Gesetze nicht Recht sein können

Recht ist mehr als das, was im Gesetz steht. Eine unheimliche Gesetzesmachmaschine produziert zwar Paragraphen, aber immer weniger Recht, beschreibt Carlos A. Gebauer - und diese Rechtsetzung erfolgt nach immer fragwürdigeren Methoden.

Einer der schönsten und gleichzeitig doppelbödigsten Sätze der deutschen Sprache lautet: „Darf es ein bißchen mehr sein?“. Der Satz erscheint zunächst höflich, weil er nach einer Erlaubnis fragt. Auch klingt er maßvoll, weil er seinen Gegenstand offenbar nicht übertreiben möchte. Und in allem enthält er auch noch eine Art Verheißung, weil er dem Gefragten irgendein Mehr in Aussicht zu stellen scheint. Gleichwohl ist der Satz moralisch zutiefst problematisch. Denn in seinem Kern birgt er, versteckt, schlichtweg Teuflisches. Die Metzgersgattin nämlich, die uns Kunden diese Frage stellt, ist in Wahrheit weder höflich, noch zurückhaltend. Tatsächlich ist sie erstens träge, weil sie das auf die Waage geworfene Wurstbündel nicht aufwendig entwirren will, und zweitens ist sie simpel interessiert, uns mehr Ware zu verkaufen, als wir eigentlich bestellt hatten. Und das gezielt auf unsere Kosten. Sie könnte nämlich auch, mit mehr Aufwand an Worten und Sätzen, gefragt haben: „Haben Sie den Mut, mir laut und vernehmlich vor allen anderen Kunden im Laden zu widersprechen, wenn ich versuche, Ihnen etwas tiefer in Ihre Tasche zu greifen?

Und möchten Sie wirklich darauf bestehen, dass alle anderen Kunden hier noch länger wartend anstehen müssen, während ich, alleine im Dienste Ihres Geizes, Gramm für Gramm, das Wurstgewicht auf der Waage wieder minimiere?“. So gewendet, bliebe nichts von Höflichkeit, Maß oder Vorteil für den Gefragten. Und genau das ist auch der Grund, warum wir Wurstkäufer diese Sätze von der Fleischerfrau noch nie gehört haben.

Warum Recht und Gesetz?

Auch in anderen Lebenszusammenhängen begegnen uns vergleichbare Sätze, die wir in aller Regel für harmlos und akzeptabel halten, ohne uns je ihren eigentlichen Bedeutungskern zu verinnerlichen. Diese Gedankenlosigkeit kann an diesen anderen Orten aber massiv dazu führen, dass man mehr verliert als nur ein paar Münzen in der Schlachterei. Im allgemeinen Rechtsverkehr und unter Staatsbürgern ist beispielsweise die Rede verbreitet, man wolle sich „an Recht und Gesetz halten“.

Warum aber will man das eigentlich? Warum an beides? Warum genügt es nicht, gesetzestreu, und warum reicht es nicht, rechtschaffen zu sein? Gibt es am Ende Unterschiede zwischen Recht und Gesetz? Und kann ein Gesetz vielleicht gar selber Unrecht sein? Wer einmal entdeckt hat, dass es einen solchen Unterschied zwischen Recht und Gesetz tatsächlich gibt, der steht von diesem Zeitpunkt an vor der nicht mehr tilgbaren Aufgabe, beides für sich selbst, in Abgrenzung des einen vom anderen, zu definieren. Denn ohne diese Klärung ließe sich der vormals noch naive Anspruch, unbedachtsam sowohl das Recht als auch das Gesetz in tumber Einheit respektieren zu können, nicht mehr aufrechterhalten. Viele Bürger des sogenannten „modernen Staates“ leben heute weitgehend in der Vorstellung, das Recht setze sich aus der Gesamtheit aller derjenigen Gesetze zusammen, die der Staat in einem ordnungsgemäßen Verfahren beschlossen, erlassen und verkündet habe.

Tatsächlich aber sind das Recht und seine Regeln viel älter als es irgendein Staat heutiger Prägung wäre. In der europäischen Tradition des menschlichen Miteinanders gab es seit jeher Rechtsregeln, die ihren Ursprung in althergebrachten Bräuchen und Traditionen hatten. Was Menschen seit unvordenklichen Zeiten für richtig erkannt und immer wieder über Generationen praktiziert hatten, genau das galt ihnen als Recht. Und weil es seit jeher Konflikte an der Wurzel zu vermeiden oder in den Verästelungen zu entwirren half, genau deshalb war dieses Recht auch allgemein als das richtige akzeptiert. Kurz: Das Rechte war das Richtige und das Unrichtige das Unrechte.

Eigentum ist nicht gleich Eigentum

In seiner Anbindung an das Unvordenkliche, Überzeitliche fand sich demgemäß auch ein nur allzu naheliegender Bezug des Rechtes zu gelebter Religion und allgemeiner Moral. Die biblischen Tötungs-, Diebstahls- und Begehrensverbote des Dekaloges beispielsweise, als faktisch überkulturelle, elementare Grundregeln für ein friedlich funktionsfähiges Gemeinwesen, bestanden lange, bevor moderne Staatsverfassungen – je nach der weltanschaulichen Grundausrichtung ihrer Verfasser mal mehr und mal weniger ernsthaft – erklärten, sie seien es, die das Leben und Eigentum der Bürger schützten. Ein kurzer rechtsvergleichender Blick erhellt diesen Zusammenhang. Während Artikel 26 der Schweizer Bundesverfassung beispielsweise noch heute formuliert: „Das Eigentum ist gewährleistet“, klingt Artikel 14 des bundesdeutschen Grundgesetzes von 1949, nahezu wortgleich mit der vorangegangenen Weimarer Reichsverfassung von 1919, ganz anders: „Das Eigentum und das Erbrecht werden gewährleistet. Inhalt und Schranken werden durch die Gesetze bestimmt“. Die Abweichung im Wortlaut scheint klein, ist aber in der Sache durchaus wesentlich. Die Schweizer Verfassung sieht das Eigentum nämlich noch als eine vorgesetzliche Größe, die aus sich heraus verständlich ist und deshalb auch keiner erläuternden Definition durch den Gesetzgeber bedarf. Zum Unterschied hiervon will das deutsche Grundgesetz sowohl den Inhalt des Eigentums als auch seine Schranken exklusiv staatlicherseits durch Gesetze definiert wissen.

Noch weiter ging die DDR-Verfassung vom 7. Oktober 1949 in ihrem definitorischen Machtanspruch. Sie bestimmte in Artikel 22: „Das Eigentum wird von der Verfassung gewährleistet. Sein Inhalt und seine Schranken ergeben sich aus den Gesetzen und den sozialen Pflichten gegenüber der Gemeinschaft.“ Und der Ost-Berliner Verfassungsartikel 89 stellte dazu gleich noch klar: „Ordnungsgemäß verkündete Gesetze sind von Richtern auf ihre Verfassungsmäßigkeit nicht zu prüfen.“ Der ursprünglich ganz unbedingte, im Dekalog biblisch gebotene Eigentumsschutz verdünnte sich im Laufe der Geschichte auf diese Weise zu einer staatlichen Gewährleistung gerade noch derjenigen individuellen Machtpositionen, die der jeweils definierende Verfassungsgeber als bürgerliches Eigentum hinzunehmen bereit ist.

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