We’re not in der alten Republik anymore: eine Festschrift zum 75. Jahrestag der DDR

Zur Einheitsfeier am 3. Oktober gab die Politikerelite zu Protokoll, dass sie mit dem Land von 1990 nichts mehr anfangen kann. Aber Vorsicht: Wir erleben auch nicht wirklich die Auferstehung der Honeckerei. So einfach ist es nicht.

picture alliance / ZB | Sascha Steinach

Nein, bei der Bundesrepublik Deutschland handelt es sich nicht um die Fortsetzung der DDR mit anderen Mitteln. Ob und was das gerade am 3. Oktober von einer Funktionselite gefeierte Land des Zusammenstehens (Frank-Walter Steinmeier) seinerseits noch viel mit der alten Grundgesetzbundesrepublik gemein hat, daraus ergeben sich ein paar Antworten, mit denen dieser Text sich abmüht.

Bestdeutschland unterscheidet sich in etlichen Punkten wirklich von dem Ostland hinter der damaligen antifaschistischen Brandmauer, in der der Autor dieses Textes seine ersten 24 Jahre verbrachte. Aber dass dieser Text eher die Unterschiede herausstellt, sagt auch etwas über die Gegenwart aus. Jedenfalls beschäftigt er sich mit dem gerade verrauschten Einheitstag am 3. Oktober einerseits und dem imaginären 75. Geburtstag eines untoten Staates andererseits. Beginnen wir mit der Frage, welches Land und welche Einheit Politiker und sonstige Repräsentanten vor ein paar Tagen eigentlich feierten und warum ihre Reden dabei so klangen, als würden sie diesen Tag so schnell wie möglich hinter sich bringen wollen.

Um mit diesem Punkt anzufangen: Sie klingen so, weil die Redner weder mit der alten Bonner Republik noch dem vereinigten Land von 1990 viel anfangen können. Damit wirken sie authentisch, denn es gibt tatsächlich nur noch wenig, was diese Zeiten mit dem Jahr 2024 ff. verbindet. Ein Bildprogramm sagt mehr als tausend Textbausteine, deshalb lohnt es sich, das kurze Video nebst Ansprache der designierten Grünen-Vorsitzenden Franziska Brantner zum Tag der deutschen Einheit auf X anzuschauen.

Musikuntermalt verkündet die Amtsträgerin im leisen Tremolo NLP-Sätze wie: „Mutige Menschen gaben Hoffnung und die Hoffnung gab den Menschen Kraft, sich zusammenzutun und dadurch Unmögliches möglich zu machen.“ Dazu laufen Filmschnipsel: Genschers Auftritt vor den Ausreisewilligen in der deutschen Botschaft in Prag, ganz kurz Leipziger Montagsdemonstranten mit dem Ruf „Wir sind das Volk“, der Tagesschau-Ausschnitt vom 3. Oktober 1990. Dann wieder die Politikerin: „Auch heute geht es wieder darum, mutig daran zu glauben, dass die Vielen gemeinsam Unmögliches schaffen können.“

Franziska Brantner bekleidet das Amt einer Wirtschaftsstaatssekretärin bei Robert Habeck, und sie strebt wie gesagt gerade den Vorsitz einer Regierungspartei an. Aus beidem sollten sich für Teil zwei ihres Videos ein paar Themenfelder ergeben, auf denen vielleicht nichts Unmögliches, aber immerhin Nötiges geschafft werden könnte. Deutschlands Wirtschaft schrumpft gerade und das im Gegensatz zu allen anderen Industriestaaten. Ansässige Firmen exportieren neuerdings nicht nur Güter, sondern Arbeitsplätze, umgekehrt lassen sich Unternehmen von außen oft nur noch gegen die Leistung fantastischer Zahlungen aus der Staatskasse nieder.

