„Unbeschulbar“: Wo bleiben die wirksamen Konsequenzen?

"Unbeschulbar" oder die naive Vorstellung von "Inklusion", mit der weder auf den Erziehungsbedarf gefährdender noch auf die Schutzbedürfnisse gefährdeter Schüler Rücksicht genommen wird.

© Lukas Schulze/Getty Images

Am 23. Januar 2018, kurz nach 8 Uhr, ermordete der 15-jährige Alex M. auf einem Flur der Käthe-Kollwitz-Gesamtschule in Lünen, zehn Kilometer nördlich von Dortmund, den 14-jährigen Leon Ronny H. (Klasse 8a) mit Messerstichen in den Hals. Das Motiv sei gewesen, dass Leon die Mutter von Alex provozierend angeschaut habe, als letzterer, bereits von der Schule entlassen, am Tat-Tag einen Termin bei einer Schulsozialarbeiterin wahrnehmen sollte.

Leon Ronny wird am Samstag, 27. Januar, 11 Uhr, zu Grabe getragen. Seine Familie überschrieb die Todesanzeige in den „Ruhrnachrichten“ wie folgt:

„Wo Worte fehlen, das Unbeschreibliche zu beschreiben, wo die Augen versagen, das Unabwendbare zu sehen, wo die Hände das Unbegreifliche nicht fassen können, bleibt einzig die Gewissheit, dass du für immer in unseren Herzen weiterleben wirst.“

Wie immer bei solchen Gewalttaten wird die Öffentlichkeit rasch über das Schicksal des Opfers und seiner Familie hinweggehen; sie wird sich dem Täter zuwenden und hektisch, aber vermutlich wieder ohne jede Nachhaltigkeit darüber nachsinnen, wie so etwas zukünftig zu vermeiden sein wird. Man wird zu keinem Ergebnis kommen, weil man echte Konsequenzen scheut, selbst wenn diese jetzt schon rechtlich zulässig wären (siehe unten). Es wird wieder Placebos geben, denn weder Metalldetektoren an den Schulpforten, noch „mehr Wertebildung“, noch zu deren Sedierung eigens eingerichtete Räume für auffällige Schüler werden etwas ändern. Man wird wieder das Lied vom „Einzelfall“ anstimmen, siehe den notorischen Verharmloser-Kriminologen und vormaligen SPD-Justizminister von Niedersachsen, Christian Pfeiffer. Der Herr Professor scheint wohl vergessen zu haben, dass es in Deutschlands Schulen in den letzten 18 Jahren mehr als dreißig Mordopfer gab: in Erfurt, in Winnenden, in Meißen, in Freising usw.

Nun macht seit dem Lünener Mord ein Begriff die Runde: „Unbeschulbar“ sei der polizeibekannte Täter deutscher und kasachischer Staatsangehörigkeit gewesen. „Unbeschulbar“ – was ist das überhaupt, was bedeutet dieses Wortmonster mit zwei Präfixen und einem Suffix? Nun, es ist dies ein politisch und pädagogisch korrekter Euphemismus für eine Täterpersönlichkeit, die extrem verhaltensgestört ist und die eine Gefahr für sich und vor allem für Mitmenschen darstellt. Da fehlten eigentlich nur noch andere Euphemismen, die sich mittlerweile in der Sprache korrekter Pädagogik eingeschlichen haben: sozial herausfordernd, verhaltensoriginell, verhaltenskreativ. Aber für solche Etiketten war Lünen denn doch zu schlimm.

„Unbeschulbar“ – Was heißt das ein einem Land wie Deutschland, das eine allgemeine Schulpflicht – als übrigens große soziale Errungenschaft – hat? „Unbeschulbar“ – dahinter verbirgt sich entweder ein notorisches Schuleschwänzen oder eine aggressive Lernverweigerung oder ein permanentes „Aufmischen“ einer Klasse oder eine Gefährdung von Mitschülern. Während im Fall des Schulschwänzens wenigstens der Schulbetrieb nicht gestört wird, leiden unter den anderen Formen von „Unbeschulbarkeit“ oft mehr als dreißig andere Schüler: in der betreffenden Klasse, auf dem Pausenhof, im Schulbus.

Es gibt jetzt schon vielerlei Möglichkeiten, mit „Unbeschulbaren“ umzugehen, wenn andere erzieherische Maßnahmen keine Früchte trugen, wenn etwa Ermahnungen, Elterngespräche, vorübergehende Ausschlüsse vom Unterricht nicht fruchteten. Die Versetzung einer solchen jungen Person (in den allermeisten Fällen männlichen Geschlechts) in eine Parallelklasse oder an eine andere Schule kommt wohl nur dann in Frage, wenn dann ein Neustart erwartet werden kann, aber keine reine Verlagerung des Problems befürchtet werden muss. Im Schuljahr 2016/2017 wurden etwa im Regierungsbezirk Köln 534, im Regierungsbezirk Arnsberg 237 Schüler entlassen. Das sind nicht viele angesichts von 2,3 Millionen Schülern in NRW.

