„Nicht das Parlament kontrolliert die Regierung, sondern die Regierung das Parlament“

Der Topmanager Heinrich Weiss kritisiert Angela Merkel so deutlich wie kein anderer Wirtschaftsvertreter. Ein Gespräch über großkoalitionäre „Beliebigkeitspolitik“, Populismus als Kampfbegriff, den „VEB“ Volkswagen und den gefährlichen Euro.

© SMS group

Tichys Einblick: Herr Weiss, das Bundestagswahljahr 2017 hat begonnen. Kanzlerin Angela Merkel will sich im September zum dritten Mal wiederwählen lassen. Die Wählermehrheit ist zufrieden mit ihr. Auch Sie?

Heinrich Weiss: Nein, überhaupt nicht.

Was macht Sie unzufrieden?
Die Große Koalition ist ein Totalausfall bezüglich der wirtschaftlichen Zukunftsgestaltung unseres Landes. Unter Frau Merkel hat sich die CDU zu einer populistischen Partei entwickelt, die keine Vision bietet, sondern kurzfristig – oft nach Umfrageergebnissen – regiert. Im Bundestag existiert kaum noch eine Opposition, weil auch die Grünen meistens mit der Großen Koalition stimmen.

Aber warum gleich „Totalausfall“?
Die Reformen zur Stärkung der Wirtschaft, die im CDU-Wahlkampf 2005 noch eine große Rolle spielten, wurden nie verfolgt.

Welche zum Beispiel?
Ich rede von der angedachten Steuerreform, von Verwaltungsvereinfachungen, von Bürokratieabbau und von Infrastrukturinvestitionen. Stattdessen werden Sozialausgaben ohne Rücksicht auf die finanziellen Konsequenzen erhöht und die Wirtschaft überreguliert.

Was könnte der Grund dafür sein?
Möglicherweise haben Politikberater den CDU-Oberen geraten, die Partei mehr nach links zu ziehen, um dem Zeitgeist nachzulaufen und der SPD das Wasser abzugraben.

Was bekanntermaßen geklappt hat.
Für den Machterhalt von Frau Merkel mag das gut sein; für Land und Bürger ist es schlecht. Ich habe den Eindruck, dass linke Ideologen ohne große Lebenserfahrung und ohne Verantwortungsgefühl für die wirtschaftliche Zukunft Deutschlands die Politik bestimmen. Merkels drei größte Fehler – das Management der Energiewende, die inkonsequente Euro-Politik und das Desaster in der Flüchtlingspolitik – zeigen gute Absichten, wurden aber ohne parlamentarische und innerparteiliche Diskussion autoritär und unprofessionell durchgesetzt.

Sie hatten gerade das Wort „populistisch“ benutzt? Was bedeutet es für Sie?
Populismus kommt von Populus – das Volk. Es lässt sich positiv interpretieren, wenn zum Beispiel Politiker dem Volk zuhören und die richtigen Schlüsse aus dem Gehörten ziehen. Aber heutzutage werden vor allem jene als populistisch bezeichnet, die dem Meinungs-Mainstream der Politik und der Massenmedien eigene, kritische Gedanken entgegensetzen. Das Wort ist leider – einer Demokratie unwürdig – zum Kampfbegriff etablierter Politiker und Medien gegen Andersdenkende verkommen.

Warum bezeichnen Sie die CDU als populistisch?
In diese – negative – Interpretation muss ich SPD und Grüne einbeziehen. Negativ populistisch ist beispielsweise die Beliebigkeitspolitik der Parteien: wenn sie etwa teure Wahlgeschenke auf Kosten kommender Generationen versprechen. Wir müssen uns dazu nur unser ausuferndes Sozialsystem anschauen, welches mehr als die Hälfte des Staatshaushalts einnimmt.

Warum sieht dies die Wählermehrheit, die Kanzlerin Merkel weiterhin stützt, offenbar anders?
Die meisten Bürger haben kaum Interesse an Wirtschafts- und Finanzpolitik. Sie wollen angenehm leben und den Besitzstand wahren. Das ist im Prinzip nicht verwerflich. Da zudem die Renten und die persönliche Sicherheit gewährleistet erscheinen, lassen sie den links-grünen Populismus unkritisch über sich ergehen. Dazu tragen natürlich auch die Massenmedien bei.

Wie meinen Sie das?
Die politische Grundhaltung der deutschen Journalistenmehrheit ist links-grün. Außerdem beeinflusst die herrschende Politik die öffentlich-rechtlichen Rundfunk- und Fernsehsender über die Rundfunkräte.

Was würde die Medien aus Ihrer Sicht wieder besser machen?
Weniger Missionierungsdrang, mehr geistige Diversität in den Redaktionen, mehr sachliche Berichterstattung im Sinne einer Dienstleistung und wieder eine klare Trennung zwischen Nachricht und Kommentar.

