Migrationsdebatte: Sie verlassen jetzt sicheres Gebiet

Die Deutschen laufen in der Migrationsdebatte vor sich selbst davon und die Migranten werden mit den Flüchtlingen allein gelassen

In eigener Sache ein Beitrag zur Migrationsdebatte: Vor sechs Jahren, etwa auf den Tag genau, reisten ein Teil meiner Familie und ich zur Hochzeit meiner ältesten Nichte nach Paris. Der Sommer 2009 war unfassbar heiß. Stellenweise schmolz der Asphalt in der Stadt. Abkühlung fand man nur in Kaufhäusern oder Restaurants und Cafés. Paris, ein Glutofen.

Die standesamtliche Trauung meiner Nichte fand im Rathaus eines Stadtteils von Paris statt, etwa 30 Minuten vom Stadtzentrum entfernt. Leider kann ich mich an den Namen des Arrondissements nicht mehr erinnern. An was ich mich erinnere, ist, wie toll dieses Standesamt ausgesehen hat. Eine hohe Halle, sehr reich mit Stuck verziert. Die Stühle allesamt rot gepolstert, ein roter Teppich, große Fenster, die viel Licht hineingelassen haben. Wirklich feierlich. Toll.

An die beleibte Standesbeamtin erinnere ich mich, die mit Schärpe der Stadt – und in Schlappen – den Saal betrat, um meine Nichte und ihren Verlobten zu verheiraten.

Ich erinnere mich daran, wie wunderschön meine Nichte ausgesehen hat. Sie steckte in einem weißen, bodenlangen, schulterfreien Brautkleid, mit langem Schleier und allem, was dazu gehört. Ich erinnere mich daran, wie einige Frauen während der Trauung geweint – und wie breit einige andere gestrahlt haben. Die Männer hingegen schienen ungeduldig darauf zu warten, endlich wieder in einen klimatisierten Raum zu kommen.

Meine große Schwester, die stolze Mutter der Braut, hatte der Hitze des Tages trotzend einen hellblauen Hidschab gewählt. Dazu einen bodenlangen, verzierten weißen Kaftan. Und die Temperaturen waren wirklich tropisch!

Neue demoskopische Realitäten

Als die Trauung vorüber war und alle zum gemeinsamen Gruppenfoto vor das Standesamt treten sollten, stellten wir, der aus Deutschland angereiste Hochzeits-Tross von sechs Personen fest, dass wir in einer Riesengruppe Muslime eine kleine Minderheit stellten. Nicht alle Frauen hatten sich zum Tragen eines Kopftuchs entschieden. Die meisten trugen sommerliche, luftige Kleidung, bodenlange Festkaftane, meine jüngere Nichte ein knielanges violettes Kleid. Kinder der Gäste spielten und wollten weder während der Zeremonie, noch während der Gruppenfotos ruhig sein oder sich in ihrem Übermut und ihrem Spieltrieb bändigen lassen. Echte Frechdachse mit Schalk im Nacken.

Der zweite Teil der Trauung fand abends statt, in dem Haus des Schwagers meiner Nichte. Das war der traditionelle Teil der Hochzeit. Alle Frauen kamen in einem Raum zusammen, die Männer in einem anderen. Hände und Füße der Braut wurden traditionell mit Henna bemalt, sogenannte Mendhis, anschließend auch die der anderen weiblichen Hochzeitsgäste. Wann immer neue Frauen zur Gruppe hinzustießen, gab es jedes Mal eine lautschallende Ululation, von der mir heute noch leicht der Kopf schwirrt. Der Raum war sehr klein, müssen Sie wissen. Überragende Resonanz. Über 30 Frauen, die alle an der Braut herumzupften, sich nacheinander neben sie setzten, um sich mit ihr fotografieren zu lassen wie mit einer arabischen Cinderella aus Disneyland. Über 30 Frauen, sich laut und aufgeregt unterhaltend, im Hochsommer, in einem kleinen Raum – mit nur einem Ventilator.

