Alles neu mit Correctiv

Potsdam und Correctiv werden dereinst in der historischen Literatur als Einschnitt stehen. Von nun an musste sich kein Journalist mehr darum scheren, ob sein Produkt aktuell ist und die Wirklichkeit einfängt. Von nun an war Relevanz alles und Wahrheit nichts. Von Michael Meyen

Die Plotabteilung hat es aus der Romanwelt von Uwe Tellkamp in die Wirklichkeit geschafft. Dieser Satz ist so natürlich falsch. Schriftsteller produzieren die Wirklichkeit nicht, sondern müssen sie einfangen, wenn sie gelesen werden wollen. Ein Buch wie „Der Schlaf in den Uhren“ kann „sagen, was ist“ (Rudolf Augstein), weil es vorgibt, Fiktion zu sein, und so jede Empörungswelle ins Leere laufen lässt.

Auch dieser Satz stimmt so nicht, wie gerade Uwe Tellkamp leicht bezeugen kann, aber das ist eine andere Geschichte und trotzdem ein Link zu dem Buch, das vor mir auf dem Tresen liegt. „Chiffre“ steht auf einem Cover, das zwischen Pink, Rosa und Magenta blinkt und eher Erbauungsliteratur erwarten lässt als Tiefgang. Untertitel: „Correctiv und andere Wirklichkeiten“ – eingefangen von zwei Teilnehmern (Silke Schröder, Ulrich Vosgerau) an einer Veranstaltung, die unter der Chiffre „Potsdam“ in das kollektive Gedächtnis gebrannt worden ist, drei Publizisten (Ralf Schuler, Cora Stephan, Klaus-Rüdiger Mai), einem Geheimdienstmann (Helmut Roewer) und einer Kulturwissenschaftlerin (Bettina Gruber).

So haben Universitätsinsassen noch vor nicht allzu langer Zeit Sammelbände konzipiert. Möglichst viele Blickwinkel und Mosaiksteine zusammentragen, damit sich das Publikum ein Bild machen und die Gelehrten im ewigen Streit auf das nächste Level kommen können. Vorbei. Es gibt diese Sammelbände nicht mehr, zumindest nicht mehr in den klassischen akademischen Verlagen. Welcher Professor soll es wagen, gegen die Moral der Herrschenden anzuschreiben und damit alles zu riskieren, was auf Reputation und Einkommen einzahlt – Zitationen, Zweit- und Drittmittel, große Bühnen?

Virtuoses Romanwunder
„Ist es tot, das Biest?“ oder Der politische Vernichtungskampf der Literaturkritik
Susanne Dagen, Buchhändlerin und Verlegerin mit einer DDR-Geschichte, ficht so etwas nicht an. (…) Die Freiheit von den Zwängen des Wissenschaftsbetriebes hat es der Verlegerin erlaubt, gewissermaßen „mittendrin“ Uwe Tellkamp zu platzieren – mit einem Auszug aus seiner Romanfortsetzung, der nicht nur Vorfreude liefert, sondern zugleich Kontrast, Kontext, Einordnung. „Nachrichten aus der Flüchtlingskrise“ steht über diesem 30-Seiten-Stück.

Und damit endlich zur Plotabteilung. Potsdam und Correctiv werden dereinst in der historischen Literatur als Einschnitt stehen. Von nun an, wird es dort heißen, musste sich kein Journalist mehr darum scheren, ob sein Produkt aktuell ist und die Wirklichkeit einfängt – soweit das nach bestem Wissen und Gewissen eben geht. Von nun an war Relevanz alles und Wahrheit nichts. Von nun an brauchte es keinen Schleier mehr wie bei 9/11 oder noch 2015, in der Romanwelt von Uwe Tellkamp. Von nun an heiligte der Zweck auch ganz offiziell jedes Mittel.

Vielleicht werden solche Retrospektiven noch Rammstein nennen und die Kampagne gegen Till Lindemann, für die sich die Beteiligten selbst nach vielen juristischen Niederlagen mit einer Podcast-Serie feierten. In Kurzform: Mag in unserer Geschichte auch längst nicht alles gestimmt haben, so war es doch richtig und wichtig, diesen Sänger an den Pranger zu stellen, um die vielen unschuldigen Mädchen vor bösen alten Männern zu warnen und endlich auch die Musikbranche von all dem Schmutz zu befreien, der die neue reine Welt bedroht.

