Die Katalonien-Krise macht klar: Spanien fehlt es an Streitkultur. Konflikte werden mit Ignoranz oder Wortgewalt gelöst, statt konstruktiv zu debattieren. Die spanische Regierung verliert Glaubwürdigkeit und die katalanische die Beherrschung.
Carmen Leal lebt seit 50 Jahren in Katalonien und hat hautnah miterlebt, wie sich einer der reichsten Regionen des Landes in eine Propagandamaschine entwickelt hat, welche Kinder schon im frühen Alter auf Unabhängigkeit und Hass auf Spanien trimmt und das finanziert mit spanischen Staatsgeldern: „Das Schlimme ist, dass es heute so dargestellt wird, auch in den Schulbüchern, als wäre der Bürgerkrieg ein Krieg Spaniens gegen Katalonien gewesen,“ sagt die mehrfache Buchautorin und Gymnasiallehrerin. Die Linguistin hat auch die spanische Regierung immer wieder auf die Manipulation hingewiesen: „Aber keiner wollte sich da einmischen, jetzt ist es zu spät.“
Referendum ist illegal und nicht transparent
Am 1. Oktober organisiert die katalanische Regierung unter Führung von Carles Puigdemont ein Referendum mit der Frage: „Wollen Sie das Katalonien unabhängig ist in Form einer Republik?“ Diese Befragung ist nicht nur gemäss der spanischen Verfassung illegal, sondern auch absolut intransparent: „Die Menschen werden angelogen und nur halb informiert, genau wie es damals beim Brexit war. Die komplette Frage bei dem Referendum sollte lauten: Wollt ihr unabhängig werden von Spanien und damit aus der EU austreten und als Opfer für die eigene Nation wirtschaftliche Nachteile hinnehmen?“, sagt Ruben Vidal.
Der Künstler hat seine gesamte Kindheit in Barcelona verbracht und muss heute mit Entsetzen zusehen, wie ein Teil seiner Familie und Freunde sich radikalisiert hat. Seine Mutter, die noch in Barcelona lebt, besucht er nur noch im gemeinsamen Haus in La Rioja: „Es schmerzt so sehr, wie sie alles durch eine Nazi ähnliche Gehirnwäsche kaputt gemacht haben. Katalonien war das industrielle und intellektuelle Herz Spaniens, jetzt ist es nur noch ein Haufen von Ignoranten. Ich will dort nicht mehr leben.“ Vidal wohnt heute mit seiner Familie in Berlin.
Der Drang nach Unabhängigkeit der Katalanen begann damit, dass die derzeitige Regierungspartei PP, die 2006 verabschiedete neue katalanische Verfassung, das „Estatut“, vor das spanische Verfassungsgericht brachte und damit 2010 gewonnen hat. Gröβstes Ärgernis für die Konservativen war damals der dortige Begriff der Nation, der in der Präambel des Textes auftauchte. Seit dieser aus katalanischer Sicht Niederlage vor dem Verfassungsgericht stehen Spanien und die autonome Region im wahrsten Sinne des Wortes auf Kriegsfuβ.
Spanien fehlt eine Streitkultur, das fördert Extremismus
Der Fall Katalonien und die Konsequenzen für ganz Spanien sind beispielhaft für die geringe Streitkultur, die in dem Land vorherrscht. Entweder werden Unannehmlichkeiten unter den Teppich gekehrt, oder es wird wild drauf losgeschrien. Da Kinder tendenziell verhätschelt werden, sind viele als Erwachsene auch nicht kritikfähig. Die Funktion der Eltern als Mentoren der Kinder mit Zuckerbrot und Peitsche und einer Erziehung zur Eigenverantwortung und eigenständigem Denken ist nicht so verankert wie in nordischen Kulturen. Eltern fungieren viel mehr als liebevoller Versorger, die ebenfalls wenig Kritik oder andere Meinungen in ihrem Haus akzeptieren.
