Die Ruhe über Lampedusa: Italien hat die Bootsankünfte auf ein Drittel geschrumpft

Kein Sommer-Drama, nirgends: Italien hat dieses Jahr sein Migrationsproblem im Griff. Die Routen haben sich verlegt, einige Maßnahmen wirken. Doch das eigentliche Migrationsproblem kann man nicht in Italien oder Libyen lösen. Es sitzt in Berlin.

picture alliance / ZUMAPRESS.com | Luca Zennaro

Spätsommer 2023: Lampedusa im Ausnahmezustand. Rekorde bei illegalen Mittelmeerüberfahrten. Premierministerin Giorgia Meloni mit EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen bei einer gemeinsamen Visite in Lampedusa. Italien-Korrespondenten und die, die es glauben zu sein, orakelten damals bereits von Melonis schwerster Krise, und selbsternannte Experten in den Sozialen Medien glaubten, dass die erste Frau an Italiens Regierungsspitze angezählt, wenn nicht erledigt sei.

Ein Jahr später ist viel Wasser den Tiber hinuntergeflossen. Die Lage bei den illegalen Überfahrten hat sich nicht nur merklich entspannt; die Zahl der Anlandungen ist im Vergleich zum Vorjahr drastisch zurückgegangen. Bereits im Mai kündigte sich dieser Trend an. Bei der Zahlenmagie mit der illegalen Migration sollte man jedoch Vorsicht walten lassen: erst im September kann man die Situation abschätzen. Die Überfahrten steigen ab dem Frühling, wenn das Meer ruhiger wird, sprungartig an und gehen ab Herbst zurück. Den Mechanismus kann man über Jahre studieren.

Die Statistiken, die das Innenministerium alle 15 Tagen ausgibt, offenbaren, dass die Zahl der Ankünfte in diesem Jahr nicht nur geringer als letztes Jahr, sondern auch geringer als 2022 ausfallen könnte. Seit Jahresbeginn haben 41.530 Migranten Italiens Festland über das Meer erreicht; im Vorjahr waren es zu diesem Zeitpunkt 114.513. 2022 verzeichneten die Behörden zu diesem Zeitpunkt 57.064 „clandestini“. Im Gesamtjahr 2023 waren es 157.652 Personen, im Wahljahr 2022 waren es 105.131.

Bereits im Januar 2023 hatte TE berichtet, dass Rom in seiner Migrationspolitik eher auf längerfristige Methoden setzt, die Zeit bräuchten, bis sie tatsächlich griffen. Bereits das ungewöhnlich starke Anwachsen der Migration im Herbst 2022, als der Staffelstab von Mario Draghi auf Meloni überging, hatte deswegen für Aufmerksamkeit gesorgt, weil in den stürmischen Wintermonaten die Migration für gewöhnlich zurückgeht. Die Regierung Meloni „erbte“ demnach eine Situation, die sich in der Endzeit der Regierung Draghi entwickelte.

Prinzipiell hatte die Migration zwar in den Corona-Jahren im Mittelmeer abgenommen. In Italien war dagegen ein gegenläufiger Trend zu verzeichnen (2020: 34.154 Ankünfte, 2021: 67.477). Gemäß der bisherigen Entwicklung dürfte die Zahl zumindest klar fünfstellig ausfallen, sie bleibt aber definitiv über dem Wert von 2020.

Dass die Werte seit 2020 anstiegen, dürfte nicht zuletzt mit dem Regierungswechsel 2019 zusammenhängen. Damals kam es zum Bruch zwischen der liberalkonservativen Lega von Innenminister Matteo Salvini und dem linksalternativen Movimento 5 Stelle von Außenminister Luigi di Maio. Die „Sterne“ arbeiteten danach mit dem sozialistischen Partito Democratico zusammen. Salvini hatte es in seiner Amtszeit geschafft, die Migration massiv einzudämmen. 2017 verzeichnete Italien 119.369 Ankünfte, im Jahr seines Amtsantritts 2018 waren es nur noch 23.370. 2019 verzeichnete Italien einen Rekord: nur noch 11.471 Menschen kamen per Anlandung an. Der „Capitano“ konnte jedoch dabei auch auf die Vorarbeit seines Vorgängers Marco Minniti aufbauen, der 2016 unter dem Eindruck der massiven Migrationswelle 2015/2016 erste Maßnahmen durchgesetzt hatte – damals kamen 181.436 Illegale per Boot an.