Fünfeinhalb Millionen Menschen beziehen Bürgergeld, wobei es sich bei fast der Hälfte nicht um Bürger des Landes handelt. Nach der sogenannten IGLU-Studie von 2023 erreichen 25 Prozent der Schüler nach Ende der Grundstufe noch nicht einmal die ohnehin niedrigen Mindestanforderungen im Textverständnis. Im ehemaligen Musterschülerland Baden-Württemberg können 29 Prozent der Kinder am Ende der 4. Klasse nicht rechnen. Vielleicht wäre es ja eine schöne unmöglich-mögliche Aufgabe, die deutsche Analphabetenquote von derzeit 12,1 Prozent ein wenig zu senken? So viele Menschen oberhalb des Einschulungsalters können nämlich nicht, wie es heißt, sinnentnehmend lesen und zusammenhängend schreiben.

Damit hält sich die Bundesrepublik nur noch hauchdünn über dem Analphabeten-Weltdurchschnitt von 13 Prozent. Im deutschen Kaiserreich lag diese Quote übrigens je nach Quelle zwischen drei und einem Prozent. Und diese Zahl entspringt keiner „Fehlinterpretation“, wie eine eilig von ARD-Faktenfindern alarmierte Expertin zu Protokoll gab: Die kaiserliche Armee erfasste damals schon aus Eigeninteresse den Alphabetisierungsgrad ihrer eingezogenen Jahrgänge, Statistikbüros arbeiteten damals ebenfalls ziemlich akkurat.

Staatsverständnis
Die neuen Adligen von Berlin
Eine von vielen nicht mehr für möglich gehaltene Wende bestünde heute beispielsweise darin, den Niedergang des Landes wenigstens aufzuhalten. Die Bilder, mit denen Brantner die Jetztzeit illustriert, in der mutiger Glauben etwas schaffen will, zeigen allerdings Folgendes: Eine Gegen-Rechts-Demonstration in Chemnitz nach der Correctiv-Wannsee 2.0-Story, eine Black-Lives-Matter-Demonstration, Kamala Harris, Regenbogenfahnen, das Bundesverdienstkreuz für die Corona-Impfstoffentwickler von BioNTech, die ihre Forschungsabteilung vor einiger Zeit aus wirtschaftlichen Gründen nach Großbritannien verlegten, ferner Donald Tusk, der in der Tat etwas für unmöglich Gehaltenes schaffte, indem er gleich nach seinem Amtsantritt den alten öffentlichen Rundfunk abschaltete, weil er ihm zu konservativ schien. Nur ein ganz kurz in die Bildfolge geschnittener Fußballfan in schwarz-rot-goldenem T-Shirt bezieht sich ikonografisch auf Deutschland, die Bundesverdienstkreuzverleihung und die Antifa-Demonstration immerhin räumlich.

Das Land, dem der Nationalfeiertag eigentlich gilt, kommt nur noch als kleines Einsprengsel in einem One-World-Imagefilm mit progressivem Richtungspfeil vor. Vermutlich handelt es sich bei dem einzelnen Fußballfan um ein großes Zugeständnis. Gegen wen die Demonstranten in Leipzig im Oktober 1989 auf die Straße gingen, welche Verhältnisse sie damals abschütteln wollten, kommt im Sprechtext der künftigen Grünen-Chefin nicht vor. Dem Deutschland der Vergangenheit schenkt sie also so gut wie keine Aufmerksamkeit, dem der Gegenwart aber auch nicht, was den Schluss zulässt, dass sie weder mit dem einen noch dem anderen sonderlich viel anfangen kann. Ihre Vorstellung bewegt sich erkennbar im Supranationalen. Wer das für eine polemische Übertreibung hält, sollte sich eine andere Wortmeldung Brantners vom 5. Oktober anschauen.

Dieser, wie es heute heißt, Mindset erklärt das Desinteresse am eigenen Land und damit auch an dessen Niedergang ganz gut: Wer an einer weltweiten neuen Gesellschaft mitbaut, kann sich nicht auch noch um die Wirtschaftsentwicklung und die Analphabetenrate daheim kümmern, also um Nebenwidersprüche.

Schauen wir uns ein paar andere Verlautbarungen aus dem politisch-medialen Feld um die Zeit des 3. Oktober an. Was die Absender aus Berlin schreiben und sagen, steht ganz nach dem Modell Brantner kaum noch in Verbindung mit der alten Westgesellschaft vor 1990, bezieht sich nur noch pro forma auf das vereinte Land danach, knüpft aber auch nicht ganz direkt an den SED-Staat an, also den 7. Oktober. Es liegt zwischen den historischen Punkten und strebt zu etwas anderem. Wohin, darum soll es hier gleich gehen.

