Alexander Wendt ist ein Meister scharfgestellter Beschreibungen und punktgenauer Wortschöpfungen. Die laufende Übernahme der Diskurshoheit durch eine moralische Hirtenklasse bei deren gleichzeitigem Versuch, nicht genehme Meinungen in einen schalltoten Raum der Gesellschaft zu sperren, benennt er mit Enzensbergerscher Eleganz, die auf Schmähungen oder Tiraden verzichten kann. Von Wolfgang Röhl
Wer als heute älterer Mensch in Jugendjahren einer ordentlichen Dosis Marx ausgesetzt war – dem Hauspropheten der Linken war ja ab den späten 1960ern für lange Jahre kaum zu entkommen –, der hätte alles Mögliche angenommen. Als Juso oder DKPist zum Beispiel, dass der Klassenkampf bestimmt kommen würde, bloß etwas später als von Marx angedacht. Wer eher konservativ oder liberal tickte, war sich ziemlich sicher, dass VW-Käfer, Reihenhäuschen und rheinischer Kapitalismus die Marx’schen Visionen längst obsolet gemacht hatten.
Aber niemand, wirklich kein Schwein, hätte sich träumen lassen, dass es mal einen Klassenkampf geben würde, der von oben nach unten geführt wird. Dass eine privilegierte Klasse aus zumeist urbanen Milieus – die mittlerweile zweite Generation der durch die Institutionen Marschierenden – aus ihren krisensicheren, gutdotierten Stellungen heraus dem Rest der Gesellschaft den Stinkefinger zeigen würde.
Friede dem Zentrum, Krieg der Peripherie – auf diese Formel bringt der Autor Alexander Wendt die Strategie der Wohlgesinnten, welche die Schaltstellen der Sinnproduktion besetzt haben, um die da unten Mores zu lehren. Eine Moralbourgeoisie, angeführt von Senderfürsten, Kirchenfürsten und Stiftungsgrößen auf dem Sonnendeck, die sich bei mancherlei Unterschiedlichkeit der Interessen in einem Punkt einig ist: in der profunden Verachtung nach unten.
Scharfgestellte Beschreibungen und punktgenaue Wortschöpfungen
Alexander Wendt, das stellt sein neues Buch mit dem gleichnamigen Titel schon nach ein paar Seiten unter Beweis, ist ein Meister scharfgestellter Beschreibungen und punktgenauer Wortschöpfungen. Die laufende Übernahme der Diskurshoheit durch eine moralische Hirtenklasse bei deren gleichzeitigem Versuch, nicht genehme Meinungen in einen schalltoten Raum der Gesellschaft zu sperren, benennt er mit Enzensbergerischer Eleganz, die auf Schmähungen oder Tiraden verzichten kann. Weil eine Kaskade von Einfällen durch die Kapitel läuft, die keines Schaumes vorm Mund bedürfen.
Ja verdammt, sagt sich der Leser, genau das ist es, was die Profiteure des ökologisch-industriellen Komplexes, die Unkündbaren im Staats- und Staatsfunkdienst, die Schönfärber in den Wirtschafts- und Kulturkammern eint: der latente Glaube an die „alte Idee der Gnadenwahl der Calvinisten“ (Wendt). Wir verdienen, was wir mehr verdienen, weil wir einfach bessere, fortschrittlichere, nachhaltigere Menschen sind! Und das E-Lastenrad vom holländischen Designer für 6.000 Euro, das vor dem schneeweißen Gründerzeithaus in Hamburgs Isestraße den Gehsteig verstellt, ist unser Gesinnungsbonus.
Langen Raum nimmt der Abschnitt über die USA als Kinderstube der woken Blasen ein. Aus ihren Universitäten wurden einst die Achtundsechziger ideologisch aufmunitioniert. Hier wurde 2016 schließlich der Terminus vom „Korb der Jämmerlichen“ geprägt, mit dem Hillary Clinton bei einer New Yorker Wahlkampfspenden-Gala vor LGBT-Publikum so ungefähr die Hälfte der Amerikaner in die Tonne trat.
Der Klassenkampf der Gesinnungswächter zielt nicht auf die Eliten
Die Jämmerlichen, das sind seither für viele Linke der USA jene Mitbürger, die Verbrennerautos, Steaks und das Recht auf Waffenbesitz schätzen, aber nicht sehr auf illegale Migranten, veganes Futter oder politisch-korrektes Geschwafel („Ableism“) stehen. Da alles, was an Blödsinn in den USA ausgekocht wird, früher oder später über den Teich schwappt, kann man gar nicht scharf genug nach drüben schauen. „Eine Verteidigung des Plünderns“, wie sie Galionsfiguren des Radical chic dort formulieren, hätte auch hierzulande Partisanen. Doch der Blick in die USA lohnt auch, weil es dort mittlerweile im woken Gebälk hoffnungsversprechend zu knistern beginnt. Davon später.