An den Zahlen zeigt sich, dass sich etwas in Italien tut – doch an den Zahlen aus Salvinis Amtszeit wird auch Meloni sich messen lassen dürfen. Auch das ist ein Grund, warum der Rückgang der Migration von Rom politisch derzeit nicht zu stark instrumentalisiert wird. 2023 steckt dem Kabinett noch in den Knochen, und auch wenn die Abkommen mit Tunesien, Libyen und Albanien ein erster Schritt sind, ist doch unklar, wie lange sie in dieser Form bestehen bleiben.

Experten hatten schon im Sommer 2023 gemutmaßt, dass ausbleibende Gelder in Tunis der eigentliche Grund war, weshalb die Lage eskalierte. Nicht wenige mutmaßten, dass der von Italien und Brüssel verhandelte Vertrag, der das nordafrikanische Land mit Millionen überschüttet, insbesondere den Linken und ihrem NGO-Arm als Bedrohung wahrgenommen wurde, und sowohl von parlamentarischer, wie außerparlamentarischen Kräften versucht wurde, den Pakt zum Platzen zu bringen. In italienischen Medien nahm man die Unterstützung der illegalen Mittelmeermigration durch NGOs und die gleichzeitige Torpedierung in der EU durch linke politische Kräfte als vereintes Schlagen war – nicht zuletzt auch gestützt durch Berlin, das in der Person von Annalena Baerbock ihre Unterstützung von „Seenotrettern“ bekräftigte.

Offenbar bewährt sich nunmehr die alte Strategie, nordafrikanische Machthaber dafür zu bezahlen, dass diese die Abfahrtswilligen an der Überfahrt hindern und in Küstennähe wieder auf eigenes Territorium zurückpfeifen. Meloni stellt sich auch in dieser Hinsicht in die Fußstapfen Silvio Berlusconis, der über Jahre eine ähnliche Politik mit Libyen und dessen Staatschef Muammar al-Gaddafi verfolgt hatte. Der Libyenkrieg 2011 gilt für Italien bis heute als außenpolitisches Fiasko, dessen Konsequenzen immer noch nicht geheilt wurden. Das gilt für das Migrationsproblem, die fehlende Stabilität im gespaltenen Bürgerkriegsland, den Einflussverlust in der Region und das Ende der wirtschaftlichen Vorteile, die Berlusconi dort für italienische Firmen (auch bei der Erschließung von Ressourcen) ausgehandelt hatte.

Das Tête-à-Tête mit dem tunesischen Präsidenten Kais Saied sehen dabei nicht nur NGOs und linke politische Kräfte kritisch, sondern auch Frankreich, das in Tunis seine eigene Rolle beeinträchtigt sieht; im Übrigen ein Vorgang, den es vice versa schon einmal in Libyen gegeben hat. In der ehemaligen italienischen Kolonie hatte Nicolas Sarkozy sich eingemischt und laut für die Libyen-Intervention im Zuge der „Arabellion“ getrommelt. Angesichts der Schwäche Emmanuel Macrons vermutet man vermutlich auf französischer Seite nicht zu Unrecht eine Revanche (wenn auch Frau Meloni eher mit Charme, denn Bomben arbeitet). Das Frankreich in der Vergangenheit das „Sterben im Mittelmeer“ lauthals beklagte und nicht mit moralischen Anschuldigungen gegenüber den italienischen Cousins sparte, jedoch tunlichst die Grenze bei Ventimiglia absperrte, wenn die Geretteten an der eigenen Türe anklopften, gehört dabei zu jenen Facetten der Pariser Außenpolitik, die man am Tiber nicht vergessen hat.

Neben Macron hat sich ein weiterer Mittelmeeranrainer in den letzten Jahren in der Moralisierung des Migrationsgeschehens hervorgetan: das seit 2018 von notorischen Linksradikalen dominierte Madrid. Dabei hat Spanien nunmehr selbst die Rolle des eigentlichen Hotspots übernommen, auch, wenn die Route hier eher über den Atlantik als das Mittelmeer verläuft. Dass die Ankommenden meist direkt aufs Festland geflogen werden, und dann illegal weiterziehen, hat der Kollege Matthias Nikolaidis bereits beschrieben. Wie in Deutschland weiß man auch in Spanien nicht, wer dort ankommt und aus welchen Gründen. Und anders als in Italien, wo ab Herbst die Ankünfte zurückgehen, steht der eigentliche „Peak“ bei den Kanaren aufgrund der ruhigen See noch bevor. Sollten sich die Schätzungen von 80.000 Ankünften bestätigen, dürften allein über die Kanaren mehr Migranten in diesem Spätjahr kommen als in Italien über das ganze Jahr verteilt.

