Erschütternde geistige Hilflosigkeit der politisch Handelnden

Die Dokumente zur Entstehung des Grundgesetzes vor 75 Jahren zeugen davon, mit welcher Bildung, auf welch hoher Ebene die Schöpfer des Grundgesetzes damals argumentierten. Vor diesem Hintergrund fällt der gewaltige Unterschied zur Gegenwart erst wirklich auf. Interview mit Norbert Bolz

Tichys Einblick: Herr Professor Bolz, ob wir uns nun die Migrationspolitik ansehen, die Autosuggestion der Regierung, sie leiste eigentlich gute Arbeit, das werde von den Bürgern nur nicht ausreichend verstanden, oder der ständige Kampf „gegen rechts“: Es scheint, als lebten führende Politiker und Teile der Medien in einer komplett anderen Welt als der Rest der Gesellschaft. Gab es jemals eine so hermetische Zweiteilung der Öffentlichkeit in der neueren Geschichte?

Norbert Bolz: Eine mögliche Parallele in der Geschichte ist nicht ganz einfach festzustellen, ohne die Verhältnisse in der Vergangenheit näher anzuschauen. Abweichende Meinungen, die nicht konform gingen mit der konstruierten Öffentlichkeit, existierten schon immer. Sie waren nur weniger sichtbar als heute in Zeiten der sozialen Medien. Und es gab auch schon zu anderen Zeiten Intellektuelle, die sich in einer von der Politik und den meisten Medien getragenen Ideologie einkapselten. Dass Journalisten. Politiker, Schriftsteller sich in das hineinbegeben, was wir heute „Elfenbeinturm“ nennen, dieses Phänomen sahen wir auch schon früher.

Also gar nichts Neues unter der Sonne?

Wie gesagt, die Neigung eines herrschenden Milieus, sich abzukapseln, ist an sich nichts Neues. Bemerkenswert an der heutigen Situation ist, dass Kritik, selbst wenn sie zu dieser politisch-medialen Elite durchdringt, dort gar keine andere Reaktion als Abwehr bewirkt. Was immer jemand gegen ihre Abirrungen vorbringt, jeder Widerspruch wird dort als Bestätigung aufgefasst, alles richtig zu machen. Die übliche Formel, was die wirtschaftliche Transformation angeht, lautet: Die Welt ist eben noch nicht so weit wie Deutschland und muss deshalb von Deutschland belehrt werden.

Und der Rest der deutschen Gesellschaft, das folgt daraus, ist eben auch noch nicht so weit wie die Elite.

Ist Peak Woke schon erreicht?
Die Erwachten, die Eliten und ihr Klassenkampf von oben
Das ist eigentlich ein typisches Sektenverhalten. So etwas lässt sich sicherlich zum einen mit dem Willen dieses Milieus erklären, ihre materiellen Pfründe nicht aufzugeben. Aber als die noch wichtigere Erklärung sehe ich dessen sektiererische Grundeinstellung.

Um noch einmal auf den Vergleich mit früheren Zeiten zurückzukommen: In dem beispielsweise von Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier in finstersten Farben gemalten Kaiserreich etwa gab es nicht nur politische Organisationen von sehr links bis sehr rechts, sondern auch eine Fülle von Publikationen, über die wir heute nur staunen können. Es gab Kritik und Polemik, der die Herrschenden vergleichsweise gelassen begegneten – denken wir nur an Ludwig Quiddes Satire auf Wilhelm II., damals ein Bestseller. Wie konnte es zu dieser Verengung 120 Jahre später kommen?

Weil diese Zeit tatsächlich so reich und interessant war, hatte ich sie zum Thema meiner Habilitationsschrift gemacht. Es gab in keiner Zeit so viel Kontroverse auf hochgelehrtem Niveau wie in der Kaiserzeit und der Weimarer Republik, das war eine intellektuell extrem fruchtbare Zeit. Und diese Kontroversen wurden unglaublich anspruchsvoll geführt – wenn Sie an Personen wie Carl Schmitt, Hermann Heller, Walter Benjamin denken. Das reichte auch in die Bundesrepublik hinein.