Agressionen gegen Andersdenken nehmen zu in Katalonien
Mangelnde Kritik- und Dialogfähigkeit zeigt sich auf beiden Seiten. Die katalanischen Separatisten bezeichnen die spanische Regierung inzwischen offen als totalitär, aber sie tolerieren selber keine kritische Stimmen in den eigenen Reihen. Selbst die Bürgermeisterin Ada Calau, die sich bisher sehr intelligent aus der Affäre gezogen hat, wurde von den Separatisten auf Linie gebracht. Nur wenige wie der katalanische und in ganz Spanien angesehene Sänger Joan Manuel Serrat trauen sich in diesen Tagen noch, etwas gegen das Referendum zu sagen: „Ich würde es suspendieren, da es nicht transparent ist.“
Derweil fordern katalanische Organisationen wie Òmnium (Das Ganze) oder 7 de Democràcia nicht nur auf aggressive Weise auf, dass alle zur Abstimmung kommen sollen am 1.Oktober, sondern stimulieren auch solche zu denunzieren, die gegen das Referendum sind. Denunziantentum wird schon seit längerer Zeit in Katalonien gefördert, um solche zu stigmatisieren, die Spanisch und nicht Katalanisch sprechen. Auch ausländische Firmen, die ihre Werbung nicht auf Katalanisch veröffentlichen, müssen seit vielen Jahren mit hohen Strafen rechnen. Auch hier werden Bürger aufgefordert, solche „linguistischen Sünden“ zu denunzieren. In Bezug auf das Referendum fordert 7 de Democràcia (siehe Bild) auf, Listen zu erstellen mit den Namen derer, die am Sonntag nicht zu den Urnen gehen, wobei immer noch nicht klar ist, wo diese stehen sollen, weil die spanische Polizei und auch die katalanische Anweisungen haben, jegliche Abstimmung zu verhindern.
Jahrelange Konfrontation hat viele Katalanen zu Spanien-Hassern gemacht
Angeheizt wird die Stimmung in öffentlichen Reden und offiziellen Schreiben von Puigdemont & Co. durch den Vergleich der Reaktionen der Madrider Regierung mit dem Druck und den Gewaltmitteln der Franco-Diktatur (siehe Foto). „Auf der katalanischen Seite hat man jegliche Scham verloren. Es ist klar, dass von der spanischen Regierung viele Fehler begangen wurden in der Vergangenheit und auch eine Reform der Verfasssung scheint überfällig, aber was derzeit passiert, ist ein Skandal für eine reife Demokratie wie Spanien,“ sagt Leal, die hautnah erlebte, wie parallel zur stärkeren Einbindung von separatistischen Parteien in den vergangenen Jahren, darunter Esquerra Republicana oder CUP in die katalanischen Regierungen, die Schulerziehung zunehmend manipuliert wurde.
Unerwartete Dramatik überrollt die spanische Regierung
Erschreckend ist, wie gefährlich aufgeheizt die Stimmung in Katalonien angesichts des polizeilichen Eingreifens der vergangenen Tage gegen die Vorbereitung des Referendums ist. „Die Entwicklungen sind dramatisch und wir hoffen, dass niemand in Katalonien den Fehler begeht, am 2. Oktober die Unabhängigkeit zu erklären,“ heißt es beim spanischen Außenministerium. Dort rechnet man zwar damit, dass niemand, nicht einmal Venezuela, diese anerkennn würde, aber trotzdem steigt auch in Madrid, wo man dachte, am längeren Hebel zu sitzen, langsam die Panik darüber, wie man reagieren soll.