Wie hoch schätzen Sie das Wählerpotenzial für die AfD ein?
Weiß ich nicht. Aber so lange die Regierung und die Medien die Bürger links-grün erziehen wollen, stärken sie damit die AfD. Die Menschen haben ja sonst keine Möglichkeit, ihren Protest bei Wahlen kundzutun. Sie wählen die AfD trotz ihres lückenhaften Programms und ihres Führungschaos.

Können Sie sich die AfD als Regierungspartei vorstellen?
Nur mit einem schlüssigen Programm und einer klaren Führung.

Sie haben die AfD in ihrer Startphase als einziger prominenter Wirtschaftsvertreter offen unterstützt, sich aber 2015 von ihr abgewendet. Gilt letzteres noch?
Ja. Unterstützt hatte ich sie, weil ihre Gründer Bernd Lucke und Hans-Olaf Henkel die Fehlkonstruktion des Euro und die ständigen Vertragsbrüche durch die Politiker als einzige Partei öffentlich kritisiert haben. Nachdem die Spitze der Partei 2015 ausgewechselt wurde und keine klare Führung mehr erkennbar war, unterstütze ich die Partei nicht mehr.

Inzwischen sagt Angela Merkel ähnliche Sätze wie sie schon länger von AfD-Vertretern zu hören sind. Zum Beispiel, dass sich eine Flüchtlingskrise wie im Spätsommer 2015 nicht wiederholen darf.
Sie hat jetzt verstanden, dass ihre Wiederwahl als Kanzlerin auf dem Spiel steht, wenn sie in der Flüchtlingsfrage nicht beidreht – und dadurch die CSU, aber auch viele CDU-Wähler, wieder für sich gewinnt.

Stichwort CSU: Die Süddeutsche Zeitung schrieb im vergangenen Herbst, diese Partei würde die AfD in der Flüchtlingspolitik „nachplappern“.
Meiner Ansicht nach hat die CSU in der Flüchtlingsfrage klug reagiert. Ansonsten hätte Frau Merkel ihren Kurs wahrscheinlich beibehalten und den Verlust der Kontrolle über den Staat weiter hingenommen.

Verlust der Kontrolle? Sie übertreiben.
Kaum. Prominente ehemalige Bundesrichter sagen: Wenn ein Staat seine Grenzen nicht mehr kontrolliert, gibt er seine Staatlichkeit auf. CSU-Chef Horst Seehofer hat Staatlichkeit und Verfassungstreue zur Recht eingefordert.

Manche Manager, wie Daimler-Chef Dieter Zetsche, äußerten sich positiv zur Flüchtlingswelle, weil die Wirtschaft auf qualifizierte Arbeitskräfte hoffte. Tatsächlich eingestellt haben die Konzerne bislang aber nur verschwindend wenige Flüchtlinge. Woran hakt es?
An Sprachkenntnissen und Ausbildung. Die jungen Leute sind teils nicht einmal für einfache Arbeiten in der Industrie qualifiziert. Aber die Kommunen könnten Flüchtlinge in den Gemeinden mitarbeiten lassen. Warum dürfen sie keine Straßen kehren oder Grünanlagen pflegen, obwohl die Steuerzahler viel Geld für sie ausgeben? Außerdem führt die lange Kasernierung in Flüchtlingsheimen ohne Arbeitserlaubnis zu großen menschlichen Problemen. Da sehen wir, was überbordende Bürokratie und Überregulierungen – wie der Mindestlohn ohne Ausnahmen – anrichten.

Nochmal zu CSU-Chef Horst Seehofer: Wäre er eine Kanzleralternative für Deutschland?
Ich sehe ihn weiter in Bayern. Und er sich wohl auch.

Also ist Angela Merkel alternativlos?
Noch sieht es so aus. Sie scheint über die zwölf Jahre ihrer bisherigen Kanzlerschaft alle möglichen Kandidaten beseitigt zu haben. Das hängt auch mit dem Verlust der meisten Landtags- und Kommunalwahlen zusammen. Früher hatten Bundeskanzler immer profilierte Landes- und Fraktionspolitiker in ihrer Partei, die kanzlerfähig waren. Solche fallen heute nicht auf, erst Recht keine Wirtschaftspolitiker.

Die CDU/CSU stellt seit 50 Jahren keinen Bundeswirtschaftsminister mehr – die Episoden der CSUler Michael Glos und Karl-Theodor zu Guttenberg ausgenommen. Was halten Sie als Wirtschaftsmanager davon?
In der Partei fehlt seit langem die Autorität eines amtierenden Wirtschaftsministers, der auch der Bevölkerung die Vorteile der sozialen Marktwirtschaft vermitteln könnte. Marktwirtschaftlich orientierte Wirtschaftspolitiker werden aber von der CDU-Führung kleingehalten und ausgegrenzt. Wirtschaftspolitik spielt nur noch eine untergeordnete Rolle.