Ich habe vor Kurzem noch einmal die Dokumente zur Entstehung des Grundgesetzes vor 75 Jahren nachgelesen. Man erblasst geradezu, wenn man sieht, mit welcher Bildung, auf welcher hohen Ebene die Schöpfer des Grundgesetzes damals argumentierten. Vor diesem Hintergrund fällt der gewaltige Unterschied zur Gegenwart erst wirklich auf, die erschütternde geistige Hilflosigkeit der politisch Handelnden. Die heutige Elite zeichnet sich durch eine unglaubliche Charakter- und Geistesschwäche aus, verglichen mit der Zeit vor 100 oder auch vor 75 Jahren.

Die heutige politisch-mediale Elite wiederholt vor allem eine Formel: Es gehe darum, „Spaltung zu vermeiden“ und „zusammenzustehen“. Eine Reihe von Presseverlagen vereinten sich kürzlich unter dem Motto „Zusammenland“. Die Autorin Carolin Emcke forderte auf einer Konferenz unter Beifall, in der Gesellschaft dürfe es kein Pro und Contra mehr geben. Spricht das nicht für eine tiefe innere Unsicherheit dieser Leute?

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Der Mut zum freien, riskanten Denken
Natürlich ist das ein Zeichen der Schwäche. In seiner Abhandlung über den Streit kommt der Philosoph Georg Simmel – auch eine große Gestalt der vergangenen Zeiten – zu der zentralen These, dass gerade der ausgetragene Dissens die Gesellschaft zusammenhält, und nicht der Konsens. Wir sind heute genau an dem Gegenpol angelangt – bei dem „Wir“, dem Titel des Buchs von Steinmeier. Für diesen komplett ungebildeten Bundespräsidenten ist das Zusammenstehen, die Verhinderung echter Kontroversen ernsthaft das Bild von einer „guten Gesellschaft“. Das Verständnis, dass es sich genau umgekehrt verhält, ist uns in dramatischer Weise weggebrochen.

Sie haben sich ein Wissenschaftlerleben lang mit Theorie und Praxis der Kommunikation beschäftigt. Angenommen, die Angehörigen des politisch-medialen Milieus würden selbst merken, dass es so für sie nicht weitergeht, und auf die Idee kommen, als Berater jemanden zu engagieren, der gerade nicht zu ihnen gehört, nämlich Sie. Was würden Sie raten?

Sie würden nicht nur nicht auf den Gedanken kommen, mich zu fragen, sondern sie haben auch gar kein Interesse daran, die Verhältnisse zu ändern. Sie wissen ja, dass sie unter den Bedingungen einer offenen Kommunikation in ihrer Machtposition nie überleben könnten.

In puncto öffentlich-rechtlicher Rundfunk zum Beispiel könnte man doch zu dem Schluss kommen, dass sich die Institution nur retten lässt, wenn sie ihren missionarischen Eifer aufgibt. Sonst kommt es möglicherweise irgendwann zu einer derart breiten Zahlungsverweigerung, dass sie sich dann auch mit Reformen nicht mehr stoppen lässt. Kurzum: Gibt es nicht ein gewisses Selbsterhaltungsinteresse?

Was das Teilproblem öffentlich-rechtlicher Rundfunk angeht, habe ich schon vor Jahren gesagt, dass ich das System für unreformierbar halte. Übrigens hat es sogar mich überrascht, dass in den Monaten vor der Europawahl auch die „Tagesschau“ zu einer ganz offenen Propaganda übergegangen ist. Wenigstens für dieses Flaggschiff hätten sie noch einigermaßen den Charakter einer Nachrichtensendung erhalten sollen. Dass sie selbst das aufgegeben haben, war eine große Dummheit der ARD.

Also gar keinen Rat?

Würde ich gefragt, dann würde ich das Gleiche sagen wie der russisch-französische Philosoph Alexandre Kojève, der ja 1968 wirklich gefragt wurde, was die linken Studenten in Berlin jetzt seiner Meinung nach tun sollten. Seine Antwort war: Griechisch lernen.