Die stellvertretende Parlamentspräsidentin Katrin Göring-Eckardt erinnerte am 30. September an den Auftritt Hans-Dietrich Genschers vor den DDR-Müden in der Prager Botschaft vor 35 Jahren, referierte ganz kurz zu deren Gründen („sie hatten die Einschränkung der Redefreiheit satt“), um dann zur Nutzanwendung für die Gegenwart zu kommen, also das, wofür sie das Video überhaupt produzierte: „Es ist falsch, Grenzen hochzuziehen und Mauern zu bauen, auch heute.“

Wer heute die Absicht hegt, eine Mauer zu errichten, erklärte sie nicht; um Volksfeste herum stehen bekanntlich keine Mauern, sondern nur Poller oder Betonquader, und gewissermaßen als Pendant dazu legen Tiefbautrupps gerade vor dem Reichstag einen Burggraben an. Grenzen mit zum Schießen vergatterten Soldaten, die dazu dienen, die eigene Bevölkerung einzusperren, und Grenzkontrollen, die verhindern sollen, dass jeder, der es will, ins Land kommt, stellen für die Politikerin jedenfalls mehr oder weniger das Gleiche dar. Ihr Parteifreund, der kommende Grünen-Vorsitzende Felix Banaszak erhob am 3. Oktober einen Führungsanspruch gegenüber anderen Parteien mit der Feststellung, nur die Grünen könnten eine wirksame Politik gegen Faschisten und Putin-Fans betreiben, weshalb jeder, der Kritik an ihnen übt, besser die öffentliche Arena verlassen sollte, weil er entweder der einen oder der anderen Feindgruppe als Handlanger dient.

Robert Habeck wiederum rief die Opposition – also nicht die gesamte, sondern Teile davon – am 3. Oktober zum Schulterschluss für die nächsten fünf bis zehn Jahre auf, um der aus unerfindlichen Gründen schwächelnden Wirtschaft ein bisschen Vertrauen zu geben.

"Unsere Demokratie"
Der UDEMismus in unserer Zeit: ein kurzer Lehrgang
Der Bundeskanzler beklagte in seiner Rede zum 3. Oktober, dass bei Wahlen in drei ostdeutschen Ländern „Populisten, die unsere Demokratie bekämpfen wollen“, bis zu einem Drittel der Stimmen bekommen hätten, wobei es aber immer noch die übergroße Mehrheit der „Vernünftigen und Anständigen“ gäbe. Es kommt nicht alle Einheitsfeiertage vor, dass der Regierungschef gut einem Drittel der Bewohner eines bestimmten Landstrichs bescheinigt, unvernünftig und unanständig zu sein, ohne sich überhaupt die Frage zu stellen, warum sich die Leute dort politisch so entscheiden. Er merkte nur an: „Es wird viel harte Arbeit nötig sein, um diese Entwicklung zurückzudrehen.“ Offen bleibt die Frage, wie er sich das Zurückdrehen von Wahlergebnissen en detail vorstellt und von wessen harter Arbeit er sich hier etwas erhofft. Eine Teilantwort gibt die Bundesnetzagentur mit ihrer Ankündigung Anfang Oktober, dass in Deutschland ab sofort sogenannte Trusted Flagger ihre Tätigkeit aufnehmen – ein regierungsnaher Verein, der an Posts auf Facebook, X und anderen Plattformen nach Gutdünken markieren darf, wenn seine Mitarbeiter irgendetwas für „Hass und fake news“ halten. Da eben das hochamtliche Wort von der missachteten Meinungsfreiheit in der DDR fiel: Beim Markieren soll es nicht bleiben. Laut Bundesnetzagentur dient die Bestempelung dazu, bestimmte Inhalte „schnell und ohne bürokratische Hürde“ aus dem Netz zu putzen.