Früher war alles besser, meinen Sie?
Nicht alles, aber sicher die politische Debattenkultur. Als ich von 1983 bis 1988 Vorsitzender des CDU-Wirtschaftsrats war, konnte ich marktwirtschaftliche Positionen noch offen gegen interne Gegner wie Heiner Geißler oder Norbert Blüm vertreten. Trotzdem haben wir uns geschätzt und sind abends gemeinsam Bier trinken gegangen. Mittlerweile haben echte Programmdebatten ausgedient. Parteitage waren mit Ausnahme des letzten CDU-Parteitags in Essen reine Akklamationsveranstaltungen.

Viel Kritik aus den eigenen Reihen bekam die CDU mal für ihre Europolitik – von den Bundestagsabgeordneten Wolfgang Bosbach und Klaus-Peter Willsch zum Beispiel.
Da hört die Liste aber fast schon auf. Herr Bosbach hat aus Protest gegen die Griechenland-Politik der CDU sogar sein Amt als Innenausschuss-Vorsitzender abgegeben. Sogenannte Abweichler müssen damit rechnen, intern kaltgestellt zu werden. Die Demokratie hat sich umgekehrt: Nicht das Parlament kontrolliert die Regierung, sondern die Regierung kontrolliert über die Fraktionsführungen der Parteien das Parlament.

Taugt unter diesen Umständen die parlamentarische Demokratie noch?
Ich finde sie trotz aller Qualitätsverluste immer noch besser als die direkte Demokratie oder autoritärere Staatsformen.

Die Schweiz funktioniert mit der direkteren Demokratie ziemlich gut.
Auch dort stimmt das Volk nicht über alles ab. Das ist gut so, weil die Masse häufig mit Emotion und wenig Ratio entscheidet. Immerhin: Beschränkte Vorstandsgehälter, über die bekanntlich die Aktionäre und nicht das Volk zu befinden haben, sind in der Schweiz abgelehnt worden. In Deutschland wäre es vielleicht anders gekommen.

Kein Wunder, oder? Manager wie Ex-Volkswagen-Chef Martin Winterkorn kassieren Jahresgehälter im zweistelligen Millionenbereich, selbst wenn sie Milliarden Euro an Schaden verursachen. Denken wir nur an die Abgastricksereien bei VW.
Wir müssen die Ausnahmen von der Regel trennen.

Bei VW ist mit dem Land Niedersachsen quasi der Staat Großaktionär.
VW könnte man als den letzten „VEB“ in Deutschland bezeichnen. Manche haben den Konzern wie einen Selbstbedienungsladen missbraucht. Denken wir daran: Die größte Lücke zwischen dem Lebensstandard der oberen Führung und der durchschnittlichen Bevölkerung besteht in sozialistischen Regimen.

Zurück zu Ihrer Kritik an der Bundesregierung. Machen Sie sich keine Sorgen, dass die Kritik Ihnen irgendwann mal schaden könnte?
Nein. Ich fühle mich frei, bin als Person unabhängig vom Staat und praktiziere die grundgesetzlich garantierte Meinungsfreiheit. Als politisch interessierter Bürger im reiferen Alter möchte ich Menschen wachrütteln und meine politischen Erfahrungen weitergeben.

Sie haben aber auch Verantwortung für ein Unternehmen mit fast 14.000 Mitarbeitern.
Die Verantwortung nehme ich jeden Tag wahr. Aber die SMS Group lebt nicht von Staatsaufträgen.

Unter den deutschen Topmanagern sind Sie ein einsamer Rufer. Warum eigentlich?
Fast alle Manager und Unternehmer stimmen meiner Kritik im privaten Gespräch zu, sie wollen es nur nicht laut sagen.

Warum nicht?
Die meisten Großkonzerne sind stark vom Staat und der EU abhängig und wollen es sich mit den Regierungen nicht verderben. Außerdem sind da noch die Vorteile des kranken, künstlich schwachen Euro für die deutschen exportorientierten Unternehmen. Der wirkt wie eine Droge und hilft den Exporteuren.

Ihrem Unternehmen auch, oder?
Ja, natürlich. Aber irgendwann platzt das Euro-System.

Die sogenannte Euro-Rettung läuft schon seit acht Jahren – und damit länger als der Euro ohne Rettungsaktivitäten funktionierte. Wie beurteilen Sie die Leistung der EZB?
Mario Draghi ist Erfüllungsgehilfe einer Mehrheit von EU-Politikern, die verantwortungslos weiterwurschteln will und sich mit viel Geld der Steuerzahler Zeit kaufen. Für die macht er einen guten Job.

