Union und SPD weiter im Rückwärtsgang
PolitSeismoGraph zum 1. Mai 2016
Im PolitSeismoGraph (PSG) zum Mai 2016 zeigt sich eine ähnliche Entwicklung, wie sie im Nachbarland Österreich bei den Wahlen zum Bundespräsidenten zu beobachten waren: Die Parteien der Regierungskoalition werden aufgerieben zwischen Grünen und AfD. Deren Entwicklung hängt auch vom Parteitag ab.
Nachdem in den Vormonaten offensichtlich Wählerpotentiale von Union und SPD maßgeblich zum Erstarken der AfD beigetragen haben, zeichnet sich nunmehr unübersehbar ein Trend ab, der sowohl die Grünen als auch die FDP unterstützt. Haben sich bislang vor allem Wähler des kleinbürgerlichen Proletariats von den sogenannten „Volksparteien“ abgewandt, so sind es mittlerweile die sich als Eliten verstehenden Bürger, die den beiden Traditionsparteien den Rücken kehren.
Union und Kanzlerdämmerung
Insbesondere mit Blick auf Union und FDP dokumentiert dieses eine vorsätzliche Protest-Haltung gegen die Union, denn bislang hat die FDP nach wie vor den Nachweis nicht geliefert, aus ihrer katastrophalen Eigenpräsentation vor den August 2010 (damals lag die FDP letztmalig über 5 Prozent) gelernt zu haben. Wenn nunmehr vorrangig die FDP mit 6,8 % Zustimmung bei einem Zuwachs von 1,2 Prozentpunkten (Pp) den Nutzen von der Abkehr von der Union zieht, so dokumentiert dieses, das mittlerweile die liberal-konservative Stammklientel, die mit der AfD nichts anzufangen weiß, der Union und damit Merkel den Rücken kehrt. Die Unionsparteien kommen Anfang Mai bei einem Rückgang um eben jene 1,2 FDP-Pp nur noch auf 34,5 % und haben somit innerhalb eines Jahres acht Prozentpunkte verloren. Wir können daher durchaus von Kanzlerdämmerung sprechen umso mehr, als der Abwärtstrend nicht nur ungebrochen ist, sondern bislang weiter an Geschwindigkeit zunimmt.
SPD „füttert“ Grüne
Noch schlechter ist es um die SPD bestellt, die nun bei 22,6 % Zustimmung liegt und damit zum Vormonat 1,6 Pp verloren hat. Ihre Wähler wechseln offensichtlich derzeit zu den Grünen, die mit 13,3 % den besten Wert seit August 2013 einfahren.
Wenig Bewegung gibt es bei der PdL, die mit jetzt 7,8 Prozent Zustimmung offenbar auf dem Niveau ihrer Stammklientel angekommen ist.
AfD vor Richtungsentscheidung
Die AfD bewegt sich nach wie vor mit nunmehr 11,2 % im Aufwärtstrend, jedoch ist die Zuwachsdynamik der zweiten Hälfte des vergangenen Jahres deutlich gedämpft. Offensichtlich warten Wähler, die sich von den Regierungsparteien abkehren, gegenwärtig ab, ob und welche Impulse von den österreichischen Präsidentschaftswahlen und vor allem dem Programmparteitag der AfD ausgehen.
Vor allem die Frage, ob sich die AfD mit dem von einigen Protagonisten mittlerweile offen deklarierten Anti-NATO- und Pro-Russland-Kurs vorrangig zu einer Partei der Ostdeutschen entwickelt oder mit der Westintegration weiterhin auch für frühere Unionswähler im Westen der Republik wählbar bleibt, harrt einer Beantwortung und dürfte für den PSG im Juni spannende Entwicklungen erwarten lassen.
Der aktuelle Stand
Der aktuelle Stand im Überblick (Änderungen gegenüber Vormonat in Prozentpunkten):
Plötzlich wird Jamaika regierungsfähig
Würde der Bundestag auf Basis der aktuellen Zahlen besetzt, verlöre bei mathematisch insgesamt 632 Sitzen die Union gegenüber April weitere 7 Sitze und käme nur noch auf 227. Die SPD bliebe immer noch zweitstärkste Fraktion mit nun 148 Sitzen – ein weiterer Verlust von drei Mandaten. Die Koalition brächte es damit auf 375 Sitze und eine immer noch komfortable Mehrheit.
Ein deutlicher Sprung nach vorn wäre bei den Grünen zu verzeichnen, die nun bei 87 Sitzen lägen und damit die Oppositionsführung übernähmen. Ihnen folgten die AfD mit 74, die PdL mit 51 und die FDP mit 45 Sitzen.