Die offizielle Übersetzung von Trusted Flagger lautet übrigens „vertrauenswürdiger Hinweisgeber“. Die Bundesnetzagentur, dies nur zur Information für die Jüngeren, wurde 1998, also in der fossilen Bundesrepublik, als Behörde zum Verbraucherschutz und gegen Netzmonopole gegründet. Ihre sukzessive Umwandlung in eine bundesweite Überwachungsstelle für private Kommunikation unter dem Patronat eines grünen Laufbahnfunktionärs steht in nuce für eine Entwicklung, die uns eins zwei drei im Sauseschritt in eine schon angebrochene neue Zeit führt.

Diese kleine Sammlung politischer Äußerungen im, wie Frank-Walter Steinmeier sagen würde, Spannungsfeld zwischen dem dritten und dem siebten Oktober bringt uns zu der Frage: Was lässt sich über diese neue Zeit sagen?

Zum einen, siehe oben, dass in ihr kaum noch eine innere Verbindung zur Epoche namens Altbundesrepublik besteht. Mehr oder weniger vertrauenswürdige Hinweisgeber riefen damals in dieser schwarzrotgoldenen Antike bei „Aktenzeichen xy“ an, wo es um die Aufklärung echter Straftaten ging, Politiker bepöbelten damals nicht Millionen Bürger, um ihnen dann, wenn sie einmal unfreundlich zurückkeilen, den Staatsanwalt auf den Hals zu hetzen, wobei der Freispruch in zweiter Instanz mittlerweile schon als Glücksumstand und gleichzeitig als kleiner Restbestand der fast überwundenen Ära gilt.

Mandatsträger kannten noch den Unterschied zwischen Wohnungs- und Zellentür, die DDR lag in den Neunzigern schließlich nicht weit zurück. Eine Wirtschaftsstaatssekretärin oder -staatssekretär sah ihren respektive seinen Aufgabenbereich nicht im Aufbau einer progressiven Weltgesellschaft, sondern in irgendwelchem banalen Regierungskram mit deutschem Wirtschaftsbezug. Der Ressortchef selbst stellte sich die Idealgesellschaft nicht als großen Schulterschluss zwischen Regierung und Opposition vor, er hätte auch niemals öffentlich bejammert, dass die Untertanen-Bürger ihn nicht ausreichend lieben, obwohl er sie ab und zu mit kleinen Gaben aus der von ihnen überreich gefüllten Steuerschatulle belohnt.

Rechts gehörte in diesen sagenhaften Zeiten zu den legitimen politischen Richtungen genauso wie links, es herrschte die allgemeine Erkenntnis, dass der Nationalsozialismus nicht mehr bekämpft und nicht ständig ‚Faschismus‘ genannt werden muss. Bei „Asylsuchende“ dachte man vor allem an Iraner, die sich vor Khomeini in Sicherheit brachten, bei Zuwanderern an türkische Arbeiter bei Opel und den italienischen Gastwirt um die Ecke. Jedenfalls – der 7. Oktober markiert schließlich noch einen anderen Jahrestag – nicht an arabische Herrenmännchen, die aus Freude über Raketen, die auf Tel Aviv niedergehen, in Berlin Szenen aufführen, die auch aus Ramallah stammen könnten.

Die Analphabetenrate ähnelte eher der im Kaiserreich, es gab einen Bundesgrenzschutz, dafür aber keine Ausweiskontrolle in Berliner Schwimmbädern. Auch keine Meldestellen für Legales, aber von oben stigmatisiertes Verhalten. Über den Außenminister amüsierte man sich nur wegen dessen Ohren und kaum ein Mensch kannte den Namen des aktuellen Verfassungsschutzpräsidenten. Dafür kannten viele die Namen der Chefredakteure von Spiegel und Stern. Bei Florian Illies, Christian Kracht und anderen lässt sich viel über die Langeweile dieser Epoche nachlesen. Und ohne Zweifel handelte es sich bei Ede Zimmermann von „xy“, dem Tagesschau-Sprecher Karl-Heinz Köpcke, bei Hans-Dietrich Genscher und Geheimdienstchefs wie Meier, Frisch und Fromm um Langweiler von hohen Graden. Dafür las sich der Spiegel unterhaltsam.