Es kann auch die sogenannte Beschulung ausgesetzt und durch Einzelunterricht samt sozialpädagogischer Familienhilfe ersetzt werden. Im Paragraphen 53 des NRW-Schulgesetzes heißt es dazu, eine solche Maßnahmen sei zulässig, „wenn der Schüler durch schweres oder wiederholtes Fehlverhalten die Erfüllung der Aufgaben der Schule oder die Rechte anderer ernstlich gefährdet oder verletzt hat“. Maximal sechs Monate soll diese „Ausschulung“ dauern.

Weiterreichende Maßnahmen wie etwa die Unterbringung in einem geschlossenen Heim werden selten ergriffen, weil es – politisch wohl so gewollt – an der Kapazität der Einrichtungen mangelt, die dergleichen durchführen können. Die rechtlichen Grundlagen für die Betreuung von Kindern und Jugendlichen in einem Heim oder in betreuten Wohnformen gäbe es, zum Beispiel laut Kinder- und Jugendhilfegesetz (KJHG) bzw. laut Sozialgesetzbuch/Achtes Buch (SGB VIII). Oder im BGB Paragraph 1631 b unter der Überschrift „Mit Freiheitsentziehung verbundene Unterbringung“. Dort heißt es: „Eine Unterbringung des Kindes, die mit Freiheitsentziehung verbunden ist, bedarf der Genehmigung des Familiengerichts. Die Unterbringung ist zulässig, wenn sie zum Wohl des Kindes, insbesondere zur Abwendung einer erheblichen Selbst- oder Fremdgefährdung, erforderlich ist und der Gefahr nicht auf andere Weise, auch nicht durch andere öffentliche Hilfen, begegnet werden kann. Ohne die Genehmigung ist die Unterbringung nur zulässig, wenn mit dem Aufschub Gefahr verbunden ist; die Genehmigung ist unverzüglich nachzuholen. Das Gericht hat die Genehmigung zurückzunehmen, wenn das Wohl des Kindes die Unterbringung nicht mehr erfordert.“

Polizeibekannt sei der Täter gewesen. Es wäre interessant zu erfahren, aus welchen Gründen er „polizeibekannt“ war. Weil er gerne ein Messer mitführte? Wenn das bekannt gewesen sein sollte, dann fragt man sich, warum Alex nicht in einem geschlossenen Heim untergebracht wurde. Oder aber hat hier die naive Vorstellung von „Inklusion“ eine Rolle gespielt? Eine seit ein paar Jahren angesagte Vision von Inklusion, mit der weder auf den Erziehungsbedarf gefährdender noch auf die Schutzbedürfnisse gefährdeter Schüler Rücksicht genommen wird.

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Kommentare ( 94 )

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Brigitte Hesse
6 Jahre her

Welche vielgelesene Tageszeitung, welcher vielgesehener Fernsehsender (es muss ja nicht unbedingt KIKA sein!) ergreift sein Recht auf Pressefreiheit, bringt eine Sendung über unbeschulbare Kinder und beantwortet unsere Fragen: Wie wird ein Kind unbeschulbar, liegt es auch am Elternhaus, an der Schule, wann greift Hilfe ein, tut der Staat das Richtige oder verharmlost er das Thema?

Rainer Franzolet
6 Jahre her

Die Einführung von Bootcamps ist absolut angesagt. Für die gewaltbereiten Halbstarken und für das Lehrpersonal, welches das alles zulässt.

Thorsten Helbing
6 Jahre her

Wenn es dann noch freie Wahlen gibt…

asisi1
6 Jahre her

ich bin Jahrgang 1950. zu meiner Schulzeit war der männliche Anteil der Lehrkräfte bei ca. 80%. es herrschte Respekt und Ordnung.
heutzutage hat sich das umgekehrt, ca. 80% des Lehrkörpers besteht aus frauen. und keiner kommt mehr gegen diesen zustand an. alle die heute am lautesten klagen haben das alles angerichtet!

Die Zahnfee
6 Jahre her
Antworten an  asisi1

Habe damals anderes erlebt: ca. 90 % der Lehrkräfte waren weiblich (Großstadt). Dennoch herrschte Respekt und Ordnung, damit konzentriertes Lernen möglich wurde. Wer den Unterricht störte (schwatzen, essen usw.), der bekam einen Eintrag ins Klassenbuch und bei 3 Einträgen wurden die Eltern bestellt. Schulleitung und höhere Instanzen müssen klare Grenzen setzen und dem Personal den Rücken stärken, damit ungestört Wissensvermittlung stattfinden kann. Alles andere ist ein verlängerter Kindergarten ohne schulische Ziele.