Über Norbert Bolz: Er hat über Adorno promoviert, Marx und Marcuse gelesen und sagt gleichwohl: „Ich war nie ein guter Linker.“ Bolz, 1953 in Ludwigshafen geboren, gilt heute als intellektuelle Reizfigur, ein Konservativer, der den Zeitgeist kritisiert: „Gendergaga“. Von 1992 bis 2002 war er Professor für Kommunikationstheorie am Institut für Kunst- und Designwissenschaften der Universität-Gesamthochschule Essen mit den Arbeitsschwerpunkten Medientheorie, Kommunikationstheorie und Designwissenschaft. Von 2002 bis zu seiner Emeritierung im Juli 2018 war er Professor an der Technischen Universität Berlin, Institut für Sprache und Kommunikation, Fachgebiet Medienwissenschaft/Medienberatung. Im Herbst 2020 gehörte er zu den Erstunterzeichnern des „Appell für freie Debattenräume“.

Von Norbert Bolz: Der alte, weiße Mann. Sündenbock der Nation. LMV, Hardcover, 224 Seiten, 24,00 €.


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Kommentare ( 12 )

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WandererX1
2 Monate her

…dieser alte Mann hätte ja längst zu einem echten Feministen (mit Zöpfchen hinten) mutieren können, dann wäre die Welt ja längst gut, friedlich, gleich, tierfreundlich, frauenfreundlich, klimafreundlich usw.! Leider ist diese Dummheit (von Geist oder Ungeist möchte ich nicht sprechen) in den priveligierten Milieus der westlichen Welt gang und gebe. Zu unserem Bundespräsidenten kann man fragen: wiviel Einfluss hat sein radikal- feministisches Weib auf ihn. Ich denke einen recht großen. Aber dies zu diskutieren ist unter Männern erst recht ein Tabu (und die wenigsten Frauen können es in der Basis, also metaphysisch) , weil man eine recht neurotische Angst um… Mehr

elly
2 Monate her

Der alte, weiße Mann. Sündenbock der Nation.“
ist nicht alleine, die alte, weiße Frau steht ihm fest zur Seite. Eine Handvoll anbiedernde Omas gegen rechts ändert nichts daran. Der Umgang mit den Älteren im Lande ist eine Schande.
2022 gabs eine Studie zur Altersdiskriminierung mit erschreckendem Ergebnis
https://www.antidiskriminierungsstelle.de/SharedDocs/aktuelles/DE/2022/20221215_studie_altersbilder.html
https://www1.wdr.de/nachrichten/altersdiskriminierung-studie-100.html

ketzerlehrling
2 Monate her

Diese intellektuellen Tiefflieger entspringen diesem Volk. Sie bilden das geistige Niveau ab. Das erklärt auch die Wahlergebnisse, das Denkzettel verpassen, statt richtig nachzudenken.

rainer erich
2 Monate her

Es freut mich, dass Herr Bolz meine Diagnose der “ unglaublichen Geistes – und Charakterschwaeche der aktuellen Elite bestaetigt. Das Problem ist allerdings erschütternd offenkundig. Allerdings, auch das ist ein Problem, stoert es nur eine kleine Minderheit. Schon deshalb, weil es kaum jemandem auffällt, was durchaus interessant ist. Eine kleine Korrektur sei erlaubt. Natuerlich soll nicht nur die Wirtschaft transformiert werden, sondern das Ganze. Und der Prozess laeuft. Es genügt, Typen wie Stegner zu hoeren, um das unglaubliche Elend dieses Landes zu erleben. Allerdings neige ich nicht dazu, dieses Phänomen wie ein Liberalkonservativer hinzunehmen. Ich wiederhole, dass der Prozess oder… Mehr

