Christian Lindner scheitert am Realitätsverlust des Berliner Politikbetriebs

Christian Lindner glaubt, mit einem einzigen Papier die FDP neu positionieren und drei Jahre Regierungshandeln vergessen machen zu können. Wie irrsinnig das ist, kann ihm gar nicht auffallen. Denn er leidet an einem Symptom, das den ganzen Politikbetrieb befallen hat.

picture alliance/dpa | Kay Nietfeld

Über Ricarda Lang zu spotten, ist zu einem gewissen Volkssport geworden. Nun hat es die scheidende Vorsitzende der Grünen ihren Gegnern auch nicht allzu schwer gemacht: jegliche Ausbildung abgebrochen. Mehrere unglückliche Auftritte hingelegt. Am schlimmsten der, als sie meinte, gesunde Ernährung aus einer Privatsache zu einer politischen Aufgabe machen zu müssen, obwohl sie selbst – vorsichtig ausgedrückt – nicht gerade nach Erfolg in diesem Bereich ausgesehen hat.

Doch mit dem angekündigten Rückzug aus ihrem Amt hat Lang nicht nur angefangen, sich mehr um die private Ernährung zu kümmern. Sie hat auch bemerkenswert kluge Dinge gesagt. In einem Interview kritisierte sie etwa die verschrobenen Vorstellungen des Berliner Politikbetriebs: Deren Vertreter kämen zusammen und entwürfen Texte, bei denen es jedem nur darum ginge, einen Satz von sich selbst reinzubringen. Danach dächten sie, dieser eine Satz würde zum Volk durchdringen und diesem als ihr Erfolg in Erinnerung bleiben. Doch in Wirklichkeit sei nur ein Sammelsurium aus zusammenhanglosen Sätzen entstanden, das keiner mehr verstehe und von dem keiner mehr weiß, was das überhaupt soll. So klug wie Lang können nur wenige journalistischen Analytiker den Berliner Politbetrieb beschreiben.

Lang hat sich in ihrer Analyse auf Texte bezogen. Als Parteivorsitzende hat sie mit dem konkreten Regierungshandeln nichts zu tun. Das geschieht in den Ministerien. Doch dort geht es nicht anders zu. Auch da verhandeln die einzelnen Vertreter aneinander – und an jeder Logik – vorbei. Der eine setzt das Streichen von Subventionen durch, der andere verhandelt neue Subventionen hinein. Am Ende denken alle, sie hätten einen Erfolg erzielt, mit dem sie beim Wähler punkten könnten. Doch in Wirklichkeit haben sie nur Murks abgeliefert, den keiner versteht: Etwa, wenn bestehende und irgendwie funktionierende Subventionen auf Kosten unsinniger geopfert wurden.

Wie sehr sich der Politbetrieb vom gesunden Menschenverstand entkoppelt hat und nur noch seiner eigenen Logik folgt, hat sich in dieser Woche an maximal prominenter Stelle gezeigt: im Versuch Christian Lindners, seine FDP aus der Ampel zu lösen. So als ob ein Papier drei Jahre Regierungshandeln vergessen machen könnte: Wenn Lindner jetzt das Bürgergeld kürzen will, das er selbst um 25 Prozent innerhalb eines Jahres erhöht hat. Wenn der FDP-Chef jetzt das Ende des Lieferkettengesetzes verlangt, das er selbst beschlossen hat. Oder wenn er den Klimaschutz in Frage stellt, auf dessen Altar der Oberliberale mit das Recht von Hausbesitzern geopfert hat, selbst über ihre Heizung entscheiden zu dürfen.

Ultimatum an SPD und Grüne
Christian Lindner blamiert sich wie selten ein Politiker zuvor
Lindner glaubt das wirklich, dass ein Papier genügt, das alles vergessen zu machen. Ebenso wie den Atomausstieg trotz Krieges in der Ukraine. Das „Selbstbestimmungsgesetz“, mit dem die FDP zugestimmt hat, das Aussprechen der Wahrheit zu kriminalisieren. Die Verlängerung der Pandemie oder die Impfpflicht für Pfleger und Soldaten, obwohl die Durchseuchung schon bewiesen war. Die staatlich finanzierten Meldestellen, die Kritik an der Regierung im Internet bekämpfen. Die Innenministerin, die unter dem dröhnenden Schweigen der FDP-Minister das Vereinsrecht missbraucht hat, um kritische Medien zu verbieten. Das alles meint Lindner schon gar nicht mehr erwähnen zu müssen, das würden die Leute schon von alleine vergessen. Jetzt, da sie sein Super-Duper-FDP-Papier lesen können.