3. Oktober statt 17. Juni
Freiheit statt Einheit: Zum Tag der Deutschen Einheit
Dem einen oder anderen Westsozialisierten, der nichts anderes kannte als diese Gediegenheit über mehrere Generationen hinweg, stand der Sinn möglicherweise um 2015 herum nach ein bisschen echter und nicht nur dahingeredeter Dekonstruktion, kurz Zertrümmerung allzu friedlicher innerer Verhältnisse, zumal diese spezielle Sorte von Jungprogressiven mit der DDR vor allem Trabi-Safaris in Berlin und neuentdeckenswerte Dinge wie Mietpreisbremse und Produktionslenkung verband. Was die altbonner Langeweile und Langeweile überhaupt angeht: Sie lässt sich erst mit der Epoche des großen Um- und Abbruchs sinnvoll in Beziehung setzen. Ein alter chinesischer Fluch lautet: „Mögest du in aufregenden Zeiten leben.“

Und nun zur Zone. Der Autor dieses Textes schrieb schon mehrfach, gerade die Achtziger in der DDR hätten sich zumindest für diejenigen, die nichts mit ihr anfangen wollten, wie ein ewiger Sonntagnachmittag im elterlichen Wohnzimmer angefühlt. Man verbrachte die Zeit vor allem mit Lesen und Warten. Wer diese Jahre erlebte, kennt aber auch die Unterschiede zu unserer hybriden Steinmeier-Brantner-Haldenwang-Gegenwart. Geschichte reimt sich höchstens, ganz gelegentlich auch mit Kehrreim. Aber einmal ernsthaft: Zu DDR-Zeiten konnten Männer mit Plastejacken und Klappfix am Morgen klopfen und einen ohne Begründung mitnehmen. Man konnte keinen echten Anwalt und dazu noch eine Entsprechung von Ralf Höcker für die Öffentlichkeitsarbeit anrufen. Freisprüche gab es auch in den höheren Instanzen nicht.

Unbotmäßige Jugendliche verschwanden im Jugendwerkhof, Grenztruppensoldaten, die sich weigerten, auf Zivilisten zu schießen, im Armeeknast Schwedt. Trusted Flagger hießen IM und die Bahn mit der eigenartigen Bezeichnung Reichsbahn sah so aus, als hätte sich seit dem letzten Reichsverkehrsminister nicht mehr viel getan. Mit anderen Worten, sie funktionierte noch schlechter als die Deutsche Bahn heute und mehr oder weniger so wie die Gesamtwirtschaft hinter Zaun und Mauer. Und das, obwohl oder gerade weil sich die zuständigen Funktionäre nicht um den Globalfortschritt kümmerten, sondern um die Versorgung der Bevölkerung mit Frischfisch und Bettwäsche. Sehr viele Insassen wünschten dieses Land zu verlassen, die Ausreise geschah per Gnadenakt und selbst Juso-Kader von drüben eilten gleich nach dem Händeschütteln mit Eberhard Aurich wieder zurück in ihren erzfeindlichen Kapitalismus.

Nein, alles in allem überwiegen die Unterschiede und das auf allen Gebieten. Den Politbüromännern (Quote gab es auch nicht) muss man unterstellen, dass sie den Untergang ihres 108000-Quadratkilometer-Reichs zwar objektiv betrieben, aber nicht wollten. Auch nicht als Auflösung in einem Weltganzen. Sie verachteten das Land nicht, das sie kaputtregierten. Im Gegenteil, sie liebten es und liebten doch alle darin, wenn auch auf ihre sehr spezifische Weise. Wenn es überhaupt eine Ähnlichkeit zwischen ihnen und den heutigen Kadern der eigentlich schon halb wegtransformierten Bundesrepublik gibt, dann den Umstand, dass beide Gruppen den Bonner Staat und die dazugehörige Gesellschaft bekämpften. Erstere allerdings erfolglos.