Novität in der Geschichte der Bundesrepublik: Eine Phalanx aus Staatsfunkanstalten und großen Teilen der privaten Medien sieht ihre Aufgabe nicht mehr darin, die Bürger vor Übergriffen des Staates zu schützen. Sondern darin, den Staat vor seinen Bürgern in Schutz zu nehmen. Die beim Aufmucken gegen verheerende Lockdowns oder ökologisch verbrämte Bauernlegerei sogleich zu Seuchenleugnern oder zum Mistgabel-Mob ernannt werden. Und wer dafür ist, dass hunderttausende von illegal Reingeschneiten das Land verlassen, wie das Gesetz es will, auch wenn die Illegalen es nicht wollen, gilt als wiedergeborener Wannseekonferenzteilnehmer.
Und die gute alte Klassenfrage? Ist derweil weitgehend unter die Räder gekommen. Nein, der Kapitalismus muss definitiv keine Angst haben vor den Wokies. Der Klassenkampf der Gesinnungswächter zielt auf die Erbärmlichen, nicht auf die Eliten. Was in den Milieus der Ton-Angeber zählt, sind Hautfarbe, Geschlecht, Herkunft vulgo Stamm. Demnach ist ein weißer deutscher Lagerist mit 2.000 Euro im Monat immer noch „privilegiert“ gegenüber einer schwarzen Frau mit Migrahu, die als „Tatort“-Darstellerin ein Vielfaches verdient.
Druck im Inneren des akademischen und publizistischen Prekariats
Die „ewigen Niederreißer“ (Wendt) kennen keine Klassenschranken mehr. Sie fürchten sich auch nicht vor Degrowth aka wirtschaftlichem Niedergang. Es handelt sich ja überwiegend nicht um Schweißer wie den Achse-Mitarbeiter Wolfram Ackner, der im Buch zu Wort kommt. Für Menschen mit staatlicher Jobgarantie oder erlesenen Tätigkeiten kann es gar nicht grün und geschrumpft genug werden. „Das Auto einfach mal stehen lassen“ rät eine Schreibkraft der FATAZ Elektromobilisten zwecks Pflege des Akkus und des Planeten. Wer unbedingt zur Arbeit muss, benutzt einfach das Zweitauto, nicht wahr. Woke leben ist nichts für Knauser.
Die Uniformität der veröffentlichten Meinung, fast hundertprozentig auf Vordermann gebracht bei den Berichten über die jüngste inszenierte Protestwelle („Remigations-Konferenz“), woher rührt sie? „Homogenisierung ohne zentrale Anweisungen“ nennt Wendt, allen Aluhüten abgeneigt, das Phänomen. Gerade im Inneren des akademischen und des publizistischen Prekariats, schreibt der Medienkenner, herrschen enormer Druck und Ungleichheit:
„Je schlechter die Chancen auf den verheißenen Aufstieg, von dem die Aspiranten selbstverständlich annehmen, dass er ihnen zusteht, je kleiner die Zahl der privilegierten Posten, desto heftiger der Eifer, sich selbst als besonders wachsam, rein und zuverlässig zu beweisen. Und desto heftiger das Bestreben, Feinde ausfindig zu machen und niederzukämpfen. Auch wenn die meisten von ihnen Carl Schmitts Schriften nicht kennen, verinnerlichen sie aus Eigeninteresse einen seiner Sätze: ,Sichert Euch rechtzeitig die Position des Anklägers!‘“
Die Erwachten stoßen jetzt hier und da auf Gegenwehr
Die permanente Disruption, Lieblingssport der Aufgewachten, ist allerdings das Letzte, was sich die Unerleuchteten wünschen. Tatsächlich ist Stabilität ein Sehnsuchtsort der meisten Menschen, die Umbrüchen und Unsicherheiten über lange Zeiten ausgesetzt waren. Gesetze und Regeln des Zusammenlebens, die eben nicht „täglich neu ausgehandelt werden müssen“ (worauf sich eine Vize-SPD-Vorsitzende mal öffentlich freute), das wird nicht zufällig besonders in Ostdeutschland geschätzt. Und nicht nur dort. Am Anfang des Buches schreibt der Autor über Begegnungen mit Migranten in einer Siedlung am Rande von Lissabon. Überraschung: Was sich die meisten vom Migrationsziel erhoffen, weil es in ihren Herkunftsländern Mangelware ist: Stabilität, Rechtssicherheit.
Das Interessanteste in „Verachtung nach unten“ ist für mich das achte Kapitel, betitelt „Provisorischer Frieden – ein Entwurf“. Es macht Vorschläge, wie der „Kulturkrieg zwischen Bürgergesellschaft und ihren Feinden geordnet beendet“ werden könnte. So, wie auch der Dreißigjährige Krieg wegen Erschöpfung der Parteien endete, von denen keine mehr einen Sieg erhoffen durfte. Wendt plädiert für eine „Entgiftung“, warnt vor rechten Säuberungsphantasien.
Ist der Gipfel des Beknackten endlich erreicht?