Und für wen macht er einen schlechten?
Dabei überschreitet die EZB mit ihrer Staats- und Unternehmensfinanzierung eindeutig ihr Mandat. Die Niedrigzinspolitik ist für die deutschen Bürger äußerst unsozial und das, obwohl die Regierungen sich einen sozialistischen Anstrich geben. Das Sparkonto bringt keine Zinsen mehr, und Stiftungen können ihre Zwecke nicht mehr erfüllen. Die von vielen Bürgern abgeschlossenen Lebensversicherungen müssen ihre Leistungen kürzen und die Firmen müssen zur Erfüllung ihrer Pensionsverpflichtungen ständig Geld aus dem laufenden Ergebnis nachschießen.

Schauen wir auf die Euro-Staaten. Ist die gemeinsame Währung noch ein Integrationsprojekt?
Der Versuch, mit dem Euro die politische Integration Europas zu fördern, hat sich als kontraproduktiv erwiesen. Der Euro bewirkt politische Desintegration. Noch nie gab es so viele Konflikte in der EU. Außerdem ist wissenschaftlich erforscht, dass seit dem Mittelalter keine Währungsunion Bestand hatte, wenn nicht vorher eine gemeinsame Regierung gebildet wurde.

Also sehen Sie die Eurozone auseinanderbrechen.
Ja, innerhalb absehbarer Zeit. Die Stabilitätskriterien wurden von Anfang an nicht eingehalten. Wenn der Euro zerbricht, wird es einen gewaltigen Aufwertungsschub für die deutsche Währung geben, der unser wirtschaftliches Erfolgsmodell nachhaltig schädigen wird.

Die Welt ist komplexer geworden, heißt es immer. Dafür waren die europäischen Verträge vielleicht nicht gemacht.
Es ist eine menschliche Eigenschaft, die Vergangenheit immer positiver zu sehen und die gegenwärtige Situation als besonders schwierig. Dabei wird heutzutage vieles erleichtert. Die Globalisierung hebt den Lebensstandard gerade in ärmeren Ländern, die digitale Vernetzung durch das Internet erleichtert die internationale Kommunikation und erhöht die Produktivität in der Wirtschaft.

Warum sind Sie nie selbst Politiker geworden?
Das habe ich versucht.

Aber?
Helmut Kohl wollte mich 1982 in den Bundestag bringen, aber konnte bei der Kreispartei in Düsseldorf keinen Listenplatz für mich durchsetzen. Als dann der Wirtschaftsrat der CDU einen neuen Vorsitzenden suchte, habe ich das angenommen und konnte zur innerparteilichen Debatte in der CDU beitragen.

Heute wird das Bundesparlament von Juristen, Beamten und Lehrern dominiert. Was bedeutet das?
Regulierungswut, Gängelei und Bürokratie. Bei den Lehrern kommt noch Weltfremdheit hinzu.

Die Welt fremdelt gerade mit dem neuen US-Präsidenten Donald Trump. Allerdings hat er politischen Klüngel, Regulierungswut und Gängelei im Wahlkampf ebenfalls angeprangert. Haben Sie sich gefreut, als er die Wahl gewonnen hat?
Gefreut ist zu viel gesagt. Ich finde aber gut, dass sich mit Trumps Wahlerfolg der Protest über die Alltagsentfremdung der Politik Ausdruck verschafft hat. Nehmen wir ihn als Warnschuss für Europa.

Vielen Dank für das Gespräch.

Vita
Heinrich Weiss wurde am 5. Juni 1942 in Berlin geboren. Schon 1974, nach dem Tod seines Vaters, übernahm der promovierte Elektrotechniker die Geschäftsführung des familieneigenen Stahlmaschinenbauers SMS Group. 2013, nach 40 Jahren an der Unternehmensspitze, gab er die Position ab und ist seither Aufsichtsratschef. Zudem ist er Mitglied der Kontrollgremien von Bombardier und Voith. Politisch mitgestaltet hat Weiss unter anderem als Vorsitzender des CDU-Wirtschaftsrats von 1983 bis 1988 sowie Anfang der 1990-er Jahre als Präsident des Bundesverbands der Deutschen Industrie (BDI). 1982 bis 2012 war der heute 74-Jährige Vorstandsmitglied des Asien-Pazifik-Ausschuss der Deutschen Wirtschaft, 1987 bis 2012 Vorstandsmitglied im Ost-Ausschuss der Deutschen Wirtschaft, 2008 bis 2012 Chef der Deutsch-Russischen Auslandshandelskammer und von 1995 bis 2013 Chef des Außenwirtschaftsbeirats beim Bundesminister für Wirtschaft und Technologie.

Mit Heinrich Weiss sprach Mario Müller-Dofel.

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