George Orwells „1984“ als Gebrauchsanleitung
"Bürgerrat" empfiehlt Meinungskontrolle – und Nancy Faeser dankt
Wer dem kommenden Grünenduo lauscht oder von den Plänen der Grünen erfährt, Immobilieneigentümer beispielsweise so mit neuen Steuern auszuquetschen, dass sich vermietetes Wohneigentum als Altersvorsorge nicht mehr lohnt, und wer die Gewichtsverschiebung vom Materiell-Ökonomischen zur reinen Propaganda wahrnimmt, der kann schon auf die Idee kommen, dass Neoprogressive meinen, der Sozialismus wäre in der DDR vor allem deshalb gescheitert, weil er in der Hand von Ossis lag, weshalb es jetzt Versuch zwei durch westdeutsche Politikwissenschaftsabsolventen geben müsse, die schlauerweise nicht über Marx, sondern über Gramsci kommen. Überhaupt, wer die kurzen Biografien von Franziska Brantner, Felix Banaszak und drei weiteren Dutzend Nachwuchspolitikern liest, der weiß: Der Berufsfunktionär erlebt seine Wiederkehr.

Das mag alles sein. Die DDR lebt sich punktuell hoch, hoch, hoch. Durchaus. Nicht zuletzt in der Klangfarbe, etwa, wenn Apparatschiks erklären, dass sie ihre Politik den Menschen jetzt noch besser erklären müssten. In der DDR herrschten plumpere, brutalere und, ja, zum anderen auch leichter zu bekämpfende Verhältnisse. Es gab von vornherein weniger Wohlstand zum Verfeuern. Die Gegenwart in der Phase nach der klassischen Bundesrepublik wiederholt die DDR nicht. Es gibt sehr viel mehr wirtschaftliche Substanz, die sich noch verfeuern lässt, das durchaus. Es herrscht aber trotz Meldestellen, vertrauenswürdiger Flaggenpersonen und durchgedrehter Staatsanwälte sehr viel mehr Bewegungsfreiheit. Es existieren sehr viel mehr Möglichkeiten zum Spott, zum demonstrativen Nichtunterhaken. Auch Möglichkeiten, sich zu wehren. Alles in allem, der Autor beispielsweise dieses Textes riskiert überhaupt nichts, außer über das Schreiben einen der letzten warmen Herbsttage zu verpassen.

Wenn es ein Fazit zwischen dem 3. Oktober und dem 75. Jahrestag der untoten deutschen Unrepublik gibt, dann erstens, in Anlehnung an den Zauberer von Oz, wo es hieß: „we‘re not in Kansas anymore“: Wir sind nicht mehr in der Bundesrepublik von 1949 und 1990. Aber wir fliegen auch nicht zurück in den ostzonalen Staat, sondern vorwärts, mit erkennbarer Richtung, aber unklarem Ziel.

Wir leben in aufregenden Zeiten.


Unterstützung
oder

Kommentare ( 37 )

Liebe Leser!

Wir sind dankbar für Ihre Kommentare und schätzen Ihre aktive Beteiligung sehr. Ihre Zuschriften können auch als eigene Beiträge auf der Site erscheinen oder in unserer Monatszeitschrift „Tichys Einblick“.
Bitte entwerten Sie Ihre Argumente nicht durch Unterstellungen, Verunglimpfungen oder inakzeptable Worte und Links. Solche Texte schalten wir nicht frei. Ihre Kommentare werden moderiert, da die juristische Verantwortung bei TE liegt. Bitte verstehen Sie, dass die Moderation zwischen Mitternacht und morgens Pause macht und es, je nach Aufkommen, zu zeitlichen Verzögerungen kommen kann. Vielen Dank für Ihr Verständnis. Hinweis

37 Comments
neuste
älteste beste Bewertung
Inline Feedbacks
Alle Kommentare ansehen
Michael Palusch
1 Monat her

„der Autor beispielsweise dieses Textes riskiert überhaupt nichts, außer über das Schreiben einen der letzten warmen Herbsttage zu verpassen.“
Das möge auch immer so bleiben, schließlich wurde der verehrte Autor längst als der Neuen Rechten nahestehender Intellektueller gelabelt.