Ein Linksbündnis aus SPD, Grünen und PdL hätte mit 286 Mandaten gegenüber dem Vormonat zwar Zugewinne verzeichnet, wäre aber immer noch deutlich von einer Regierungsmehrheit entfernt.
Denkbar wird nun ein liberal-konservatives Bündnis aus Union, Grünen und FDP, das mit 359 ebenfalls über eine komfortable Mehrheit verfügte, während es für die schwarz-grüne Option mit 314 Sitzen nicht reichte.
Das in Rheinland-Pfalz gewählte Modell einer Ampel-Koalition aus SPD, Grünen und FDP bliebe mit 280 Mandaten wie das Linksbündnis keine Option.
Nicht mehrheitsfähig wäre eine Koalition aus Union und AfD mit 301 Sitzen, die zur Regierung auf einen weiteren Partner angewiesen bliebe.
„Explodiert“ das Parlament?
Die aktuellen Zahlen weisen unabhängig von den mathematischen Besetzungen des Parlaments auf eine bislang nicht zu überschauende Konsequenz hin, die an dieser Stelle nur angedeutet werden soll.
Die gesetzliche Anzahl der Abgeordneten beläuft sich derzeit auf 598 Mandate. Bereits heute gehen daher über 30 Mandate auf Überhang und Ausgleich. Die aktuelle Entwicklung mit dem deutlichen Rückgang der Zustimmung zu den größeren Parteien könnte dafür Sorge tragen, dass die Zahl der Überhang- und Ausgleichsmandate noch deutlicher steigt.
Angenommen, der Union fielen aufgrund von Wahlarithmetik sämtliche zu besetzenden Direktmandate zu, dann würde sie nach aktuellem Stand 72 Mandate mehr besetzen als ihr zuständen und 299 Abgeordnete stellen. Auch wenn das in dieser Deutlichkeit nicht zu erwarten ist, so stehen dennoch die Chancen gut, dass das nächste Parlament deutlich mehr als aktuell 630 Sitze zu vergeben hat. Dem Gesetzgeber wäre allein schon deshalb anzuraten, sich Gedanken darüber zu machen, wie Direktmandat und Sitzverteilung effektiver miteinander in Einklang zu bringen sind. Möglichkeiten wären:
- der Verzicht auf Direktkandidaten, was jedoch die Kluft zwischen Bürger und gewähltem Politiker weiter vertiefen müsste;
- die Umstellung auf reines Mehrheitswahlrecht, welches zwar das Gewicht des gewählten Bürgervertreters im Sinne basisdemokratischer Wirkung deutlich erhöhen würde, jedoch vorrangig am Widerstand der kleinen Parteien scheitern wird;
- eine deutliche Verkleinerung des Parlaments auf höchstens 500 Basismandate durch Zusammenlegung bzw. Neuzuschnitt von Wahlkreisen.
Fazit
Der offenkundige Trend zu einem Sechs-Parteien-Parlament lässt angesichts der Schwäche der Noch-Volkspartei Union und der Nicht-mehr-Volkspartei SPD neue Konstellationen in den Bereich des Möglichen rücken, an deren vorläufigem Ende die SPD sich in der Opposition wiederfinden könnte. Da für die Sozialdemokraten derzeit die Zusammenarbeit mit der Union die einzig realistische Regierungsoption auf Bundesebene ist und sich mit „Jamaika“ eine Alternative andeutet, wird die SPD-interne Debatte um einen eigenen „Kanzlerkandidaten“ zur Farce. Gleichzeitig wird sich die Partei angesichts des Wählerschwundes die Frage stellen müssen, ob sie überhaupt noch mit einem Regierungsanspruch in den kommende Bundestagswahl gehen will – und dabei aller Voraussicht nach weitere Federn lassen wird – oder sich von vornherein auf Opposition einstellt, um außerhalb der Regierung die Chance zur personellen und inhaltlichen Erneuerung zu nutzen, welche die FDP bislang hat verstreichen lassen.
Anmerkung: Der PolitSeismoGraph basiert auf den Befragungsergebnissen von rund 2.000 Wahlberechtigten und berücksichtigt im Trend die längerfristigen Bindungen der Wähler. Er versteht sich ausdrücklich nicht als Prognostik im Sinne der Wahlvorhersage, da aktuelle politische Einflüsse als kurzfristige Stimmungslagen vorsätzlich abgefangen werden. Der PSG gibt vielmehr die politische Tendenz zum jeweiligen Monatsanfang wieder und dient so vorrangig der Feststellung langfristiger politischer Entwicklungen.
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