DER SPIEGEL Nr. 4 – Links unten

Warum sich SPD, Grüne und Linke neu erfinden müssen. Wenn sie denn können.

Mir kommt gerade der Gedanke, dass so manche Spiegel-Ausgabe möglicherweise nichts anderes ist als eine Therapiesitzung: Immer wenn die Redaktion an der SPD oder „der Linken“ (wen auch immer sie dazu zählt) leidet, müssen die Leser auf die Coach und sich das Gejammer anhören beziehungsweise lesen. Diese Woche ist es wieder so weit.

Was soll man auch anders machen? Die Abstimmung der SPD-Delegierten nach quälenden Groko-Sondierungen – am Sonntagabend wird der politische Teil des Spiegels Makulatur sein. Da kommt die Idee von Sahra Wagenknecht, eine neue linke Bewegung aus der Taufe zu heben, gerade recht – das linke Herz mit Ablenkung wärmen. Ausgerechnet Sahra Wagenknecht und Oskar Lafontaine, die Spalter schlechthin, wollen etwas vereinen. So unausgegoren die Idee ist, so unausgegoren wird das Thema in der Titelgeschichte „Die Abgehängten“ behandelt: Schmoren im eigenen Saft, wühlen in alten Geschichten und zitieren eigener Geschichten, anstatt eines Feuerwerks aus Vordenkerstimmen. Wo auf den Kultursoziologen Andreas Reckwitz und die Bertelsmann Stiftung Bezug genommen wird, handelt es sich um auch nicht mehr frische Veröffentlichungen. Exklusivität? Fehlanzeige.

Wer nun gedacht hätte, dass die Redaktion die Gelegenheit beim Schopf ergreift, im Gespräch mit Martin Schulz das Thema anzugehen, sieht sich enttäuscht. In einer müden Tour d´Horizon mit Dirk Giesemann – der Titel „Zur Selbstironie fähig“ ist keine Beschreibung des Inhalts, sondern eine gebetsmühlenhaft vorgebrachte Selbstbeschreibung – darf der SPD-Vorsitzende sein Sondierungsergebnis verkaufen: Die SPD will das Leben der Arbeitnehmer mit niedrigen Einkommen, der Senioren mit kleinen Renten, den Azubis, Familien und Alleinerziehenden verbessern. Nichts Neues also. Die SPD neu erfinden? Keine Frage der Redaktion dazu. Dann muss Schulz auch nicht antworten.

Ob und wem die Verhandlungsdetails aus den Sondierungsgesprächen helfen, die unter der Überschrift „Dann ist Schluss“ preisgegeben werden, sei dahingestellt. Stimmungskiller bei der Sondierung sei vor allem ein rüde agierender Alexander Dobrindt gewesen, der beim hessischen Ministerpräsidenten Bouffier damit Minuspunkte gesammelt habe.

Schrumpfsozialdemokraten Partei Deutschland
Vor der GroKo: Weine nicht, kleine SPD
Fragwürdig ist das konstruierte Titelstatement aus zwei Gründen. Erstens ist fraglich, ob sich die Grünen selbst dort sehen. Allein die Tatsache, dass man das Portrait über Robert Habeck unterm Titel verbucht, macht es inhaltlich nicht passend. Erst recht die Überschrift „Der grüne Trudeau“ lässt Zweifel aufkommen, steht Justin Trudeau doch einer sozialliberalen Partei vor. Zweitens gibt es keine einzige Partei im Bundestag, die sich nicht dringend neu erfinden müsste. Auch die FDP merkt in ihren Freudentänzen um die angebliche eigene Erneuerung nicht, wie sehr sie Mechanismen aus Westerwelle-Zeiten perpetuiert und wie wenig neu ihr eigenes Denken und Handeln ist.

Auch das Politikverständnis des Spiegels bedarf eines Erneuerungsprozesses. Das alte Rechts-links-Denken hat ausgedient in Zeiten, in denen das Handeln von Brüchen gezeichnet ist. Links denken, rechts leben – ist weiter verbreitet, als sich viele zugestehen möchten.

Gelungen finde ich im Wirtschaftsteil den Beitrag „Kettenreaktion“ über Blockchain. Frank Dohmen, Alexander Jung und Marcel Rosenbach erklären anschaulich, wie die Technologie, die durch den Bitcoin-Hype bekannt wurde, Unternehmen verändern könnte und wo jetzt schon Verbraucher davon profitieren.