Spyderco
1 Monat her

„… der Autor beispielsweise dieses Textes riskiert überhaupt nichts, außer über das Schreiben einen der letzten warmen Herbsttage zu verpassen.“

Im Gegensatz zum Normalbürger,der ggf. riskiert,Arbeit,Wohnung,soziales Umfeld sprich:die Existenz zu verlieren.

Auch ein Unterschied zur DDR:Die Stasi-Schergen und Honecker-Jünger ließen selbst ihre Gegner,nach Entlassung aus Bautzen,weder arbeits-noch obdachlos zurück…
Ich schreibe aus Erfahrung. 😉

Last edited 1 Monat her by Spyderco
Schmidtrotluff
1 Monat her

Wenn es ein Fazit zwischen dem 3. Oktober und dem 75. Jahrestag der untoten deutschen Unrepublik gibt, dann dass die Regierungen damals und heute weder legitimiert noch rechtmäßig im Amt waren und sind. Mit jedem Betrug und jeder Lüge deligitimiert sich das Regime selbst. Allein der Bruch des Amtseides sowie alle weiteren Handlungen zum Schaden Deutschlands sind kriminell.
Da kann es keine 2 Meinungen geben. Es fehlt nur eine handlungsfähige Justiz. Die Konsequenzen sind klar. Schuldunfähigkeit ausgeschlossen.

Haeretiker
1 Monat her

Dem Autor ist zuzustimmen, dass die vergangenen zwei deutschen Staaten sich in ihrer Agonie erheblich unterscheiden. Es war und ist Agonie. Denn auch die noch vorhandene Substanz wird aufgezehrt und Nachwachsendes verhindert wenn nicht gar vernichtet.
Dass wir heute so etwas schreiben können, sollte nicht darüber hinwegtäuschen, dass es nichts bewirkt, der Mehltau erstickt alles. Und die Machthaber züchten diesen Mehltau. In der DDR wirkte die Stasi mehr oder weniger „disziplinierend“, heute ist es die Angst vor dem wirtschaftlichen Ruin. Was nun die Pest oder Chlera ist, mag dann jeder selbst beurteilen.

Theophil
1 Monat her

Es ist immer ein Vergnügen, den klugen Gedanken Alexander Wendts nachzuspüren. Das eigentliche Wunder ist, dass der deutsche Nationalstaat immer noch bzw. wieder existiert, nachem er den großen Nachbarn im Westen zwei Mal (1914 und 1940), den großen Nachbarn im Osten ebenfalls zwei Mal (1917 und 1941) an den Rand der Existenz gebracht hat. Der Preis, den die Sowjets für die Wiedervereinigung verlangten – die Pflege der Ehrenmäler der Roten Armee -, war bescheiden im Vergleich zu den Preis, den wir immer noch an die Westmächte zahlen: die Aufgabe der D-Mark und damit der wirtschaftlichen Potenz, letztlich die Aufgabe der… Mehr

Lizzard04
1 Monat her

Nun, wir glauben der rot-grüne Spuk der Gegenwart wird schon bald zu Ende sein! Irrtum! Schon jetzt sollten die potenziellen CDU Wählern kommendes Jahr zur Kenntnis nehmen, dass es mit Merz (und der SPD als Juniorpartner mit den 10 Prozent Grünen anstelle der FDP) ein klares „Weiter so“ geben wird und zwar in allen Krisenbereichen (illegale Migration, Deindustrialisierung, Energiewende, Demokratieabbau). Allerdings bieten eine digitale Währung, Klima-Social Credit System und digitaler Impfpass noch many room for improvement auf dem Weg zum kompletten Totalitarismus! Von daher Prost, und sauft bevor gar nichts mehr geht!