Für Lindner und die FDP ist dieses Papier die neue Wahrheit und sind die drei Jahre davor vergessen. Für die Wähler nicht. Hier zeigt sich, wie die Denkwelten von Regierenden und Regierten mittlerweile auseinandergedriftet sind. Für den Politiker zählt der Spiegelstrich, den er selbst durchgesetzt hat, nicht der ganze Rest, den er mitträgt. Für den Bürger zählt die funktionierende Heizung, die er trotzdem vorzeitig erneuern muss. Die Beiträge zur Krankenkasse, die massiv steigen, obwohl die Leistungen weniger werden. Den Brief, den sie von der Integrationsbeauftragten bekommen, in dem diese sie auffordert, 1000 Euro Strafe zu zahlen, weil sie als Betreiber keine Männer in die Frauensauna lassen wollen. Wie kann der Wähler das mit uns verbinden, denkt sich der FDP-Politiker. Hat ihr Wolfgang Kubicki sich nicht klar von Ferda Ataman distanziert? Mit richtig scharfen Worten? Wie kann die FDP eine Ferda Ataman mitwählen, denkt sich der FDP-Wähler. Wieso ist diese Frau immer noch im Amt, fragt er auch.

Ricarda Lang verschwindet vorerst nun aus der ersten Reihe der Politik. Schade, dass sie jetzt erst anfängt kluge Dinge zu sagen. Tragisch, dass es aber in der ersten Reihe vermutlich gar nicht möglich wäre, kluge Dinge zu sagen. Dass der Politikbetrieb jeden wegkegeln würde, der sich dem gesunden Menschenverstand verpflichtet fühlt, statt der Logik des Politikbetriebs. Dass dieser Betrieb im Inneren Brandmauern baut – aber nicht merkt, dass er sich mit seinem abgehobenen Denken selbst gegenüber dem Volk einmauert. Nichts ist dafür so sehr ein Ausdruck wie der Schutzgraben, den der Bundestag derzeit um den Reichstag bauen lässt.

Es wäre klug, wenn der Politikbetrieb auf die neue Ricarda Lang hören würde. Die Analytiker ebenso wie die Handelnden. Es gibt zwar keine Erfahrungswerte dafür, was passiert, wenn ein demokratischer Politadel entsteht, der sich vom Volk abgekoppelt hat. So sehr abgekoppelt, dass er mit dem Paragraphen 188 des Strafgesetzbuches die Majestätsbeleidigung gegen sich wieder zur gesonderten Straftat erklärt hat. Doch dass aus dieser Abkopplung nichts Gutes entstehen kann, das liegt auf der Hand.

Die Ampel endet demnächst, Christian Lindner verschwindet damit aus der Politik und der Politikbetrieb erhält damit womöglich noch einen, der, von dem Druck der ersten Reihe befreit, kluge Analysen liefert. All das ist ein Anfang. Doch erst wenn die erste Reihe verstanden hat, dass sie nicht mit einer abgehobenen Logik am Volk vorbeidenken kann, ist wirklich ein entscheidender Schritt passiert. Das muss sie dann noch umsetzen. Sehr viele Konditional-Voraussetzungen. Zu viele, um wirklich an bessere Zeiten zu glauben.

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Kommentare ( 20 )

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taliscas
10 Stunden her

Die Gattung „Wendehals“ wird wieder populär. Diesmal in Magenta-Gelb, glaube ich, waren die Farben.

Last edited 10 Stunden her by taliscas
stefanvolker
10 Stunden her

Die gleich Weltfremdheit und Realitätsvergessenheit findet man doch bei allen gesellschaftsrelevanten Gruppen: Gewerkschaften, Kirchen, Universitäten, Instituten, Konzernen, … ; Hauptsache, der Regierung nach dem Munde geredet, damit der Rubel weiter rollt und die Karriere keinen Knick bekommt. Parole: Sturheil.

imapact
10 Stunden her

Das einzige, was diese „Regierung“ noch zusammenhält, ist der Klebstoff, mit dem ihre Mitglieder an ihre Pöstchen geleimt sind. Daher liefert sie dem Publikum Scheingefechte und Symbolpolitik, wie vor 2 Monaten das sog. „Sicherheitspaket“, das umgehend wieder entkernt wurde. Auch Lindners Papier wird in irgendeinem faulen Kompromiss enden, damit die Truppe sich weiter schleppen kann, um die 4 Jahre voll zu machen. Die FDP hat den Absprung schon lange verpasst.