Farbauti
6 Jahre her

„Weiterreichende Maßnahmen wie etwa die Unterbringung in einem geschlossenen Heim werden selten ergriffen, weil es – politisch wohl so gewollt – an der Kapazität der Einrichtungen mangelt, die dergleichen durchführen können.“ Wenn ich mich recht erinnere, gab es im Jahr 2000 nur noch eine geschlossene pädagogische Einrichtung. Es war ein Heim für Mädchen in Bayern. Man hatte inzwischen die Auslandsmaßnahme erfunden, bei der der „verhaltensorginelle“ Jugendliche mit einem Einzelbetreuer auf Reisen geschickt wurde. Gerne in den europäischen Süden, aber auch nach Afrika und Kirgisien und andere Balkanstaaten. Kreative Pädagogen reisen gerne. Im Osten hat man arbeitslose russische Lehrer benutzt, um… Mehr

Hand Meier
6 Jahre her

Praxisbeispiel. Raschid ist 18. Er hat mehr als 20 unentschuldigte Fehlstunden pro Monat. Er zwingt die Mitschüler ihm Tribut zu zahlen. Er kommt Stunden zu spät, zeigt eine Bescheinigung vom Jugendamt, er war zu einem Deeskalations-Training eingeladen, weil er eine Polizeiakte als permanenter Schläger hat das lehnt er aber wütend ab. Es steht seine Entlassung wegen Disziplinarverstößen an, doch der stellvertretende Schulleiter verhindert dass, weil der türkische Moschee-Kontakt-Mann es will. Nun nimmt sich Raschid mit einem Kollegen, einen Vertretungslehrer vor, den provozieren sie mit einem Feuerzeug vor der Nase, was der wegwischt und darauf hat Raschid gewartet. Er schlägt jetzt… Mehr

Alter Germane
6 Jahre her

Früher gab es für solche renitenten und gewalttätigen Schüler den „Karzer“ (für eher leichte Fälle) oder wie in der DDR den „Jugendwerkhof“. Sollte man wieder einführen, hierzulande. Ach ja, ich vergaß, das ist ja gegen die Menschenwürde. Nur, welche Menschenwürde hat jetzt noch der ermordete Schüler!?

Peter
6 Jahre her

Schüler wie diesen gibt es zu Zehntausenden in Deutschland. Und dann gibt es auch noch „Beschulbare“, die zu Mördern werden, siehe Erfurt und Winnenden. Solche Morde werden sich in Zukunft nicht verhindern lassen, man kann nur die Wahrscheinlichkeit senken… zum Beispiel dadurch manche Schüler aus den Schulen zu nehmen. Die einen, weil sie die Grenzen der Lernfähigkeit mit 14 erreicht haben – ab in eine 6jährige Ausbildung, Bäume pflanzen statt Wurzeln ziehen. Die anderen in Disziplinarschulen mit besonderem Zusatzpersonal (vgl. StUffz). Disziplin kann man lehren – müssten dann halt 60 (30 Wissen, 30 Disziplin) Wochenstunden sein statt 30 wie in… Mehr

Leonor
6 Jahre her

Sehe ich genauso.
Wenn man diejenige zählt, die afd und fdp gewählt hat. Dazu noch all die dazu zählt, die gegen Merkel sind und sich nicht trauen das zu sagen. Dann kommt eine große Mehrheit zusammen.
Die schwarzen Untergangsszenarien sind zwar realistisch. Doch kommt ein mal das ganze ins Rollen. Wird es sich wieder ändern.

Marcel Seiler
6 Jahre her

Der politisch korrekte Zeitgeist findet, dass die anständigen und tüchtigen Menschen vor alle die Aufgabe haben, ihr Leben und ihr Geld den untüchtigen und kriminellen zu widmen. Dies ist enorm gut gemeint von den Zeitgeistigen, aber (a) ist es ein Missbrauch derjenigen, die ihre Kraft darein setzen, in dieser Gesellschaft produktiv zu sein, und (b) funktioniert es nicht. Es ist nicht die Aufgabe der Mitschüler, ein gewalttätiges Kind zu erziehen; es ist die Aufgabe des Elternhauses.

Frank Frei
6 Jahre her
Antworten an  Marcel Seiler

„Es ist nicht die Aufgabe der Mitschüler, ein gewalttätiges Kind zu erziehen; es ist die Aufgabe des Elternhauses.“
Vielleicht haben idie Eltern ihr Kind so „erzogen“? Sehr wahrscheinlich sogar.