Dann wurden meine Nichte und ihr Mann also tradionell getraut. Die Zeremonie ging den ganzen Abend lang. Das junge Brautpaar wechselte fünf Mal die Kleidung, jedes Outfit repräsentierte eine andere Region des Landes, aus denen die Vorfahren stammen. Verschiedene Kaftane und Jellebas. Bunt, opulent, sehr feierlich, wunderschön. Aber was für ein Stress in dieser nicht nachlassenden Hitze. Im Anschluss daran wurde meine Nichte noch in etwas wie einer großen Pralinenschachtel von den Männern geschultert durch die Gegend getragen. Dann, endlich der letzten Kleiderwechsel, die anderen Outfits wieder verpackt und der Hochzeitsplanerin mitgegeben. Gemeinsames Platznehmen des jungen Ehepaars auf dem Thron. Man, man, man. Fünf Mal verschiedene Frisuren und Make-Ups. Ich habe das alles still beobachtet. Meine ehemals kleine Nichte. Jetzt Ehefrau.

Yalla, yalla!

Meine Schwester brachte ein echtes Festmahl aus allerlei arabischen Köstlichkeiten auf die Tische (ich sage Ihnen: die kann kochen wie keine zweite, und das für 65-70 Gäste). Sie hatte zusammen mit der Mutter des Bräutigams bereits zwei Tage vorher mit den Vorbereitungen begonnen. In ihr geschmortes Lamm mit Couscous und Gemüse könnte ich mich reinlegen. Vegetarismus adé.

Bis in die frühen Morgenstunden wurde getanzt, gefeiert, gelacht – und obwohl ich frauenuntypisch wirklich wenig weine, in der Umarmung mit meiner Nichte liefen meine Tränen hemmungslos. Ich glaube, ich habe sogar geschluchzt. Vor Rührung weinen habe ich an dem Tag auch endlich von der Liste streichen können.

Zum Hintergrund dieser Hochzeitsgesellschaft: Der Großteil meiner Familie sind Muslime nordafrikanischer Herkunft. Der Mann meiner Schwester ist Türke. Mein Stiefvater ist Türke. Zwei meiner Cousinen sind Halbtürkinnen. Beide Cousinen haben zwei und drei Jobs. Die ältere von beiden zählt zu den tüchtigsten Menschen, die ich kenne.

Obwohl meine Schwester bereits seit sieben Jahren in Deutschland lebt, hat sie bis heute keine dauerhafte Aufenthaltsgenehmigung – trotz deutscher Mutter. Seit Jahren liegt dieser Vorgang stur beim Amt. Aber wir sind beruhigt, dass sie wenigstens schon mal eine Steuernummer hat.

Was denken Sie? Kann man uns nicht wirklich als bunt bezeichnen?

Vom Muchel zum Michel, ein Buchstaben daneben

Obwohl meine Familie so bunt ist, wie sie bunter kaum sein könnte, stellen wir alle die unkontrollierte Zuwanderung in die Europäische Union, so wie sie derzeit stattfindet, in Frage. Offensichtlich macht uns die, sofern man der veröffentlichten Meinung glauben kann, neuerdings zu „Wegbereitern der Neuen Rechten“. Sie können sich unsere Verwunderung darüber sicherlich vorstellen. Ist das jetzt das Höchste zu erreichende Level der Integration?

Meine Schwester lebt im Ruhrgebiet. In einem Stadtteil mit einem Ausländeranteil von etwa 50%. Wo immer mehr „Flüchtlinge“ hineinströmen, versuchen besser verdienende Migranten wegzuziehen. Das wirkt in nicht allzu stabilen Stadtteilen selbst auf Menschen mit Migrationshintergrund mitunter höchst befremdlich. Auch in der eigenen Umgebung mag man es gerne adrett.

Es wird permanent suggeriert, dass fremdenkritische Ressentiments ausschließlich von Deutschen gegenüber Migranten gepflegt würden. Machen Sie sich darauf gefasst, dass das Undenkbare, das Unmögliche möglich ist: Türkische und arabische Mitbürger geraten immer öfter mit Bulgaren und Rumänen und Männern aus Schwarzafrika aneinander. Und umgekehrt. Natürlich nicht gerade im Prenzlauer Berg, da terrorisiert man bloß die Schwaben und Andersdenkende per Mob in sozialen Medien wie Twitter und Facebook.