In den USA wurde das Proleten-Bier Budweiser massenhaft boykottiert, als es eine auf Audrey Hepburn gestylte Transgender-Influencerin als Werbemaskottchen wählte. Dass die Harvard-Präsidentin Claudine Gay, zwar unfähig, aber schwarz, wegen antisemitischer Vorfälle auf dem Campus und Plagiaten in ihren eigenen akademischen Arbeiten zurücktreten musste, war alles andere als selbstverständlich gewesen, als Ende vergangenen Jahres die ersten Vorwürfe aufkamen. Und dass an der durchweg stramm progressiv regierten Westküste, wo Städte wie San Francisco oder Portland in Kriminalität und Drogensumpf versinken, radikale Kommunalpolitiker abgewählt werden, setzte ebenfalls Zeichen. Der US-Autor Michael Shellenberger hält sie für ein Signal, dass in einigen Räumen „Peak Woke“ erreicht sei. Allerdings noch nicht in ganz Amerika, geschweige denn in Europa:
„Der Aufstieg dieser Ideologie war ein langer Prozess über viele Jahre. Und wenn das der Wendepunkt war, dann wird sich auch ihr Abstieg über viele Jahre hinziehen. Sie wird nicht schnell und plötzlich verschwinden.“
Und Deutschland? Dass die Litanei vom bösen weißen alten Mann, dass der identitäre Wahn autochthoner Tribalisten, dass die Verherrlichung des edlen Wilden auf dem Gummiboot, dass die Sprachverkasperung (XY möchte partout nicht als Mann „gelesen“ werden), dass also diese ganze wildbeknackte Mischung ihren Gipfel bereits erreicht hat: too good to be true. Peak Woke ist ja eine hübsche, dem Jargon der Ressourcen-Kassandras angelehnte Sprachblume. Die freilich ein Geschmäckle aufweist. Hatte nicht auch der Club of Rome anno 1972 einen Peak verkündet, nämlich Peak Oil? Die Förderung von Erdöl würde von nun an immer mehr zurückgehen, 1992 wäre der letzte Tropfen verfeuert. Bekanntlich stellte sich das als Bullshit heraus.
Grüner wird’s nicht mehr
Immerhin, die neue Priesterklasse gerät schon mal in die Defensive. Vom Ende der grünen Komfortzone künden allerlei hocherschrockene Stücke in Zeit oder Stern. Wie es denn bloß angehen könne, dass den Grünen so viel „Hass“ entgegenschlage! Dass sich junge Männer zunehmend nach Steuerbord wenden (während junge Frauen unbeirrt gen Backbord tendieren), meldete jüngst die NZZ unter Berufung auf die Financial Times und schockierte damit einen großen Teil der Presszunft.
„Die Zukunft ist offen, auch für ein neues bürgerliches Zeitalter“, schreibt Wendt am Ende seiner luziden Betrachtung. Und er erzählt ausführlich, was im November 1819 auf Hawaii geschah. Da ließ der Sohn des verstorbenen Königs bei einem Fest in seinem Palast Schweinefleisch zu jenen Tischen bringen, die ausschließlich für Frauen reserviert waren. Zu denen setzte er sich zum gemeinsamen Mahl, brach damit gleich zwei Tabus der überkommenen kapu-Ordnung. Nach der war Schweinefleisch für Frauen streng verboten. Und Männer durften nicht mit Frauen essen.
Was geschah?
Es erfolgte kein Aufstand der Priesterkaste, kein Aufruhr im Volk. Im Gegenteil. Da war ein großes Aufatmen über den Bruch mit dem hochkomplizierten kapu-System, das ungezählte sinnfreie Regeln aufgestellt hatte, auf deren Übertretung die Todesstrafe stand. Alle Frauen aßen an diesem Tag Schweinefleisch. Anschließend brannte das Volk die Tempel nieder. „Innerhalb kürzester Zeit entglitt den Priestern ihre Machtbasis, nämlich der Glaube, nur kapu sei in der Lage, die Gesellschaft zusammenzuhalten“, schreibt Wendt.
Allein für diese wunderbare, poetische Ermutigung lohnt es sich, sein Buch zu lesen.
Wolfgang Röhl, geboren 1947 in Stade, studierte Literatur, Romanistik und Anglistik. Ab 1968 Journalist für unterschiedliche Publikationen, unter anderem 30 Jahre Redakteur und Reporter beim „Stern”. Intensive Reisetätigkeit mit Schwerpunkt Südostasien und Lateinamerika. Autor mehrerer Krimis.
Seine Besprechung zu „Verachtung nach unten“ erschien zuerst unter dem Titel „Ist Peak Woke schon erreicht?“ bei AchGut.
Alexander Wendt, Verachtung nach unten. Wie eine Moralelite die Bürgergesellschaft bedroht – und wie wir sie verteidigen können. Edition Olzog im Lau-Verlag, Hardcover mit Schutzumschlag und Lesebändchen, 372 Seiten, 26,00 €.
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