Freiheit statt Einheit: Zum Tag der Deutschen Einheit

Wir haben entschieden zu wenig Streit. Weniger Einheit tut not. Die deutsche Einheit, das ist ihr schönes Paradox, hat zwar staatliche Vereinheitlichung geschaffen, doch die Gesellschaft diversifiziert. Meinetwegen auch: gespalten. Gut so.

picture-alliance/ dpa | dpa
In der Nacht vom 2. auf den 3. Oktober 1990 vor dem Brandenburger Tor in Berlin

Schon das ist absurd: Der alte Tag der Deutschen Einheit, der 17. Juni, bezog sich ausdrücklich auf einen Befreiungsversuch der Ostdeutschen. Ausgerechnet er wurde abgeschafft zugunsten des Tags, der doch eher den Westdeutschen „gehört“. Tag des Beitritt, des „friendly takeover“ dieser maroden Firma DDR. Genauso gut hätte man den Geburtstag von Helmut Kohl wählen können.

Es wird, das ist damals noch kaum jemandem klar, nicht nur die DDR abgewickelt, sondern auch die Substanz der Bonner Republik aufgezehrt. Die „innere Einheit“ wird für wichtiger gehalten als der offene Diskurs um den Kurs des Landes. Es ist ein Virus, der das Land nachhaltig schwächt. Was dabei herauskommt, ist die Berliner Republik. Ganz gewiss nicht das, was sich die meisten Ostdeutschen unter dem „Beitritt“ zur Bonner Republik vorgestellt und ersehnt hatten.

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Der zentrale Fehler bestand in der absurden Annahme, weil doch alle Brüder und Schwestern seien, müsse man nur auf den Knopf drücken, und mit Hilfe der weltbesten Bürokratie und der potentesten Steuerzahler werde in Kürze alles in West und Ost gleich. Herausgekommen ist die Berliner Republik.

Mit ihr gerät das Land aus der Balance. Die Parteien verspielen Vertrauen, versagen auf vielen Gebieten, versäumen notwendige Reformen, verfolgen sinnlose Transformationen. Mit der Ära der ostdeutschen Kanzlerin Angela Merkel – sie ist zweifellos ein gewaltiges Trojanisches Pferd der „Einheit“ – bekommt der politische Diskurs Schlagseite. Skeptiker werden schon damals diskreditiert.

Skeptiker der Währungsunion gelten damals als Einheitsgegner und vaterlandslose Gesellen. Nicht anders werden später Migrationsskeptiker als Ausländerfeinde, Impfskeptiker als Covidleugner, Skeptiker der Energiewende als Klimaleugner verunglimpft. Der Abweichler als Feindbild. Damals fing das an. Die Beschwörung einer falschen, inneren Einheit: Es ist der Kern der deutschen Malaise. Das Ergebnis kann heute jeder sehen: Auf dem Gebiet der ehemaligen DDR ticken viele anders als im Westen.

Vor zwanzig Jahren stand mein Buch „Wir sind kein Volk“ auf der Bestsellerliste und ich wäre dafür beinahe gesteinigt worden. Heute veröffentlichen ostdeutsche Soziologen reihenweise schlaue Analysen, in denen nichts anderes steht: Ostdeutsche unterscheiden sich von Westdeutschen. Nur über die Ursachen wird gestritten. Liegt es an der sozialistischen „Sozialisierung“, die sich offenbar vererben lässt, liegt’s an der noch immer existierenden angeblichen Benachteiligung? Oder daran, dass die Ossis den segensreichen Kern des Kapitalismus – pardon: der Sozialen Marktwirtschaft – noch immer nicht begriffen haben und sich überdies gern „führen“ lassen und Populisten auf den Leim gehen?

Egal. Sie sind nun einmal anders. Ein guter Teil von ihnen will sich nicht wessifizieren lassen. Und ich lege größten Wert darauf, auch in Zukunft nicht ossifiziert zu werden. Ich lehne ja auch den Postkolonialismus ab. Die Ossis als ewiges Opfer, die Wessis als ewige Kolonisatoren – geschenkt!

Heute werden die Reden an die Nation widerhallen von zweierlei Geschwätz. Die einen werden die „Vollendung der Einheit“ anmahnen. Als hätten wir nichts Besseres zu tun. Die anderen werden Tränen vergießen darüber, dass Thüringer und Sachsen in ihrer, ja, auch antiwestlichen Widerborstigkeit angeblich die Demokratie gefährden. Ich freue mich darüber, dass die „innere“ Einheit auch nach 34 Jahren noch immer nicht geglückt ist. Ich bin sehr dafür, dass es so bleibt. Als Föderalist ist mir die geistige und politische Unabhängigkeit der Regionen wichtiger als nationalstaatlich-zentralistischer Größenwahn à la Berliner Ampel.

Ein Hoch dem politischen Streit! Man nennt ihn Demokratie, auch wenn die Deutschen – im Osten wie im Westen – in ihrer romantischen, ganz und gar illiberalen Verbohrtheit „im Gleichschritt marsch“ bevorzugen, von Konsens schwärmen und Konformismus pflegen. Geschlossenheit ist Kult im vereinten Deutschland. Es herrscht eine besonders ausgeprägte Form der Harmoniesucht im Dienste vermeintlich höherer Moral. Zusammenstehen gegen Rechts oder Links und überhaupt!

Papperlapapp! Wir haben entschieden zu wenig Streit in diesem Land. Manche Meinung wird von den Massenmedien bis zum Verfassungsschutz als Delegitimierung des Staates verunglimpft. Weniger Einheit tut not.

In dieser Hinsicht hat die deutsche Einheit, das ist ihr schönes Paradox, zwar staatliche Vereinheitlichung geschaffen, doch die Gesellschaft diversifiziert. Meinetwegen auch: gespalten. Gut so.