Jemand, der sich dem ganzen Thema komödiantisch nähert bzw. auch mal mittenrein schießt, ist Abdelkarim Zemhoute, eines der größten Talente, das der Schmelztiegel Deutschland derzeit aufzubieten hat.

Völkerverständigung in Duisburg: Ein Muslimischer Busfahrer mit 1m Vollbart fährt ca. 20 Schwarzafrikaner, die fast alle eine Bibel in der Hand halten und in die Kirche wollen.

Posted by Abdelkarim on Sonntag, 3. August 2014

 

Aber zurück zum Thema. Da muss man sich heute wirklich schwer wundern. Man erlebt, wie Personen in einem immer kleiner werdenden Kreis immer verbissener und frei von jeder Scham einen Gesinnungs- und Kampagnenjournalismus betreiben, um die Deutungshoheit nicht zu verlieren. Eine andere Meinung als die ihre ist heutzutage rechtsradikal, alt, weiß, männlich, gestrig. Darum gehört sie ausgegrenzt, während man sich dann am Laptop zum Großwesir der Neusprachregelung selbst krönt.

Circle-of-TrustAber all das hat mit der Lebenswirklichkeit integrierter Migranten nicht das Geringste zu tun. Tüchtige und integrierte Migranten werden sowieso argwöhnisch betrachtet. Warum? Weil man uns nicht mehr so leicht ein A für ein O vormachen kann. Weil wir nach Deutschland gekommen sind nicht trotz der Deutschen, sondern ihretwegen. Das einzig Befremdliche an den Deutschen aus dieser Perspektive ist: Dass sie sich selbst so sehr hassen und oftmals die am liebsten haben, die sie auch hassen. Das ist eine Art Verdopplung des Selbsthasses. Während Türken und Griechen gerne Einheimische werden wollen, desertieren die Deutschen vor sich selbst.

Wir sind APO, oğlum

Ganz unaufgeregt: Die Welt, wie Meinungsmacher in den Medien und in der Politik sie vielleicht noch erleben und an der sie so stur festhalten, dass es in diesen Wochen und Tagen beinahe in Hysterie umschlägt: Die hat nichts mit der Realität zu tun. Die Welt bleibt nicht stehen. Sie verändert sich, noch während wir hier sprechen. Während die Deutschen sich also selbst verlassen, fürchten die Neu-Deutschen, dass sie mit den Neu-Migranten alleine gelassen werden; in Räumen, aus denen sich die Polizei wegen Unterbesetzung immer weiter zurückzieht und die Ordnung dadurch immer schwerer gewährleistet werden kann. Dass Stadtteile vollends ghettoisiert werden und verfallen, dort, wo man sich ein Leben aufgebaut hat. Banlieues funktionieren ja schon so gut bei unseren französischen Nachbarn. Aber da hätte man ja gleich da bleiben können, wo man war und wo das Leben nichts war. Und jetzt also holt uns dieses zunehmende Chaos der Länder, die wir verlassen haben, wieder im Ruhrgebiet ein? Welch` Ironie ohne Pointe.

Auch aus diesem Grund dürfen und können wir in dieser Hinsicht eine ernsthafte und offene Debatte über die weitere Gestaltung der Zuwanderung fordern.

Glauben Sie, dass für Menschen mit so einem Migrationshintergrund wie dem meinen, für eine hart arbeitende Verwandtschaft wie die meine, die Kategorisierung in links und rechts, in grün, gelb, schwarz oder rot noch irgendwie von Belang ist? Entspannen Sie sich und lehnen Sie sich zurück: Sie verlassen jetzt die sichere Zone Ihrer Feuilleton- und Twitter-Bubble.

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Kommentare ( 1 )

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Harry James mit Armbrust
7 Jahre her

so ist das nun mal – die Familie der Autorin ist nach Europa geflüchtet, statt daheim etwas zu ändern. Nun kommt ihr daheim ihr hinterher – und was passiert? Es wird erwartet, dass Europa etwas dagegen unternimmt …

Sorry, aber geht doch einfach alle heim – ändert etwas in Euren Heimatländern und lasst uns damit in Ruhe.