Die Frage, die sich angesichts dieser Statistiken stellt, und auch in Madrid, Valetta, Rom und Athen kursieren dürfte: sind es tatsächlich die Maßnahmen oder Nicht-Maßnahmen, die den Sturm der illegalen Einwanderung aufhalten können? Oder ist es nicht so, dass sich die Einwanderung immer den durchlässigsten Weg sucht? Haben nicht Russland und Weißrussland im Herbst 2021 auf zynischste Weise Menschen als „Wurfgeschoss“ an der polnischen Grenze benutzt, um Europa moralisch und migrationspolitisch sturmreif zu schießen?

Das Fazit ernüchtert. Denn die Mittelmeerländer werden ihren Auftrag als umso grotesker auffassen, je weniger die eigentlichen Zielländer Hand anlegen. Schweden hat in der Vergangenheit angekündigt, seine Migrationspolitik zu ändern. Dänemark hat es längst getan. Deutschland lässt dagegen über das Auswärtige Amt Zehntausende direkt aus Afghanistan einfliegen. Wie groß ist die Motivation, eine Mittelmeerstrategie zu entwickeln, wenn die Migranten nicht nur woanders hinwollen – sondern auch die Zielländer sich um diese Form der Einwanderung bemühen?

Am Ende sitzt das Problem in Berlin. 2023 registrierte das Bundeskriminalamt 266.224 illegale Einreisen nach Deutschland – das sind noch einmal 100.000 mehr, als im selben Jahr in Italien eintrafen. Der Mythos Merkel ist in der Welt und keiner will ihn zertrümmern. So lange können selbst die willensstärksten Regierungen nur Flickschusterei betreiben. Es ist ein Mythos, der nur Verlierer kennt: ob in Deutschland, Europa, oder auch bei den Migranten, die auf die Charlatanerie einer Mafia aus Schleusern und NGOs reinfallen, und kräftig an ihm verdienen.

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Kommentare ( 28 )

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A rose is a rose...
13 Tage her

Ich warte immer noch darauf, dass mir jemand nachvollziehbar erklärt, warum ein Land nicht seine Grenzen vor illegalen Einwanderern schützen darf. Und bevor jemand wieder „Asyl“ sagt: Dies wird laut geltender Gesetze nur bei massiver, staatlicher Verfolgung aufgrund von politischen Handlungen oder Äußerungen gewährt, was äußerst selten der Fall ist. So erklären sich natürlich auch die großzügigen Leistungen, die zumindest in D mit Asyl verbunden sind.
Als ein bekanntes Beispiel könnte wohl Herr Assange dienen, obwohl dieser interessanterweise – trotz nachweislicher politischer Verfolgung – große Probleme hatte, Asyl zu bekommen.

Rob Roy
13 Tage her
Antworten an  A rose is a rose...

Das deutsche Asylrecht hat Oppositionellen wie Alexander Solschenizyn Zuflucht geboten. Es hätte auch Alexei Nawalny Asyl geboten, wenn dieser nicht darauf verzichtet hätte, um sich in seiner Heimat Russland umbringen zu lassen.
Aber kaum einer der jetzigen „Flüchtlinge“ wird politisch verfolgt. Krieg oder auch sich um den Miltärdienst zu drücken, seiner wirtschaftliche Lage zu verbessern oder seine Religion zu verbreiten, sind Gründe hier jemanden aufnehmen zu müssen. Zumal ja nicht nur das deutsche Asylrecht millionenfach gebrochen wird, sondern auch das Asylrecht nach Dublin.

AlNamrood
13 Tage her

Ein Drittel ist gut, aber immer noch viel zu viel. Die ideale Anzahl an Anlandungen ist 0.

Boris G
13 Tage her

Solange >90% aller illegalen Migranten letzten Endes ein Bleiberecht in der EU erstreiten können, wird sich die Gesamtzahl durch lokale Maßnahmen der Mitgliedsstaaten nur wenig senken lassen, zumal all diesen Restriktionen die Überprüfung durch EuGH und Europarat droht. Wie man in UK beobachten kann, ist mittlerweile die Zahl der illegalen Bootsflüchtlinge gar nicht der Treiber der Einwanderung, sondern ganz legale Kettenmigration (Familiennachzug, Eheschließungen, Ausbildung, etc.). Es bleibt dabei: Fast alle diversen Gesellschaften sind grausam gescheitert (Italien ist das vor fast 2000 Jahren schon einmal passiert).