Nicht alles, was vehement als Zukunft verkauft wird, erweist sich als Zukunft. Der Hype der letzten Monate um Roboterautos ist einer Ernüchterung gewichen. „Zukunft. Und dann?“, fragt Simon Hake und geht der Frage nach, ob und wie die Automobilkonzerne künftig damit Geld verdienen können.

Das Interview mit SPD-Ministerin Barbara Hendricks „Spekulation eindämmen“ als Wirtschaft zu verkaufen, ist grenzwertig. Eröffnet sie doch, im Gespräch mit Anne Seith und Gerald Traufetter, nicht mehr und nicht weniger als das Bedürfnis, den Immobilienmarkt weitgehend regulieren zu wollen. Politische Lenkung statt Wirtschaft – da kommt die Verhandlung der Grundsteuer vor dem Bundesverfassungsgericht gerade recht.

Gerne gelesen habe ich das Spiegel-Gespräch „Einer von uns“ von Lothar Gorris mit Ivan Krastev über die Spaltung Europas am Beispiel Deutschlands. Angesichts Dieselgate und der Unfähigkeit zur Regierungsbildung konstatiert der bulgarische Politologe, dass Deutschland in der europäischen Normalität angekommen sei. Interessant ist seine Perspektive, aus der er als Osteuropäer die Befindlichkeiten der Ostdeutschen nach der Wende bis ins Hier und Heute erklärt.

Süßes zum Schluss: In der neuen Fregatte „Baden-Württemberg“ gibt es Probleme, nicht nur mit der Software. Auch das Radar, die Wasseraufbereitung und die Lebensmittelkühlung geben Fehlermeldungen. Um die Wartezeit der Besatzung voraussichtlich bis zum Herbst zu versüßen, spendierte der Freundeskreis jetzt 20 Kilogramm Fruchtgummis. Das wird die Moral aber mal so richtig heben!

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Kommentare ( 19 )

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Dschauli
6 Jahre her

Was? Soviele aufeinmal müssen sich neu erfinden? – Nun, erfinden Sie den lieben Herrn Gesangsverein à la Martin Schulz (wessen auch immer) einmal neu. An den Linken hängt die Wählerschaft wie an einem Trabbi, der sich trotz schwindender Substanz immer wieder irgendwie aufmöbeln läßt. Daß die Grünen neu erfunden werden könnten, begreift weder deren Wählerschaft und deren Protagonisten am allerwenigstens. Es wäre an ihnen schon reichlich viel neu erfunden, wenn sie sich ideologisch grundlegend entrümpeln würden. Es nimmt sich sagenhaft aus, wieviel überflüssigen ideologischen Ballast, die mit sich herumschleppen. (Berichtigt)

Dschauli
6 Jahre her

Was? Soviele aufeinmal müssen sich neu erfinden? – Nun, erfinden Sie den lieben Herrn Gesangsverein à la Martin Schulz (wessen auch immer) einmal neu. An den Linken hängt die Wählerschaft wie an einem Trabbi, der sich trotz schwindender Substanzlosigkeit immer wieder irgendwie aufmöbeln läßt. Daß die Grünen neu erfunden werden könnten, begreift weder deren Wählerschaft und deren Protagonisten am allerwenigstens. Es wäre an ihnen schon reichlich viel neu erfunden, wenn sie sich ideologisch grundlegend entrümpeln würden. Es nimmt sich sagenhaft aus, wieviel überflüssigen ideologischen Ballast, die mit sich herumschleppen.

Nihil Nemo
6 Jahre her

„Minuspunkte“ bei Bouffier? Ach Gottchen, der Mann hat es doch hinter sich, das kann man sehen. In seiner Karriere kommt nichts mehr und nach dem Hessischen Herbst wird er auch als MP Geschichte sein.

Muller
6 Jahre her

„Ausgerechnet Sahra Wagenknecht und Oskar Lafontaine, die Spalter schlechthin…“ Sahra Wagenknecht ist daseinzige bekannte Gesichter bei den Linken, das nicht voellig von dem „am deutschen Wesen soll die Welt genesen“ Fusel voellig besoffen ist. Eine ausgesprochen intelligente Person. (Waere „eine ausgesprochen intelligente Frau“ eigentlich laut Neusprech sexistisch?)

