In diesen Tagen der Griechenland-Krise blitzte kurz etwas auf. Das „Nein“ der Bundeskanzlerin zu immer neuen Gesprächen, bevor überhaupt ein Ergebnis des Referendums vorlag, tat gut. Auch wenn man davon ausgehen musste, dass dies nur ein Zwischenstopp war, so haben doch in diesem Moment viele Menschen in Deutschland und Europa „endlich“ gesagt. Endlich wurde eine Grenze gezeigt. Endlich wurde einmal innegehalten, um den Weg zu prüfen, auf den man geraten ist. So könnte es in vielen Dingen gehen, die gegenwärtig aus dem Ruder laufen. Wie sehr uns das gefehlt hat!
Dann kam das Ergebnis des griechischen Referendums. Es zeigte, dass es eine klare Mehrheit gegen einen Sanierungskurs gibt. Eine Mehrheit, die die Lage des Landes anders sieht, die andere Erwartungen für sich und andere Ansprüche an die Außenwelt hat. Eine Mehrheit, die eine andere Vorstellung davon hat, was gerecht und legitim ist. Ein solches Referendum kann man nicht wie irgendeine Meinungsumfrage behandeln, die morgen wieder ganz anders ausfallen kann. Nicht, dass hier eine naturgegebene, ewige „Mentalität der Südländer“ gesprochen hätte, aber eine Einstellung des Volkes, wie es in der griechischen Gegenwart gegeben ist, ist sichtbar geworden – parteiübergreifend, generationsübergreifend, städtische und ländliche Gebiete umfassend. Eine Reformmehrheit ist nicht in Sicht und sie wird auch nicht durch die Not am Bankschalter herbeigeführt – da sind die Menschen doch ein bisschen anders gebaut. Damit steht nichts zur Verfügung, was den Begriff „Reform“ erfüllen könnte. Eine Reform setzt eine innere Akzeptanz im Lande voraus – sonst gibt es bloß Maßnahmen, die mehr oder weniger hingenommen, aber letztlich als äußerer Zwang empfunden werden.
Der Wendepunkt – hätte hier gesetzt werden können
Spätestens hier wäre der Zeitpunkt gewesen, nun definitiv mit dem Zwangsfördern Schluss zu machen. Doch dies geschah nicht. Stattdessen wurden neue Verhandlungen anberaumt und die Vertreter der Gläubigerinstitutionen verrieten damit, wie wenig in ihrer Vorstellung von Entwicklung der Faktor „Souveränität“ und die Ressource der eigenen Kraft vorkommt. Indem man neue Gespräche anberaumte, war man wieder – heilige Einfalt – beim Glauben an den runden Tisch, an eine Verständigung, an eine Vereinbarung. Vor allem beim Glauben an die Realitätsmacht von Beschlüssen. Es ging nur noch darum, wie „hart“ oder „weich“ die Vereinbarungen ausfielen. Das Ergebnis des ermüdenden Ringens um einen Text ist doppelbödig.
Deutschland und andere Staaten der Eurozone setzten durch, dass in den Einzelvorhaben recht harte Maßnahmen niedergeschrieben wurden, Frankreich und andere Staaten setzten ein „Grexit-Tabu“ durch. Jeder Hinweis auf ein mögliches Ausscheiden Griechenlands aus der Eurozone wurde aus der Vereinbarung verbannt. Damit war das einzige Druckmittel, das mit der Souveränität aller beteiligten Staaten vereinbar war, ausgeschlossen. Man war wieder alternativlos beim Hineinregieren von außen angelangt.
Dann verbrachte man einige Tage mit der Spekulation, ob die Beschlussfassung im griechischen Parlament die Tsipras-Regierung zerreißen würde. Das tat sie nicht. Denn das Umsetzungsproblem besteht nicht im Beschlüsse fassen. Was ist nicht alles schon in Athen beschlossen worden, was dann nie in der griechischen Realität angekommen ist. Mit anderen Worten: Es gibt keine verlässliche Grundlage für die Geltungskraft von Gesetzen. Für die Syriza-Partei und ihren rechtsextremen Koalitionspartner, die die Exekutive besetzt halten, öffnet sich hier ein weites Feld, um die Brüsseler Vereinbarung zu hintertreiben.
Man kann die Mehrwertsteuer erhöhen und es gleichzeitig dulden, dass ein noch größerer Teil des Wirtschaftslebens in die Schattenwirtschaft abtaucht. Die Verwaltung und die Gerichte können die Privatisierung und die Rentenkürzungen hintertreiben. Es gibt zig Möglichkeiten, die Akten der Sozialversicherungen „großzügig“ zu führen oder, auf kommunaler Ebene, die Registrierung der Immobilien schleifen oder sogar Dinge aus dem Kataster verrschwinden zu lassen. Nicht zufällig gab es am Tag der Parlamentszustimmung zur Brüsseler Vereinbarung einen Streik der Staatsbediensteten. Der Herrschaftsbereich der Reform-Ablehnung liegt vor Ort – hier kann die Referendum-Mehrheit ihr „Nein“ zur Geltung bringen.
Diese Doppelbödigkeit zwischen Gesetz und Realität ist sattsam bekannt, zum Beispiel in Italien. Dort gibt es die strengsten städtebaulichen Gesetze und gleichzeitig die größte Zufälligkeit im praktischen Vollzug. Und es gibt die unendliche Süditalien-Affäre, in die Milliarden geflossen sind und alle möglichen „Troikas“ aus Rom oder Mailand unterwegs waren, um die Dinge zu überwachen. Sie sind gescheitert. Soll dies Süditalien-Syndrom nun mit Griechenland in eine europäische Dimension gehoben werden?
Georgios Chondros, Mitglied im Zentralkomitee von Syriza, brachte es am 13. Juli im Spätjournal des österreichischen Fernsehens ORF 2 auf den Punkt: „Ob die Vereinbarung umsetzbar ist, steht im Raum“. Das war ein Wink mit dem Zaunpfahl und so sollte man auch die Tsipras-Logik verstehen. Wenn er erklärt, seine Unterschrift sei in Brüssel erpresst worden, so erklärt er im Grunde die Vereinbarung und alle daraus folgenden Beschlüsse für illegitim. Wer vom Brüsseler „Putsch“ gegen Griechenland spricht, ruft zur Fronde im Lande auf.
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