Obwohl dafür ein triftiger Rechtsgrund fehlt, wurden die vier – zulässigen - Überhangmandate, die alle bei der CDU angefallen sind, 2013 ohne Not erstmals auch im Bund ausgeglichen - nicht aber durch vier, sondern durch 29 Ausgleichsmandate - das Siebenfache!
Das Bundeswahlgesetz – es gilt das 22. seiner Art in nur 18 Legislaturperioden seit der Entstehung der Bundesrepublik im Jahre 1949 – ist vor dem Bundesverfassungsgericht dreimal zu Fall gekommen: 1998, 2008 und 2012. Bei insgesamt 18 Bundestagswahlen wurden 14mal mehr Listenplätze verteilt als es im Bundestag Sitze gab. Davon viermal im zweistelligen Bereich, und zwar 1994, 1998, 2005 und 2009. Dreimal überschritt die Zahl der „Überhangmandate“, also der abgespaltenen, nicht personalisierten Listenplätze die vom Verfassungsgericht gezogene Obergrenze von 15 Sitzen. Wahlprüfungs-Beschwerden, die gegen das geltende Wahlrecht vor dem Verfassungsgericht in Karlsruhe Sturm laufen, konnten nicht ausbleiben. Gründe dafür gibt es genug.
Ein Wahlrecht, das sie an die Macht gebracht hat, das hat sich in den Augen der politischen Parteien natürlich „bewährt“ und sollte aus ihrer Sicht so bleiben, wie es ist. Doch regt sich dagegen ein immer heftiger werdender Widerspruch. Der Berliner Wahlrechtsexperte, Hans Meyer, bezeichnet den § 6 BWahlG – also die tragende Vorschrift der jüngsten Reform – sogar als „legislatorisches Monster“. Und es war kein geringerer als der Präsident des Deutschen Bundestags, Norbert Lammert, der sogar in der Antrittsrede nach seiner Wiederwahl am 22.10.2013 ohne jede Schamfrist sofort eine „Reform von der Reform“ des Wahlrechts verlangte und dies mehrfach wiederholte.
Personalisierte Verhältniswahl
Die Besonderheit des deutschen Wahlrechts ist das duale Wahlsystem mit Erst- und Zweitstimme. Mit der Erststimme (oder Wahlkreis-Stimme) soll die Person des Abgeordneten, mit der Zweitstimme (oder Landesstimme) die „Mannschaftsstärke“ der Parteien, also die Mächtigkeit der Fraktionen im Parlament bestimmt werden. Diese hybride Zwillingswahl mit zwei Stimmen für völlig verschiedene Wahlgebiete wird im Schrifttum allgemein als „personalisierte Verhältniswahl“ bezeichnet. Tatsächlich kann jedoch niemand 598 Sitze im Parlament durch eine vorgeschobene Direktwahl „personalisieren“, wenn es nur 299 Wahlkreise gibt. Das ist ein Ding der Unmöglichkeit. In Wahrheit findet die personalisierte Verhältniswahl bei höchstens der Hälfte der Mandate statt, bei mindestens der Hälfte kommt es zur Listenwahl. Und das verstößt gegen das Prinzip der gleichen Wahl, das in Art. 38 GG niedergelegt ist.
Außerdem wird Art 38 GG keineswegs angeordnet: „Die Parteien werden (…) gewählt.“ Dort heißt es vielmehr: „Die Abgeordneten werden (…) gewählt.“ Die Wahl muss sich – jedenfalls im Endergebnis – immer auf die Person der Abgeordneten richten und kann deshalb nicht in der Hälfte aller Fälle (oder sogar noch darüber hinaus) auf eine bloße Wahl der Parteien beschränkt werden. Eine bloße Parteienwahl schließt die Verfassung aus. Die personalisierte Verhältniswahl muss also alle Abgeordneten erfassen. Sie tut es aber nicht. Denn dafür gäbe es gar nicht genug Wahlkreise.
Das erklärt aber auch, warum sich die 299 Direktmandate bei den großen Parteien ansammeln, während die kleinen nur vereinzelt einen Wahlkreis gewinnen oder leer ausgehen. So hat z.B. die FDP bei insgesamt 18 Bundestagswahlen 15mal nicht ein einziges Direktmandat erlangt. Gegen den Wortlaut von Art. 38 GG ist die FDP 14mal allein über die Parteienstimme in den Bundestag eingezogen. Bei den Grünen ergibt sich ein ähnliches Bild. Hans Christian Ströbele gewann mit schöner Regelmäßigkeit seinen Berliner Wahlkreis. In den verbleibenden 298 Wahlkreisen gehen aber auch die Grünen leer aus. Bei der FDP und bei den Grünen greift die Erststimme vollständig oder, fast vollständig ins Leere. Die personalisierte Verhältniswahl entpuppt sich insoweit als Trugbild, als Fata Morgana. Und man tut sich schwer, die Frage zu beantworten, wozu die Erststimme bei der FDP und den Grünen überhaupt gut sein soll.
