In seinem erstmals 1973 veröffentlichten Roman „Das Heerlager der Heiligen“ nahm der französische Schriftsteller Jean Raspail die Flüchtlingskatastrophe unserer Tage in prophetischen und verstörenden Bildern vorweg. Zusammen mit Michel Houellebecqs schockierendem Roman „Unterwerfung“ bildet es ein Diptychon des europäischen Untergangs.
Linke Dystopien, das heißt Anti-Utopien, werden gerne sprichwörtlich, über rechte Dystopien traut man sich hingegen nicht zu sprechen, selbst wenn man der Meinung ist, daß sie Wesentliches benennen oder neue Denkschneisen ins postmoderne Dickicht schlagen. Orwells „1984“ oder Huxleys „Brave new world“ sind linke Dystopien. Diese Bücher kennt jedes Kind. Beide sind Pflichtlektüre in der Schule. Sie gehören zum staatsbürgerlichen Bildungskanon der Generation „Datenschutz“. Ernst Jüngers „Arbeiter“, Oswald Spenglers „Untergang des Abendlands“ und auch Alexander Solschenizyns „Archipel Gulag“ hingegen werden immer noch hinter mehr oder weniger vorgehaltener Hand empfohlen. Warum? Es sind „böse Bücher“.
Zu diesen „livres maudits“, auf die man sich nur ungerne öffentlich beruft, gehört auch der 1973 erschienene und seitdem in vielen Sprachen weit über hunderttausend Mal verkaufte Roman „Le Camp des Saints“ („Das Heerlager der Heiligen“) des französischen Reise- und Abenteuerschriftstellers Jean Raspail (Jahrgang 1925). Wer dieses Buch heute in der Pariser Metro liest, läuft Gefahr, als „Rassist“ beschimpft zu werden. Wer dieses Buch in einer Zeitung thematisiert, der muß damit rechnen, als ein Autor des rechten Flügels eingeordnet und entsprechend sanktioniert zu werden. Raspail hat das voraus geahnt. Er hat gesagt, er sei um das Thema herumgeschlichen „wie ein Hundeführer um eine Paketbombe“. Ein Buch, vor dem sein eigener Autor Angst hat – das kann nichts anderes sein als die Definition eines „livre maudit“.
Schreibender Abenteurer
Jean Raspail ist ein bekennender Monarchist mit Wurzeln in der Pfadfinderbewegung, der sich seine historische Fantasie bewahrt hat. Man lese nur seinen schönen Romans „Sire“ aus dem Jahre 1991, in dem die Monarchie ins heutige Frankreich zurückkehrt. Er gehört jener zutiefst französischen Gattung der écrivains voyageurs an, jener Gruppe vagabundierender Abenteuerautoren mit Tiefgang, Stil und Kultur. Raspail hat viele Jahre mit Reisen verbracht und einfühlsame Bücher über fremde Kulturen geschrieben. Seinen strengen moralischen und politischen Standpunkt hat er dabei nicht verlassen. Im Gegenteil: Je mehr er reiste, desto genauer wußte er, wer er war. Von sich selbst sagt er mit anti-ökumenischer Verve: „Ich bin Katholik, kein Christ“.
Das „Heerlager der Heiligen“ ist sein bekanntestes und erfolgreichstes Buch. Es schildert den Untergang und die freiwillige Unterwerfung Frankreichs unter eine Flut von Immigranten aus Indien. Das Land, aus dem die Fremden kommen, ist nur ein Platzhalter. Es könnte auch ein afrikanisches oder lateinamerikanisches gemeint sein, hält Raspail fest. Das Buch erzählt, wie eine Million ausgehungerter und kranker indischer Immigranten an der französischen Mittelmeerküste landet – an einem Ostersonntag, nachdem die Flotte vierzig Tage auf den Wüsten der Weltmeere umherirrte. Eine ins Negative gewendete Ostersymbolik durchzieht den ganzen Roman wie ein dunkler Basso Continuo. Die Ankunft der Flüchtlinge versetzt Kirche, Politiker und Journalisten in einen kollektiven Rausch des Gutmenschentums, der durch das postkoloniale schlechte Gewissen weiter angestachelt wird. Es ist ein Leichtes, unsere heutige Situation darin wieder zu erkennen. Die Immigranten gehen an Land und nehmen den ganzen französischen Süden in Besitz. Friedlich und gewaltfrei. Die Soldaten der Grande Armée desertieren. Die weiße Bevölkerung flieht nach Norden. Denn das Abendland hat keine Kraft mehr, sich zu wehren. Es ist saft- und kraftlos. In den südfranzösischen Städten werden die verbleibenden weißen Frauen in Bordelle für die Inder gesteckt. In den Großstädten brechen Rassenunruhen aus. Ende.