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Kommentare ( 26 )

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Retlapsneklow
3 Stunden her

„Wir“ haben zu wenig Streit? Was kommt dabei heraus außer einer Einheit im Streit?

Mehr leben und leben lassen. Das wäre die Lösung.

Boudicca
3 Stunden her

Die einzige Einheit, die ich mir wünsche ist, dass man alle Bezüge oder Pensionen von Politikern auf maximal 5000 Euro und politische Ämter auf 2 Legislaturperioden begrenzt.

Mathias Rudek
4 Stunden her

Ein sehr guter Herles.

Dellson
5 Stunden her

Es ist paradox und doch Realität. Medial wird von allen Institutionen über die meinungsführende Öffentlichkeit, jeden Tag ein Vertrauensvorschuß, Verständnis, Empathie sowie Nachsicht bei vielen Handlungen von völlig kulturfremden, unbekannten, sowie teils unseren westlichen Werten ablehnenden Gruppen gefordert, sogar verbal verteidigt, mit dem Argument der Vielfalt, Toleranz und Offenheit. Hingegen den Bürgern in den neuen Bundesländern verweigert man genau diese Freiheit der eigenen Denkungsart und unterstellt ihnen eher eine Art von Undankbarkeit, unterschwelligen Rassismus bis zur Demokratieunfähigkeit! Oft kommen dabei die Defizite dieser Kritiker zum Tragen, die gerne als Grund von Fremdenfeindlichkeit im Land hier als Vorwurf an den Bürgern… Mehr

Waldschrat
5 Stunden her

Nun ist es sicher leicht, rückblickend zu sagen, da wurde alles falsch gemacht. Ich bin Ossi und war auch 1989 mit auf der Straße. Im Kontext zur damaligen Zeit war die innere Einheit schon ein wichtiges und notwendiges Ziel. Es schwelte in der DDR schon viel viel länger, als erst Ende der 1980er Jahre. Da hatte sich der Frust dann lediglich soweit aufgestaut, dass er das Fass zum Überlaufen brachte und es zum Knall kam. Die meisten DDRler hatten die Nase voll von diesem Staat, vom real existierenden Sozialismus. Sicher gab es auch das eine oder andere, was nicht schlecht… Mehr

Toni Rudolf
5 Stunden her

Herr Herles, Sie scheinen völlig auszublenden, dass wir Ostdeutschen die Freiheit gewählt hatten, die für die Westdeutschen selbstverständlich war. Und wer in Unfreiheit aufgewachsen ist, der erkennt halt sehr schnell wenn es wieder in die andere Richtung geht. Das haben die Ostdeutschen ihren westdeutschen Landsleuten unverdientermaßen voraus. Der Westen ist ja nicht mal zu Corona aufgewacht. Spätestens da hätten dle Alarmglocken schrillen müssen, denn bis dahin war das Grundgesetz noch nie ausgesetzt worden.

Necke
5 Stunden her

Das Problem, werter Herr Herles, ist freilich, daß ohne den von Ihnen geschmähten nationalen Konsens – sozusagen ein grundlegendes deutsches Interesse am
Erhalt des eigenen Landes,während über alles andere gestritten werden kann – fremde Interessen ein leichtes Spiel haben. Wie zu besichtigen ist. Frau Merkel, Herr Scholz und Frau Bärbock sind kein dummer Zufall der deutschen Geschichte ! Das Gegenbeispiel ist ein Victor Orban, Ministerpräsident eines kleinen, ökonomisch unbedeutenden Landes. Aber Ungarn ist Ungarn. Deutschland ?? Nur noch im Gespött der anderen identifizierbar. Es mag für Sie abscheulich und befremdlich klingen: Auch der Liberalismus ist nicht aller Probleme Lösung !

JuergenR
5 Stunden her

Beim „zentralen Festakt“ werden über 450 Gäste erwartet, wie ich gerade im Radio hörte. Natürlich auf Kosten der Steuerzahler. Kein weiterer Kommentar.

szenaria
5 Stunden her

Vielen Dank für diesen Artikel.

Zwar sprachen Sie, lieber Herr Herles die unterschiedliche „Sozialisation“ an. Wobei die Hervorhebung des guten Schulsystems wohl eine besondere Betonung verdient hätte. Sachsen ist nach wie vor Spitzenreiter in Sachen Bildungssystem. Mit der Bildung steht und fällt ein System. Ausgenommen Berlin, dürfte bundesweit hierüber wohl ein Konsens bestehen.

Dieser Sachverhalt darf dann gerne als Ausgangs – und Vergleichswert in soziologische Analysen und Statistiken mit einbezogen werden.

Womöglich lässt sich das Fazit solcher Untersuchungen dann als Diversität, Unterschiedlichkeit oder als ganz weit rechts interpretieren.

Harry Charles
5 Stunden her

DER EIGENTLICHE STRICKFEHLER nach der Wiedervereinigung besteht in der Linksverrutschung der Republik. Der Deutsche ist seinem Wesen nach konservativ – in Ost und West. Das galt sogar für viele „DDR“ – Bürger (die ja selbst von der dortigen, sozialistisch-antibuergerlichen Staatsführung so genannt wurden). Und es galt natürlich für die „Wessis“, die über die Dauer des Kalten Krieges von einer damals stramm antikommunistischen, ebenfalls konservativen USA in ihrem Konservatismus bestärkt wurden. 1990, also mit der Wiedervereinigung, schien der Kommunismus, und mit ihm alles Linksradikale, endgültig besiegt. Dass das Linksradikale dann doch wieder erstarken konnte lag einerseits daran, dass sich vor allem… Mehr

Last edited 5 Stunden her by Harry Charles