Negatives Stimmengewicht
Bei der Bundestagswahl 2013 ist das negative Stimmengewicht deutlicher hervorgetreten als je zuvor. Stimmen und Mandate dürfen sich niemals umgekehrt proportional zueinander verhalten. Das hat das BVerfG in gefestigter Rechtsprechung mit den Urteilen vom 3.7.2008, BVerfGE 121, 266 und vom 25.7.2012, BVerfGE 131, 316 zweimal kategorisch untersagt. Es kann daher nicht sein, dass einer Partei Vorteile daraus entstehen, wenn sie nicht mit beiden, sondern nur mit einer von beiden Stimmen gewählt wird.
Bei der letzten Bundestagswahl erlangte die CDU in vier Bundesländern (Thüringen, Sachsen-Anhalt, Brandenburg und Saarland) mit den Landesstimmen jeweils einen Listenplatz weniger als sie mit den Wahlkreis-Stimmen des Landes Direktmandate gewinnen konnte. Weil die Listenplätze aus den Landesstimmen hinter den Direktmandaten aus den Wahlkreis-Stimmen zurückblieben, entstanden insgesamt 4 sog. „Überhänge“. (Direktmandat ohne Listenplatz) Ihre Zulässigkeit ist nach § 6 Abs 4 Satz 2 unstreitig, wird aber trotzdem bestritten, obwohl es gar keine unzulässigen Direktmandate gibt und auch nicht geben kann. Aus den 299 Wahlkreisen gehen 299 direkt gewählte Abgeordnete hervor, keiner mehr und keiner weniger. Auch hat der Wahlleiter regelmäßig allen 299 Parlamentariern mit Direktmandat ausnahmslos bestätigt, dass sie Rechtens in den Bundestag eingezogen sind.
Obwohl dafür ein triftiger Rechtsgrund fehlt, wurden die vier – zulässigen! – Überhangmandate, die alle bei der CDU angefallen sind, 2013 ohne Not erstmals auch im Bund ausgeglichen – nicht aber durch vier sondern durch 29 Ausgleichsmandate. Der Ausgleich überstieg den Überhang also um mehr als das Siebenfache! Das war schon überraschend genug. Niemand hatte damit gerechnet. Als völlig unerwartete Zugabe kam aber noch hinzu, dass ausgerechnet die CDU mit 13 aus den insgesamt 29 Ausgleichsmandaten sogar den „Löwenanteil“ am nachgeschobenen Mandatsausgleich erhielt. Die SPD folgte mit 10, die Linken mit 4 und die Grünen mit 2 Ausgleichsmandaten.
Die CDU hat also einen unmittelbaren Vorteil davon, dass sie in den vier Überhangländern bei jeweils einem Mandat nicht mit beiden, sondern nur mit einer von beiden, nämlich allein mit der Erststimme gewählt wurde. Und genau das hat das BVerfG mit Urteil v. 3.7.2008, BVerfGE 121, 266 und v. 25.7. 2012, BVerfGE 131, 316 zweimal ohne jede Einschränkung untersagt. Aus weniger Stimmen dürfen auf gar keinen Fall mehr Mandate entstehen.
Es gibt in den vier Überhangländern Thüringen, Sachsen-Anhalt, Brandenburg und Saarland keinen einzigen Abgeordneten, der allein über die Landesliste der CDU in den Bundestag einzog. Weil sie dort alle das Direktmandat errungen haben, braucht die CDU in diesen Ländern die Zweitstimmen nicht. Sie kann sie sogar komplett „verleihen“ oder verschenken, ohne ein Direktmandat zu verlieren. Und das hat sich inzwischen herumgesprochen. Ein ins Gewicht fallender Teil der Wähler gibt deshalb die Erststimme den großen Parteien und die Zweitstimme den kleinen oder umgekehrt. Das hat zur Folge, dass sich die personalisierte Verhältniswahl insoweit in „Name, Schall und Rauch“ auflöst.
Viel widersinniger geht es nicht
Festzuhalten bleibt: Als alleinige Verursacherpartei der Überhänge wurde die CDU zugleich zum größten Ausgleichsprofiteur. Wären die Listenplätze aus den Zweitstimmen der CDU in den vier Überhangländern noch weiter hinter den Direktmandaten aus den Erststimmen zurückgeblieben, würde auch der Ausgleich bei der CDU weiter ansteigen. Je weniger Zweitstimmen bei der CDU in den vier Überhangländer umso mehr „Überhänge“, d.h. abgespaltene, nicht personalisierte Listenplätze bei den anderen Parteien und noch mehr Ausgleichsmandate bei allen Parteien, auch bei der CDU. Ergo bilden Stimmen und Mandate eine negative Korrelation: Viel widersinniger kann es kaum noch kommen!