Die spanische Regierung zeigt sich wenig flexibel
Während die spanische Regierungspartei PP bisher keinen Kommunikationsplan auf den Tisch gelegt hat, wie sie mit dem Konflikt abgesehen von Gesetz und Polizeigewalt umgehen will, profitieren die spanischen Sozialdemokraten, die schon in der Versenkung verschwunden waren, von diesem historischen Moment. Ihr Parteivorsitzender Pedro Sánchez fordert mehr Kreativität und Bereitschaft zum Dialog: „Diese seit Jahren wachsende Unabhängigkeitsbewegung in Katalonien kann man nicht ignorieren. Von beiden Seiten ist jetzt Großzügigkeit gefordert und wir müssen endlich über einen neue Verfassung reden, die Spanien föderal organisiert.“
Leal wird derweil an diesem Sonntag in Barcelona versuchen, die spanische Flagge hoch zu halten: „Ich weiss, dass es gefährlich ist, aber das ist doch alles anachronistisch und macht keinen Sinn. Solch ein Anheizen der Nationalismen ist für uns alle gefährlich.“ Aber der 18jährige in Madrid lebende Halbdeutsche Alvaro Bernat hält auch ihre Haltung für falsch: „Auf Nationalismus kann man nicht mit Nationalismus antworten.“ Der Philosophie- und Jura-Student plädiert dagegen an die Vernunft: „Hinsetzen und reden und keine Ausreden. Anders geht es nicht.“
In diesem offiziellen Schreiben einer katalanischen Schule werden die Schüler und indirekt auch die Eltern zum Widerstand gegen die „franquistische Offensive der PP“ aufgefordert:
Handzettel der katalanischen Organisation Omnium, in denen sie die Katalanen auffordern, unter allen Umständen zur Abstimmung zu gehen. Sie anmieren auch, so lange wie möglich zu wählen und auf der Arbeit schon mal zu sagen, dass man wahrscheinlich nicht kommt und alle Spuren der Abstimmung zu löschen.
Pamphlete, die derzeit in Katalonien verteilt werden, in denen auch zur Erstellung von Listen Andersdenkender aufgerufen wird:
Stefanie Claudia Müller ist Korrespondentin für Deutsche Medien in Madrid und Autorin des Buches „Menorca, die Insel des Gleichgewichts“.
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Das stimmt schon, nur, es gibt Zeiten, da wird das Grundgesetz an diversen Stellen bereits so verbogen, oder nicht beachtet, da darf Bayern das dann auch 🙂
„aber mindestens 50 Prozent der Katalanen wollen die Unabhängigkeit nicht.“
dann gibt es doch kein Problem, alle die es nicht wollen müssen doch nur genau so abstimen 🙂
könnte es sein, dass Sie nur um die eigene Zukunft fürchten?
Erstaunlich, dass es den Kleinstaaten (Schweiz, Luxemburg, Norwegen) in Europa wirtschaftlich am besten geht.
Stimmt. Beim Brexit hatten die Remainer finanziert vom Finanzsektor und der Exportwirtschaft ein Schreckensszenario, praktisch den Zusammenbruch der Aktienmärkte und den völligen Wertverlust des Pfundes für den Tag nach der Entscheidung an die Wand gemalt, falls sich eine Mehrheit für Brexit entscheiden sollte. Cameron hatte mit dieser Kampagne seine Bürger tatsächlich ziemlich hinter die Fichte geführt.
Da wurde mühsam ein neues Autonomiestatut ausgehandelt und dann zerrt die PP unter Mariano Rajoy Brey diesen Kompromiss vor das Verfassungsgericht, dass ihn zerpflückt. Das Tischtuch war zerissen. Dumm gelaufen. Zwei Bevölkerungsgruppen, die verschiedene Sprachen sprechen, in einem Land geht selten gut. Man schaue sich den Dauerstreit zwischen Flamen und Wallonen an. Tschechen und Slowaken haben sich gütlich getrennt und das Leben scheint nach der Scheidung weiterzugehen. Im Falle der Elsässer lief es weniger friedlich ab. Der sozialbiologisch tief verwurzelte Chauvinismus wird unterschätzt, was insbesondere die Deutschen bei ihrer Ostwanderung in slawische Gebiete schmerzlich zu spüren bekamen.