Potsdam ist größer. Mit Potsdam hat sich der „Journalismus“ sowohl vom „Tag“ verabschiedet, der in ihm steckt, als auch vom Bemühen, wenigstens in Form und Sprache Distanz und Sachlichkeit zu simulieren. Mit Potsdam hat die Medienbühne zu sich selbst gefunden und eine Räuberpistole mit Preisen überschüttet. Hauptsache, das Ergebnis stimmt. Ein Land steht auf „gegen rechts“. Wer wird sich da noch mit Details aufhalten?

Dem Zweifel einen Raum geben
Der Nachrichtenforscher
Es ist immer undankbar, einen Sammelband zu rezensieren – erst recht, wenn er so gut ist wie dieser. Eigentlich müsste ich jeden Beitrag einzeln würdigen. Uwe Tellkamp sowieso, weil er die Mechanismen der Mythenproduktion in einem Sound freilegt, der sich nicht kopieren lässt, aber auch alle anderen. Augenzeugen, Analytiker, journalistische Beobachter.

Damit der Tresen nicht zu einer Studierstube wird, hier nur das Nötigste. Der Historiker von übermorgen wird in diesem Buch alles finden, was er braucht:

  • Insiderwissen zu einem „beängstigend durchinszenierten Jahrmarkt-Coup, der mit Journalismus kaum noch etwas zu tun hat“ (Ralf Schuler),
  • Recherchen von Tichys Einblick, bei denen es auch um die Geheimdienste geht,
  • Einblicke in ein journalistisches Feld, das 2024 Tilo Jung feiert (Journalisten sollen Leute „darüber informieren, was sie wissen sollen und nicht, was sie wissen wollen“) oder Carolin Emcke („Pro und Kontra“ abschaffen, weil solche Formate angeblich zur „Spaltung der Gesellschaft“ führen),
  • die Vorgeschichte vom „Aufstand der Anständigen“, im Jahr 2000 ausgerufen von Gerhard Schröder, über Sebnitz und den Berliner Breitscheidplatz bis zum Chemnitzer Stadtfest 2018,
  • schöne Begriffe für das Fundament jeder Kampagne, formuliert von Ulrich Vosgerau (zweiter und dritter öffentlicher Dienst – auf der einen Seite NGOs und Beauftragtenheer und auf der anderen all die Menschen, die darauf achten sollen, dass das „immer weiter ausufernde staatliche Nebenregelwerk“ eingehalten wird) und
  • einen Blick auf das, was für den Moment bleibt und alle „Potsdamer“ mit dem Label Kontaktschuldgefahr brandmarkt („Verschwörungstheorien“ und Wikipedia).

In dieser Aufzählung fehlt Bettina Gruber, die wissen möchte, warum sich so viele Menschen haben täuschen lassen, und in ihrem Text Psychologen wie Mattias Desmet widerspricht, wobei Desmet hier nur als Chiffre steht für eine Forschungsrichtung, die uns aus Geschichte, sozialer Position und individueller Erfahrung herausnimmt und nicht verstehen will, dass sich Alte und Junge, Dörfler und Städter, Akademiker und Nichtakademiker auch psychisch genauso unterscheiden wie Menschen aus dem 19. von Menschen aus dem frühen 21. Jahrhundert.

Bettina Gruber borgt ihre Antwort bei Manfred Kleine-Hartlage, der mit seinem Konzept „Metaideologie“ auf Gemeinsamkeiten von Liberalismus und Sozialismus zielt. Beide, sagt Kleine-Hartlage, mögen die alten Bindungen nicht („Volk, Familie, Kirche“), wollen buchstäblich jeden fangen, kennen keine Grenzen und träumen von einer „völlig herrschaftsfreien Gesellschaft“. Bettina Gruber:

„Es gibt einen ungeheuren Widerstand gegen die Idee der Selbstbehauptung wie gegen die Wahrnehmung berechtigter Interessen; beides würde bedeuten, mit den utopistischen Forderungen, die weite Teile der Bevölkerung mittlerweile verinnerlicht haben, zu brechen. Denn sich von diesem äußerst vagen, aber emotional hochbesetzten Grundkonsens zu entfernen, würde für viele Menschen heißen, zunächst einmal weltanschaulich ins Nichts zu stürzen. Ein Schritt zur Seite, und man findet sich in einem Abgrund wieder, in dem es keine Wegzeichen mehr gibt und möglicherweise das absolut Böse in Gestalt des „Rechten“ lauert. Die Fähigkeit, eine bedrohliche Realität überhaupt erst zur Kenntnis zu nehmen, die Bedingung jeglichen Veränderungswillens wäre, wird damit effektiv zerstört.“

Ich lasse das einfach mal so stehen und trinke auf Susanne Dagen.

Dieser leicht gekürzte Beitrag von Prof. Dr. Michael Meyen ist auf der Site der Freien Akademie für Medien und Journalismus erschienen. Wir danken Verfasser und Akademie für die freundliche Genehmigung zur Übernahme.

CHIFFRE. Correctiv und andere Wirklichkeiten. Mit Texten von Bettina Gruber, Klaus-Rüdiger Mai, Helmut Roewer, Ralf Schuler, Silke Schröder, Cora Stephan, Uwe Tellkamp und Ulrich Vosgerau. EXIL im Buchhaus Loschwitz, Englische Broschur, 160 Seiten, 19,00 €.


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Kommentare ( 4 )

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Peter Pascht
3 Tage her

„Schriftsteller produzieren die Wirklichkeit nicht“
Aber die „medial politische Hegemonie“ produziert Wirklichkeit mit ihrer „linksextremistischen Gaunersprache„,
dann sogar ein strafrechtlich geschützte „Wirklichkeit“ wie in allen Diktaturen.

Peter Pascht
3 Tage her

Es ist ein bekanntes Merkmal der „stalinistisch-leninistischer Dogmatik“, die Deutung über die Sprache zu erobern, um die „medial politische Hegemonie“ über die Gedanken zu erobern. Ja diese „linksextremistische Gaunersprache“ hat sogar Einzug gehalten in Gesetzgebung und Strafrecht. „Das gute Kitagesetz“, „Das Gender Selbstbestimmungsrecht„. Es kann mir niemand „seldstbestimmt“ aufzwingen, ob schwarz, schwarz ist und weiß, weiß ist. Das ist kein „Selbstbestimmungsrecht“ sondern eine aufgewzungene „Deutungshegemonie“ über die Realität, mit dem Verbot der eigenen Wahrnehmung. Das ist Paranoia !!! kein „Selbstbestimmungsrecht“ (Beispiel: „Stalins letzte Paranoia“, „Jüdische Allgemeine“, vom 22.01.2023) Das typische Merkmal von schlimmsten „Orwell*scher“ Diktaturen, bis in in die Privatsphäre der… Mehr

Last edited 3 Tage her by Peter Pascht
Jens Frisch
3 Tage her

Diesen Sammelband werde ich mir ziemlich sicher zulegen. Im Jahr 2021 hat die Jury, die das „Unwort des Jahres“ kürt auch die „Floskel des Jahres“ verkündet:
Eigenverantwortung.
Seitdem weiß ich, was ich vorher nur vermutet hatte:
Wir sind schon im Sozialismus.

BK
3 Tage her

Die geheime Sprache des korrekten Journalismus konnte bereits entschlüsselt werden. Hier die ersten Ergebnisse:
# Deutschland ist ein reiches Land = Wir plündern euch aus

# Unsere Demokratie = Ihr habt nichts zu melden

# Selbstbestimmungsgesetz = Wir verar%chen euch

# Klimawandel = Ihr habt zu gehorchen

# demografischer Wandel = Arbeitet bis in hohe Alter

# Migration = Wir hassen euch

# EU = Euer Unheil

# Nazi, Faschist, Populist = Jeder, der sich beklagt

# besorgter Bürger = Verdächtiger

# Realpolitiker = Lügner

# Regierungsprogramm = Abrissplan

# Subvention = Schmiergeldzahlung

# Parteifreund = Erzfeind