Manfred Hettlage lebt in München, ist als rechts- und wirtschaftswissenschaftlicher Publizist tätig und hat mehrere Sachbücher zum Wahlrecht veröffentlicht, z. B. : „Wer mit zwei Stimmen wählt … / Beobachtungen, Bemerkungen und neue Beiträge zur Wahl der Parlamente in Bund und Land“, 2014; und „Wie wählen wir 2013? Veröffentlichte und unveröffentlichte Beiträge zur Wahl der Parlamente in Bund und Land“, 2/2013.
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Achtung: Zweistimmenwahlrecht!
Bei der Bundestagswahl und einigen Landtagswahlen haben Sie zwei
Stimmen auf einem Stimmzettel. Sie können daher eine Stimme gültig
abgeben und die andere ungültig machen.. Eine Stimmenthaltung bei einer Stimme wird in solch einem Fall automatisch als ungültige Stimme gewertet.
Quelle: http://www.wahlrecht.de/lexikon/ungueltig.html
Also, wählt doch einfach nur per Erststimme und lasst die Zweitstimme weg. Wäre damit das Problem nicht gelöst, indem man es auf die Spitze treibt?
Kleiner Hinweis: bei der AfD dürfen Sie natürlich sowohl Erst- als auch Zweitstimme abgeben ,-) Denn dann ändert sich etwas in unserem Land, und bestimmt nicht zum Schlechteren.
Der Skandal liegt vor allem beim Bundesverfassungs-Gericht, das weder Strafen verhängt, noch diesem Betrug Einhalt gewährt – kein Wunder, sitzen im BVerfG doch wieder Partei-Leute nach Proporz!
Man hat bei den Artikeln des Autors zuletzt leider stets den Eindruck, als wolle er ein Mehrheitswahlrecht a la Grossbritannien in Deutschland installieren, in dem man als Wähler nur noch die Wahl zwischen den zwei grossen Volksparteien CDU und SPD hat. Na dann Prost Mahlzeit kann ich gerade bei deren aktueller Politik nur sagen! Meiner Meinung nach gibt Art. 38 GG die Auslegung des Autors nicht her, Abgeordnete, die per wichtiger Zweitstimme gewählt wurden, quasi als „illegitime“ Abgeordnete hinzustellen, bloss weil diese in einer Liste von mehreren Abgeordneten auf dem Stimmzettel stehen! Auch mit der Zweitstimme werden letztlich Abgeordnete als… Mehr
Das sehe ich auch so, Herr Schmidt. Ich bin für die reine Verhältniswahl: Die Erststimme entfällt. Es gibt nur 1 Stimme. – Mit der wählt man eine Partei-Liste. Eine Partei soll aber auch aus einer einzigen Person bestehen können. Jeder muss wählbar sein, der mindestens 100 Unterstützer hat. Wenn dazu eine Verfassungs-Reform nötig ist, dann meinetwegen. An den Bürgermeister-Wahlen sollte man sich ein Vorbild nehmen. Da kann sich auch jeder bewerben. Und das spühlt auch mal Parteilose ins Amt, weil man sie kennt und ihnen Vertrauen schenkt. So ähnlich war es ja auch mit Trump.
Das (nachvollziehbare) Problem, welches Sie da mit den großen Parteien haben, rührt doch letztendlich daher, dass nur eine kleine, nicht abwählbare Hierarchie in den engsten Parteizirkeln die politische Richtung vorgibt der Rest dieser Linie bedingungslos folgt. Klar, wünscht man sich dann neue Parteien, die den Laden wenigstens mal aufmischen. Die konsequente Umstellung auf Personenwahl, statt Parteienwahl ändert die Spielregeln jedoch grundsätzlich. Letztendlich müssten sich nach 4Jahren alle im Parlament vertretenen Abgeordneten vor ihren Wählern rechtfertigen. Wenn das nicht gelingt, ist es aus mit der Karriere. Sichere Listenplätze selbst für die Fraktionsspitzen ade. Ein so gewähltes Parlament würde seiner Aufgabe wieder… Mehr
Das verschlimmert man aber noch, wenn man vernünftige kleinere Parteien,
die nur deshalb so klein sind, weil sie keine Kirchen- („C“) oder Gewerkschafts-Angelköder („S“) bei der Wahl missbrauchen, kaltstellt!
Niemand wird kaltgestellt. Es werden Personen gewählt, keine Parteien. Diese dürfen einer Partei angehören, müssen aber nicht. Die Direktwahl von Bürgermeistern beweist, dass das Parteibuch bei einer solchen Wahl von untergeordneter Bedeutung ist.