„Auch das Politikverständnis des Spiegels bedarf eines Erneuerungsprozesses.“
Hier hat der Spiegel (wie auch viele andere Medien) das Problem, dass er zwar liebend gerne geradezu moraltriefend auf der Vergangenheit von anderen herumreitet, aber immer wieder von seiner eigenen, Vergangenheit eingeholt wird. Siehe dazu Wikipedia, Stichwort „Propagandakompanie“.

haumichblau
6 Jahre her
Antworten an  Muller

Wäre Frau Wagenknecht wirklich so intelligent, müsste sie doch irgendwann mal die inneren Widersprüche des Kommunismus bemerken, oder? Oder hält sie doch nur das Geld davon ab?

Muller
6 Jahre her
Antworten an  haumichblau

Es gibt diese inneren Widersprüche bei den Kommunisten ebenso wie bei allen anderen Gesellschaftssystemen und auch Religionen. Und jede Seite hat ihre gemäßigten Vertreter und die Extremisten. Da hat keine einzige Ideologie oder Religion ein Alleinstellungsmerkmal…

Andreas aus E.
6 Jahre her

Die Illustrierte blätter ich schon lange nicht mehr durch – aber immer wieder unterhaltsam diese Kolumne 🙂

Ali
6 Jahre her

Allein das Titelbild des Spiegel zeigt schon, wo man dieses gesinnungsunethische Käseblatt heute definitiv einordnen muss. In die Sowjetunion der 50er Jahre. DDR reicht da schon nicht mehr.

Kevin Altstaden
6 Jahre her

Schade um die vertane Zeit, die Sie der Spiegellektüre geopfert haben.

Wat Nu?
6 Jahre her

Der Grund für das sich noch verstärkende negative Wahlergebnis der SPD ist wohl: „mit uns wird es keine Obergrenze geben der Grund für den Niedergang der Cdu: die atmende Obergrenze, für die Grünen „ich freue mich drauf“ Und für den leichten Anstieg der Stimmen bei der FDP der vor der Wahl verbal nach rächts gerückte Lindner.
Solange der Bürger sich daran erinnert besteht die Chance auf mehr Demokratie. Die Granden wollen es nur noch nicht wahr haben.
Lasst den Schulz weiter reden von Zielen die er mit seinen Freunden ausgeklungelt hat. Allmählich kapiert das auch der Stammwähler von 65plus.

Ja wat nu
6 Jahre her
Antworten an  Wat Nu?

Seien Sie doch nicht so überheblich! Viele Bürger 65minus kapieren nicht, so erlebe ich es 74plus! Traurig, aber wahr. Erst im November hat mir eine Deutsche 60plus vom freundlichen Koran ohne Haß-Suren erzählt!! Unfaßbar!! Es gibt in jeder Altersgruppe vernebelte Gutmenschen und politisch Desinteressierte. Vielen Berufstätigen, auch mit Familie, fehlt einfach die Zeit, sich ausgiebig zu informieren.

Wat Nu?
6 Jahre her
Antworten an  Ja wat nu

Ich wollte ganz gewiss nicht überheblich sein. Dennoch denke ich, dass mehr ältere Wähler – verankert in den „gewerkschaftszeiten, derzeitigen Rentenempfängern usw“ zu den Stammwählern gehören. Das heißt leider nicht, dass es keine jüngeren Wähler gibt, die dank langjähriger medialer Indoktrination ohne eigenes Nachdenken das vermeintlich für sie nützliche wählen. – Aber Zeit ist das nicht was da fehlt. Da fehlt der Wille sich mit unbequemen Themen auseinander zu setzen. Wir sind zu satt. Aber das wird die Groko jetzt ändern. Dann werden diese Leute sich demnächst von ihren Kindern fragen lassen müssen – wie könntet ihr das zulassen? Yep.… Mehr

von Kullmann
6 Jahre her

Der SPIEGEL verbraucht sich mal wieder selbst. Bumm!

Bambu
6 Jahre her

Das Grundproblem der etablierten Parteien ist, dass sie nicht in der Lage sind zu reflektieren, welche Folgen ihre politischen Entscheidungen haben. Die negativen Folgen ihrer Entscheidungen betrachten sie dann bewusst so, dass sie der Ursache nicht auf den Grund gehen, denn damit würde ja deutlich, dass sie selbst das Problem verursacht haben. Im Grunde genommen läuft das immer nach dem gleichen Muster ab und das ist auch der Grund, warum die Parteien in ihrem eigenen Saft schmoren. Verantwortungsbewusstes Handeln sieht anders aus. Da die Journalisten in den etablierten Medien sich meistens ähnlich verhalten, kann man auch dort die gleichen Effekte… Mehr