Helfen.heilen.80
11 Stunden her

Dank einer speziellen, überwiegend außenpolitischen Konstellation könnte ich mir vorstellen, dass Herr Lindner diesmal handeln könnte. M.E. handelt es sich diesmal nicht um ein „hier blinken aber dort handeln“, denn er hat hat ein vermeintliches „Profilierungsmanöver“ aus demoskopischer Überlegung gar nicht nötig. In absehbarer Zeit drohen der FDP keine (Landtags-) Wahlen, erst in einem Jahr im Bund. Und am Verlauf für diese Partei wird sich nichts mehr ändern. M.E. wahrscheinlicher: man könnte dieses „kleine Bühnenstück“ geschickt dafür nutzen um ad hoc auf die morgige US-Präsidentenwahl reagieren zu können. Ein wenig zeitversetzt am 15. Nov. , bei der Haushaltsdiskussion. Auch wenn… Mehr

Last edited 11 Stunden her by Helfen.heilen.80
abel
11 Stunden her

Ich weiß einfach nicht warum man Scholz immer unterstellt das Er Kanzler bleiben will.

ceterum censeo
10 Stunden her
Antworten an  abel

Ich weiß einfach nicht, warum man Scholz unterstellt, dass er Kanzler IST!

Turnvater
10 Stunden her
Antworten an  abel

Das Amt des Kanzlers verhindert vorerst, daß er für diverse andere Dinge vor Gericht und ins Gefängnis kommt.

Alf
11 Stunden her

Christian Lindner scheitert am Realitätsverlust des Berliner Politikbetriebs.
Und woran scheitert Scholz?
„Ich bin der Kanzler“
Nur das Land und seine Bürger wollen nicht wissen, wer der Kanzler ist.
Weiß der Kanzler überhaupt, was das Land und seine Bürger von einem Kanzler erwarten?
3 Jahre sind vergangen und das Land ist ruiniert.
Pragmatismus sei die richtige Maßgabe?
wiki – Der Ausdruck Pragmatismus (von altgriechisch πρᾶγμα pragma „Handlung“, „Sache“) bezeichnet umgangssprachlich ein Verhalten, das sich nach situativen Gegebenheiten richtet, wodurch das praktische Handeln über die theoretische Vernunft gestellt wird.
Nur das Polittheater der Ampel hat mit Vernunft nichts zu tun.

BK
11 Stunden her

Wenn Lindner das Flaschenpfand von 8 auf 10 Cent erhöhen wollte, würde er nicht mal das bei Habeck durchbekommen. Der ist sowieso die graue Eminenz und hat Scholz in der Tasche. So läuft das in Berlin.

abel
11 Stunden her

Es geht nur noch darum die 5% Marke zu überschreiten. Die hofft der Lindner noch als Abschiedsgeschenk an die FDP zu liefern. Ansonsten geht Er nämlich (festgelegt) ins Geschichtsbuch ein als Zerstörer der FDP oder sollte ich sagen als Insolvenzvollstrecker. Sollte der Clou nicht gelingen wird er wohl für einige Jahre abtauchen oder gleich Deutschland für immer verlassen.

Europafriend
11 Stunden her

„So klug wie Lang können nur wenige journalistischen Analytiker den Berliner Politbetrieb beschreiben.“
Na, wenn das so ist, werden wir ja über kurz oder lang eine richtig tüchtige Kanzlerin bekommen. Sehr guter Artikel.

Deutscher
11 Stunden her

Lindner ist der Ampelmacher. Strategisch gesehen trifft ihn die größte Schuld an den letzten 3 Jahren und ihren Folgen. Er ist es, der den Grünen mehr Macht verschafft hat, als sie je zuvor hatten. Selbst wenn er die Ampel jetzt platzen lässt: Es ist 3 Jahre zu spät und die Suppe auszulöffeln wird wieder mal dem Volk überlassen bleiben, während Lindner sich auf seinen Milliönchen ausruhen kann.

Last edited 11 Stunden her by Deutscher