Es stellt sich nur die Frage, wieviel Quadratmeter gross die Stimmzettel für die Bundestagswahl sein sollen, wenn über tausende einzelne Kandidaten statt Listen abgestimmt wird und wie die noch gehandhabt werden sollen!
Im britischen Unterhaus sind Abgeordnete von elf verschiedenen Parteien sowie ein Unabhängiger (bzw. zehn Parteien und zwei Unabhängige, nachdem der bisherige UKIP-Abgeordnete aus seiner Partei ausgetreten ist) vertreten. In der französischen Nationalversammlung, deren Abgeordnete ebenfalls nach dem Mehrheitswahlrecht gewählt werden, sind Abgeordnete von zwölf verschiedenen Parteien vertreten.
Befürchtungen, ein Mehrheitswahlrecht reduziere sich zwangsläufig auf zwei große Parteien, sind also unbegründet.
Das Mehrheitswahlrecht bringt aber einen anderen Typus von Abgeordneten hervor. Nicht den Apparatschik, sondern Politiker, die sich für die Interessen der Einwohner ihres Wahlkreises einsetzen
Unleugbar treten bei einer reinen Mehrheitswahl zwei Faktoren in den Vordergrund, die keine Garanten für gute Politik sind: a) die schwer zu unterbindende Unterstützung der örtlichen XY-Mafia für ihren Kandidaten und b) Wohnungspolitische Segregationseffekte.
Mandatschancen für eine politische Grundströmung gibt es nur, wenn sie sich in „Ihren“ Wahlkreis separiert. Ist dies aus den historischen Verhältnissen her bereits gegeben, dann ist ein reines Mehrheitswahlrecht akzeptabel, sonst tritt der dieser eher als kontingent anzusehende Faktor hinzu und keiner weiß, worin der besondere Sinn liegen soll..
Die wenigen anderen Abgeordneten haben nur leider keinerlei Einfluss, da keine Koalitionsregierungen besteht! Folglich hätte die CDU oder SPD stets
für jede ideologische Fehlentscheidung völlig freie Bahn! Als Liberaler würde ich hier entsetzt zusammenzucken.
Lammert hat gesagt, Lammert hat gefordert…nix als blablabla…
Was hat er neulich von sich gegeben, um einen Einmalposten gegebenenfalls nicht der AfD zukommen zu lassen?
Wahlwiederholung halte ich in diesem D auch für die gleichzeitig schlechteste Lösung.
„Die CDU hat also einen unmittelbaren Vorteil davon, dass sie in den vier Überhangländern bei jeweils einem Mandat nicht mit beiden, sondern nur mit einer von beiden, nämlich allein mit der Erststimme gewählt wurde.“ – nämlich welchen? Weil sie mehr Abgeordnete haben? Das gilt aber für alle Parteien – entsprechend dem Zweitstimmenergebnis – gleichermaßen, wo ist also der (grundsätzliche) Vorteil? Was allerdings stimmt: nach meiner „Logik“ hätte die CDU nur 12 der Ausgleichsmandate bekommen dürfen (statt 13) – aber vielleicht habe ich auch falsch gerundet… Und das ein über Liste gewählter Abgeordneter – deswegen ist die Liste ja vorher bekannt… Mehr
Mehr eigene Leute an die Tröge zu bringen, darin liegt der Vorteil dieser Selbstbediener. – Betrogen wird wie immer der Bürger, der die aufgeblähte Bonzen-Party bezahlen muss, wer sonst. Der Vorteil, lieber MarHel, liegt nicht im Grundsatz, sondern in den zu verteilenden Extrawürsten.
Nachvollziehbar. Aber: ist es nicht egal, an welcher Stelle die Wahlergebnisse manipuliert werden?
Mit Verlaub: Wie oft soll diese „Sau“ noch durchs Dorf getrieben werden???
Es wäre genauso sinnvoll wir würden hier über ein komplett neues Steuergesetz diskutieren ….
Manchmal ist es sinnvoll sich damit abzufinden, dass Gesetze nur von der Regierung geändert werden können. So lange selbige von etwas profitiert wird sie es nicht ändern.
Nicht von der Regierung. Vom Gesetzgeber (Parlament).
…macht es das dann „besser“ oder wirft es ein „bezeichnendes Licht“auf die Nichthandelnden?
das ist leider wahr, aber auch das ewige Nichtreagieren derer, die das ausbaden dürfen-die jammern nur, teilweise..weiter so!
Was soll man denn sonst auch machen? Demonstration? Bringt nix. Dagegen an schreiben? Bringt das etwa was?
Wir können nur entweder Revolution machen, oder die aktuelle Politik hinnehmen. Ändern werden wir im Internet ganz sicher gar nichts.