Spanien ist durch den Euro/Finanzmarktkrise 2008 schwach geworden und schwache Staaten zerfallen mit der Zeit. Es wird nicht der letzte Staat sein, der durch die europäische Politik der Schwächung der Nationalstaaten in Bedrängnis geraten wird. Selbst Deutschland ist irgend wann nicht mehr davor geschützt. Das sich Vertreter des Establishments hin stellen und sagen, man könne Sachsen gegen Atommüll tauschen, das sind die Vorläufer. Sollte die AfD in Bayern stark werden und sichere Grenzen erzwingen, sich die Bayern dafür ähnliche Sprüche wie die Sachsen anhören dürfen, nimmt die Bindung zu Berlin rapide ab.
Wo bleibt der Abriss der historischen Fakten. Heute aufkommende Unabhängigkeitsbewegen (oder nationalistische Bewegungen) entstehen nicht aus dem Nichts.
Während die Katalanen offensichtlich sich ihre eigene Sprache erhalten konnten, haben die Franzosen es geschafft, den Bretonen erst ihre Sprache und dann ihre Identität zu nehmen. Heute singen die Kinder nicht etwa bretonische, sondern „Eine-Welt“-Lieder. Gewalt führt zu gar nichts. Und wenn die Spanier die EU ernst nehmen, ist es eh wurscht, ob die Katalanen eine unabhängige Region sind oder nicht. Schaut auf die Briten und das Unabhängigkeitsreferendum der Schotten.
„Laßt endlich die Katalanen in Ruhe und ihnen ihre Nation. Gewiß, es wird noch weitergehen. Valencia, die Balearen, Alicante, alles katalanisch. Und in Perpignan im Rousillion sind die Könige von Mallorca bestattet, das Schloß ist ein katalanisches Nationalheiligtum.“ Das würde dann aber nicht nur Abspaltung, sondern Krieg bedeuten. Es gibt kaum ethnisch homogene Staaten, das heißt, das irgendwer immer eine Minderheit wäre. Was wenn hauptsächlich spanisch sprechende Teile ihrerseits wieder die Abspaltung fordern?
Pressburg hieß mal Pozsony, während es ungarische Ausweichhauptstadt in der Türkenzeit war – und für den ungarischen Nationalen ist Slowakien Oberungarn.
Sorry, aber schon der Einstieg in den Artikel zeigt, dass die Autorin nicht „sine ira et studio“ schreibt (argumentiert?), sondern schlicht emotional oder auch ein wenig „spanisch unbeherrscht“…die offizielle Fragestellung ist doch wie beim Brexit sehr klar und natürlich können nicht die völlig unklaren Folgen der Zukunft einer solchen Entscheidung („…wirtschaftliche Nachteile….Austritt aus der EU…“) zur Abstimmung stehen. Wie soll das bitte gehen ?! Dies passiert doch auch nicht bzw. ERST RECHT NICHT, wenn die Deutschen alle 4 Jahre ein Kreuzchen hinter 3 Buchstaben machen dürfen. Bitte bei Gastautoren etwas mehr an die intellektuelle Strapazierfähigkeit der TE-Leserschaft denken…bin nach diesem… Mehr
Ich bin in der Sache nicht auf der spanischen Seite, aber warum wollen Sie andere Meinungen nicht lesen?
Naja, die Begründung ist schon etwas einseitig. De facto fordert die Autorin, eine Wahlempfehlung auf den Wahlzettel zu drucken. Die anderen Beispiele sind allerdings erschreckend, insbesondere die Denuziationskultur.
Es ist nichts gegen andere Meinungen einzuwenden, im Gegenteil, ich finde gerade die unterschiedlixchen Meinungen hier anregend, dann aber den Artikel auch unter Meinungen einordnen und nicht unter Kolumnen. Dort erwarte ich in erster Linie Information und nicht in erster Linie Meinung.