Das 1984 der Rechten
Raspails Buch ist, wenn man so will, das „1984“ der Rechten – ein Abgesang auf das christliche Abendland, so wie Orwells Zukunftsroman ein Abgesang auf die Freiheit (oder den Mythos der Freiheit) war. Doch während bei Orwell die Bedrohung von innen kommt, aus der eigenen Gesellschaft, droht bei Raspail der Untergang von außen, durch das, was der Autor das „Fremde“ oder das „Andere“ nennt. Bei Orwell ist es der (sozialistisch verstandene) große Bruder, das Mitglied der eigenen Familie, der auf einmal außer Kontrolle gerät und zum gefährlichen Feind mutiert. Bei Raspail ist es nicht „The big Brother“, sondern „The Big Other“ – das große Andere –, das den Feind darstellt. „The Big Other“ – so überschrieb Raspail das Vorwort zur Neuausgabe seines Buches im Jahre 2011, die übrigens wochenlang auf Platz eins der französischen Amazon-Verkaufsliste stand.
Und seit kurzem befindet sich Raspails Buch auch auf der deutschen Amazon-Seite an vorderster Stelle. Die erste Auflage ist bereits vergriffen. Erschienen ist die Ausgabe im Verlag Antaios, dessen Verleger Götz Kubitschek sich selbst dem rechten Spektrum zuordnet.
Das Buch hat eine direkte Wucht, die dem allergrößten Teil der aktuellen Literaturproduktion abgeht. Es ist relevante Kunst. Doch der Roman hat noch andere Qualitäten. Man kann es als schwarze Komödie lesen. Oder auch als theologisches Manifest. Die negative Dynamik des Abendlands, deren unbarmherziges Ablaufen Raspail vorführt, ist nicht nur ein gesellschaftliches Geschehen, sondern ein metaphysisches. Indem das Abendland untergeht, weil es nicht mehr an sich und an seinen Gott glaubt, erfüllt sich ein endzeitliches Muster.
Die französische Neuauflage des „Heerlagers“ gab auch dem französischen Autor Michel Houellebecq eine Steilvorlage. Dieser denkt in seinem vor kurzem erschienenen Roman „Unterwerfung“ die Geschehnisse, die Raspail im „Heerlager der Heiligen“ schildert, konsequent zu Ende. Houellebecqs Roman, der im Jahr 2022 spielt, schildert, wie aus Frankreich eine moderate muslimische Demokratie wird, weil das Volk unter allen Umständen eine rechte Präsidentin Marine Le Pen verhindern will, deren Partei, der Front National, nur durch einen Schulterschluß der Sozialisten mit den Islamisten zu stoppen ist. Die Menschen dieses Landes haben – so zeigt das Buch – keine Werte mehr, die es zu verteidigen gilt. Die Männer können sich mit der Etablierung eines religiösen Staates gut arrangieren, weil er ihre Bedürfnisbefriedigung fördert: mehr Geld, eine Frau für die Küche, zwei Frauen fürs Bett. In einem Interview mit dem „Spiegel“ beschreibt Houellebecq diese Entwicklung als den historischen Endpunkt einer Bewegung, die mit der Französischen Revolution einsetzte: „Ich glaube, daß ein historischer und politischer Zyklus, der mit der Französischen Revolution 1789 begann, sich dem Ende zuneigt. Das republikanische Modell mit seinem Freiheits- und Gleichheitsideal zerbricht. Es hat den Menschen ein Versprechen gegeben, das es nicht halten kann. Wir wohnen einer Rückkehr des Religiösen bei. Ein Paradigmenwechsel, ein Prozeß der Respiritualisierung ist im Gang. Das Glaubens- und Wertesystem verändert sich. Eine Gedankenströmung, die mit der Reformation begann und mit der Aufklärung ihren Höhepunkt erreichte, ist dabei, zu erlöschen.“
Der französische Selbstmord?
Die epische Konstruktion des Romans, die dieses Erlöschen anschaulich macht, ist äußerst geschickt angelegt. „Unterwerfung“ (die wörtliche Übersetzung des Wortes „Islam“) ist in der Ich-Perspektive geschrieben. Der Protagonist ist ein Literaturwissenschaftler an der Sorbonne, der auf den katholischen Autor Huysmans spezialisiert ist. Er arrangiert sich mit dem Islam, um sein materialistisches Lebenskonzept zu retten. Seine Existenz ist die postmoderne Karikatur des Huysman’schen Helden Floressas Des Esseintes, eines Ästhetizisten, der im Roman „Gegen den Strich“ ein Leben der Dekadenz und äußersten sinnlichen Verfeinerung führt, das er der Verflachung der Welt und der Gesellschaft entgegenhält. In „Unterwerfung“ ist dieses extravagante Leben aber nur noch als Schwundstufe möglich: An die Stelle des Fin de Siècle-Ästhetizismus tritt bei Houellebecq der industrielle Materialismus der Mikrowellenprodukte und des gekauften Sex. Immer wieder scheint in der satirischen Dekonstruktion des Optimismus dabei auch die Blaupause des Voltaire’schen „Candide“ hindurch. Es ist aber auch nicht falsch, sich bei der Lektüre dieses gerade in seiner pragmatischen Fatalität so bitteren Buches an den Bestseller „Le suicide français“ (Der französische Selbstmord) von Eric Zemmour erinnert zu fühlen, der zur Zeit in Frankreich die Verkaufslisten anführt.
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