johnsmith
13 Tage her

Es ist der Magnet Deutschland, der die alle anzieht, denn die anderen reichen nordeuropäischen Länder wie Schweden, Dänemark und Holland haben ihre Asylpolitik und Sozialleistungen schon geändert. Solange Deutschland „wegen der Menschenwürde“ Höchsätze an Bürgergeld, kostenlose Krankenversicherung, großzügige Wohnungen, Familennachzug für 2. und 3. Frauen etc. anbietet werden weiter Hunderttausende von angeblichen Flüchtlingen nach Spanien, Italien und Griechenland strömen um dann nach Deutschland weiterzureisen.

imapact
13 Tage her

Eine echte Wende ist erst erreicht, wenn Italien den Schlepperkähnen verbietet, ihre Ladung in italienischen Häfen zu löschen. Widrigenfalls Beschlagnahme der Schiffe auf Dauer, Aburteilung der Schlepper und sofortige Rückführung der Illegalen nach Nordafrika.

amendewirdallesgut
13 Tage her

Solange ein Land dieser Erde mehr als die 17 SDGs oder mehr als eine basissozialer Grundversorgung nach UNHCR Standard bietet , wird es Pull Signale aussenden , die Route spielt dann so ganz und gar keine Rolle mehr . Die Bemühungen unseres sozialfemministischen Völkerrechtsaussenministeriums scheinen jedoch in den Push Regionen nicht wirklich zu fruchten , diese legen wohl mehr Wert auf ihre nationale Unabhängigkeiten und ihre gewachsenen Leitkulturen ! Also bleibt nur alles auf Start , Grenzen schließen basissoziale Grundversorgung für alle auf Bezahlkarte nur im emmitierenden Staatenverbund einlösbar , darüber hinaus Recht und Ordnung gnadenlos durchsetzen .

Kassandra
13 Tage her

Das „Problem“ findet man auf den Straßen Deutschlands – hier in Bild und Ton. Und so siehts aus, im Jahre 10 der Massenmigration, wenn ein mit Geburt Unterworfener einer Deutschen Anweisung gibt, wie sie sich zu kleiden hat: https://x.com/WallStreetSilv/status/1830758454979334508
Ja. Und auch in den USA fragen sie, weshalb die das tun, also ihre Eigenarten ins neue Land mitnehmen: https://x.com/WallStreetSilv/status/1830848202561732961
Und immer noch will so gut wie keiner wissen, dass es nicht Migration sondern Jihad ist!

MeHere
13 Tage her

Egal, das von den LINKSBUNTEN und teilweise auch interessierten Kreisen aus Großbonzentum und Wirrköpfen verursachte, völlig illegale, ineffiziente und extrem kostspieliges Migrantenchaos muss ENDEN – heute noch.
Die Verantwortlichen müssen zur Rechenschaft gezogen werden und bis auf den letzten Hosenknopf „rasiert“ … inkl. Parteivermögen, oder Aktiendepots …
NULL Zuwanderung und Remigration ist das, was man den Steuertrottel schuldet …

alter weisser Mann
13 Tage her

Mir wäre für den Anfang sogar Flickschusterei sehr willkommen, erfüllt sie doch schnell, wenn auch oft nur temporär den erwünschten Zweck. Wir können nicht immer auf Goldrandlösungen warten.

humerd
13 Tage her

Heute findet ja wieder ein Migrationsgipfel statt. Nancy hat eingeladen. Friedrich Merz: „Kurz vor dem Migrationsgipfel fordert der CDU-Chef schnelle und konkrete Entscheidungen. Schon nächste Woche könnten Gesetze beschlossen werden, sagt Merz. Die Kommunen fordern drastische Verschärfungen bei der Migration.“ und weiter: „Merz betonte, er wolle die Migrationsdebatte nicht ins nächste Jahr tragen. „Ich habe kein Interesse daran, dieses Thema zum Hauptthema des Bundestagswahlkampfes 2025 zu machen“, sagte der Unionsfraktionschef.“ https://www.sueddeutsche.de/politik/migrationsgipfel-cdu-merz-druck-bundesregierung-beschraenken-lux.6HdLfCJHLEYYdJSYiDG79Z?isSubscriber=false Die Angst vor der AfD treibt ihn, nicht die Sorge für das Land und die Bevölkerung. Von einem der vielen vorherigen „Gipfel“ blieb mir ein „Ergebnis“ in Erinnerung: eine… Mehr