Tesla
1 Monat her

Kann man das, was Brantner in ihrem Video auf X zusammen geschnitten hat (bzw. zusammen schneiden ließ), schon als „kulturelle Aneignung“ bezeichnen? An der der Wende 1989 und der dt. Einheit 1990 hatten die Grünen keinerlei Anteil daran. Im Gegenteil: sie waren damals gegen die Einheit, wofür sie bei den Bundestagswahlen dann auch die Quittung bekamen und aus dem Bundestag flogen. Sie waren schon damals die schlimmsten Spalter wie heute immer noch. Und Rufe wie „Wir sind das Volk“ würden Grüne heute als „rechtsextrem“ oder „Hassrede“ o.ä. kriminalisieren, weil sie selbst nichts mit dem Volksbegriff anfangen können (und auch nicht… Mehr

doktorcharlyspechtgesicht
1 Monat her

Was für ein bemühter Text. An den Haaren herbeigezogene Vergleiche, die nirgendwo standhalten. Es gab in der armen DDR keine dermaßen überzogenen Vergütungen für Politiker und sogenannte Manager wie das heute üblich ist. Es wurde auch keiner auf Bürgergeld nach Hause geschickt; die DDR konnte sich das gar nicht leisten und jede Arbeitskraft wurde dringend gebraucht. Es mangelte trotz bester Bildungsmöglichkeiten stets an Facharbeitern. Eine uferlose Staatsverschuldung wie heute war damals unmöglich; die DDR konnte ihre Verbindlichkeiten in den 80iger Jahren sogar abbauen, freilich auf Kosten der Bevölkerung. Wer hier von bösen Jugendwerkhöfen schwätzt, sollte einmal in die dunkle Geschichte… Mehr

Michael Palusch
1 Monat her

In der DDR wurde einem Regimekritiker auch nicht die komplette Existenz zerstört. Denn nach der Verbüßung seiner Strafe mußte er sich in der sozialistischen Produktion „bewähren“.
Gut, das Studium war passé, der Arbeitsplatz wurde zugewiesen und auch sonst hatte man nichts mehr vom System zu erwarten, aber die Zerstörung aller existenziellen wirtschaftlichen Grundlagen inkl. Obdachlosigkeit, dass hatten die Kommunisten damals nicht im Programm.

X1
1 Monat her

„… der Autor beispielsweise dieses Textes riskiert überhaupt nichts, außer über das Schreiben einen der letzten warmen Herbsttage zu verpassen.“ —————— Das ist sie wieder, die Bequemlichkeit, Selbstgefälligkeit und Selbsttäuschung um sich das Bild einer noch leidlich heilen Welt zu bewahren. Wer die Realität nüchtern betrachtet, der kann diese rosarote Weltsicht nicht teilen. Der Autor findet Trost darin, dass es – trotz zunehmender Zensur, Bankkontosperrungen, Anklagen unter irgendwelchen Vorwänden, Antifa-Angriffen und anderen Repressionen – noch Onlinemedien gibt, in denen man Kritik an den Herrschenden üben darf. Was er nicht beachtet ist, dass sich gegenwärtig monumentale Umwälzungen vollziehen, die den Weg… Mehr

Last edited 1 Monat her by X1
Birka von der Oder
1 Monat her

Alle Politiker bzw. Absolventen des Young global leader Programms sind nur Statthalter ehemaliger „Stammesgebiete“ bzw. Provinzen, die durch das globale Geldsystem einer unglaublich reichen globalen Kapitalelite unter Kontrolle gebracht wurden und werden. Die reichen Macker dieses Planeten halten sich selbstverständlich für auserwählt, mit eben diesem Planeten zu machen, wie es ihnen beliebt. Dieser Omnipotenzwahn der Reichen wird von selbigen natürlich nicht als pathologisch-psychische Unzulänglichkeit wahrgenommen; zur Klinik psychischer Erkrankungen gehört zumeist die Unfähigkeit einzusehen bzw. zu erkennen, dass man überhaupt schwer krank ist. Diese Leute stellen Büttel resp Politiker an, die charakterlich ebenso suspekt sind wie ihre Auftraggeber und die… Mehr

Michael Palusch
1 Monat her
Antworten an  Birka von der Oder

Tja, Idocracy ist eben keine Science-Fiction-Groteske, sondern die weitsichtige Interpolation der Realität des Jahres 2006.
Gewalt, Clans, Verblödungsmedien, wirtschaftlicher Niedergang, Pornografie, das alles haben wir ja schon, jetzt warte ich nur noch darauf, dass der erste seinen Garten mit Isotrinks wässert.