Fieselsteinchen
2 Monate her

Ist es ein Zeichen von Schwäche, Narzissmus oder schlichter Dummheit pluralistische Meinungsbilder verbieten zu wollen? Mir egal! Die Ursache liegt darin, dass der Souverän es jahrzehntelang zugelassen hat, dass die Ungebildetsten, die Intrigantesten, die Korruptesten seine Geschicke übernommen haben. Eine Bärbock wäre weder von Adenauer noch Wehner oder Schmidt zum Kaffeekochen angestellt worden. Ein Scholz ist der Hohn auf die alte Sozialdemokratie. Merkel? Die, die nach Kohl nicht mal mit Messer und Gabel essen konnte und bis auf den Stumpf abgekaute Fingernägel hatte? Habeck, der mit seinem Laptop auf dem dreckigen Boden eines Bahnhofs hockt? Das sind keine Politiker, das… Mehr

Yani
2 Monate her

“…Die heutige Elite zeichnet sich durch eine unglaubliche Charakter- und Geistesschwäche aus, verglichen mit der Zeit vor 100 oder auch vor 75 Jahren…” Preussen hatte mit seiner Vormachtstellung den rheinländischen und süddeutschen Kleinstaatlern die preussischen Tugenden der Toleranz, Liberalität und das Meritoratieprinzip aufgezwungen. Dies hat im Kleinstaatenteppich noch einige Zeit nach dem Zusammenbruch des Kaiserreiches nachgewirkt. Das alles ist aber ab 33 unter dem bayerisch-rheinländischen Nationalsozialismus und dann spätestens nach 45 mit der Rheinbundrepublik komplett den Bach runter gegangen. Die preussische Meritokratie und Liberalität wurde durch die rheinländische Tugend der lokalpatriotischen Günstlingswirtschaft und des rückgratlosen Opportunismus ersetzt. Das Ergebnis sieht man… Mehr

Last edited 2 Monate her by Yani
Marcel Seiler
2 Monate her

Es ist noch schlimmer: In der dummen Kommunikationskultur verkommt auch die Intelligenz derer, die ursprünglich klug waren.

Wenn man sich gegen jemanden wehren muss, dessen einzige Waffe ein dicker Knüppel ist, dann besorgt man sich etwas, das dem standhalten kann: einen noch dickeren Knüppel. Von dem Land der Dichter und Denker zum Land der dicken Knüppel. Dies Land macht keinen Spaß mehr. Die Intelligenz wird es verlassen.

Selbstdenker
2 Monate her

Nicht nur der ÖRR ist nicht reformierbar. Er ist ja nur noch Teilsystem des gesamten ineinander verschachtelten und verwobenen Machtsystems und dieses als Ganzes ist nicht reformierbar. Was sollte man denn reformieren? Bolz sagt selbst, dass die Personen das Problem sind, genauer gesagt ihr Charakter. Nur Institutionen können reformiert werden und die sind gerade nicht das Hauptproblem. Und damit bin wieder bei dem Thema, das ich hier schon immer anspreche. Das Bewusstsein der Menschen ist das Problem und gleichzeitig die Lösung. Das Problem löst sich von allein, auch wenn das niemand glauben mag, und zwar schneller, als man vermuten sollte.… Mehr

alfredrabe
2 Monate her

In der Januarausgabe der Zeitschrift „Aus Politik und Zeitgeschichte“ von 1963 wurden Aufsätze von Gerhard Stoltenberg und Helmut Schmidt veröffentlicht zum Thema wie die Bezeichnungen rechts bzw. links in der Gegenwart zu interpretieren seien. Unabhängig, ob selbst oder durch Mitarbeiter verfasst- ein solches intellektuelles Niveau findet man heute bei keinem CDU Politiker, in der SPD sowieso nicht. Die Artikel lassen sich leicht finden und stehen als kostenlose pdf Dateien zur Verfügung. Lesen lohnt!

alter weisser Mann
2 Monate her

Westlegenden mal wieder.
Das Grundgesetz mit dem überbetonten Förderalismus ist mitschuld am Heute. Danke für gar nichts.
Ohnehin ist mehr Verfügungsmasse, wenn man die Änderungen so sieht.