Für Matthias Heitmann sind Bevormundung und Zensur jeglicher Art so unerträgliche persönliche Beleidigungen, dass er nicht gewillt ist, von seiner Meinungsfreiheit auch nur einen Millimeter preiszugeben.
Als ich fünf oder sechs Jahre alt war, verbaten mir meine Eltern, eine ganz bestimmte Schallplatte meiner älteren Schwestern zu hören. Auf dieser Platte waren „Jugendlieder“ mit frechen Texten voller Kraftausdrücke, die mich natürlich brennend interessierten, meinen Eltern zufolge aber nicht für die Ohren eines kleinen Jungen geeignet waren. Ich weiß noch, wie ich meine Mutter fragte, woher sie denn von den Kraftausdrücken wisse und ob sie sich die Texte selbst angehört habe. Sie stockte kurz und wies mich dann an, ich solle nicht so frech sein, was dem Ende der Diskussion gleichkam.
Was diese Anekdote mit Zensur und dem heutigen Verbotsklima zu tun hat? Zunächst erst einmal gar nichts. Denn es ist völlig in Ordnung, wenn Eltern ihren kleinen Kindern den Zugang zu gewissen Inhalten untersagen. Sie sollten dies sogar tun. Wenngleich das in der Praxis nicht eben leicht ist. Meine heute neunjährige Tochter langweilte sich schon mit sieben Jahren bei Filmen, die eigentlich erst ab 12 freigegeben waren. Dies schützt sie aber nicht davor, Filme ohne Altersbeschränkung gelegentlich in Alpträumen zu verarbeiten. Umso wichtiger ist es da, als Erziehungsberechtigter einen guten Überblick zu behalten und ein ebensolches Gespür dafür zu entwickeln, was welches Kind wann verkraftet.
„Das ist unfair! Du darfst gucken, was du willst!“, maulte sie neulich, als ich ihr dringend davon abriet, sich den Film „Hachiko“ (FSK 0) anzusehen. Ich wusste, dass dieser Film in diesem Moment bei ihr nicht gut ankommen würde. „Das ist nicht unfair“, entgegnete ich und wollte noch ergänzen: „Und außerdem darf nicht einmal ich alles sehen!“ Doch diesen Satz sparte ich mir. Ich hatte keine Lust auf eine Diskussion darüber, wie ich ihr das Ansehen eines offiziell für ihr Alter geeigneten Films untersagen könne, wenn ich selbst nicht alles sehen dürfe. Ich wollte sie in diesem Moment einfach in dem Glauben lassen, dass ihr geliebter Papa mündig und erwachsen und frei genug ist, um derartige Entscheidungen selbstbestimmt, wissend und mündig zu treffen. Es ist bedauerlich, dass Erwachsene ihren Kindern in einem so zentralen Punkt der Erziehung wie der Frage, was einen mündigen Erwachsenen eigentlich ausmacht, offen ins Gesicht lügen müssen, um nicht das eigene vollständig zu verlieren.
Natürlich sind die Altersangaben der Freiwilligen Selbstkontrolle bei Filmen letztlich nur grob geschätzte Empfehlungen. Letztlich müssen die Eltern die Entscheidung selbst treffen und die Verantwortung übernehmen. Aber wie sollen wir Erwachsene denn wirklich und ernsthaft die Verantwortung für Kinder übernehmen und ihnen ein Vorbild in Sachen Mündigkeit sein, wenn wir selbst offensichtlich Vormünder und Vorkoster brauchen, die für uns entscheiden, was wir hören, sehen, lesen, denken und sagen dürfen? Denn letztlich geht es ja genau darum, wenn Politiker entscheiden, diese oder jene Veröffentlichung zurückzuziehen oder diese oder jene Partei zu verbieten. Sie tun es, etwa weil sie, wie sie sagen, „Volksverhetzung“ verhindern wollen. Aber wie kann wer feststellen, was ein Volk verhetzt, wenn man nicht einmal bei Kindern einschätzen kann, was sie wann um den Schlaf bringt?
Es ist interessant, dass die Diskussion darüber, ob irgendetwas verboten werden soll oder nicht, sich immer nur um dieses Irgendetwas dreht und nie um diejenigen, die es angeblich zu schützen gilt. Immer wird darum gestritten, ob irgendetwas noch akzeptabel ist oder schon verboten gehört, ganz so, als gäbe es dafür eine in Stein gemeißelte Skala, an der man abmessen kann, ob die gottgegebene Grenze des Tolerierbaren überschritten wurde oder nicht. Warum wird eigentlich die Frage, womit Bürger umgehen können bzw. können sollten, entschieden, ohne zuvor festzustellen, ob und wenn wie sie damit tatsächlich umgehen? Die Antwort darauf kann eigentlich nur lauten: Weil unterschiedliche Menschen ganz unterschiedlich mit Inhalten umgehen und dies von ganz vielen Faktoren abhängt. Aber wenn jeder anders ist, wer ist dann das Maß? Soll ich meiner Tochter Kinderfernsehen verbieten, nur weil sie bei anderen Filmen der Klasse „FSK 0“ manchmal Alpträume bekommt?
An dieser Stelle der Argumentationskette fällt mir meine freche Kinderfrage an meine Mutter wieder ein: Haben diejenigen Damen und Herren, die bestimmte Inhalte für verbotswürdig halten, sie zuvor selbst auf ihr verhetzendes Potenzial hin überprüft, am eigenen Leibe etwa? Hat es sie denn auch verhetzt? Und wenn nicht, warum sollte dieser Effekt bei dem Rest ihres Volkes eintreten? Bei wem genau? Woran unterscheidet man verhetzungsimmune Erwachsene von verhetzungsanfälligen? Sind die einen, obgleich ebenfalls erwachsene und mündige Bürger, am Ende doch weniger erwachsen, weniger mündig und weniger Bürger als andere, man traut sich nur nicht, es auszusprechen? Macht man sie dadurch, dass man ihnen nur gefilterte Realitäten vorsetzt, nicht erst wirklich unmündig? Was bedeuten diese ganzen Begriffe eigentlich, wenn sich hinter der Fassade der rechtlichen und politischen Gleichheit aller mündigen Bürger inoffizielle Unterscheidungen verbergen, die den Einen das Recht geben, den Anderen vorzuschreiben, was gut ist und was nicht?
Ich halte die Meinungsfreiheit für das grundlegende und zentrale Freiheitsrecht eines jeden mündigen Individuums. Und dieses Recht bezieht sich auf jeden Menschen, und dies völlig unabhängig von der jeweiligen Meinung. Die Meinungsfreiheit ist unteilbar, sie gilt völlig losgelöst vom Inhalt der Meinung für jeden, oder sie gilt überhaupt nicht. Wer hier Einschränkungen bezüglich bestimmter übelriechender, ekelhafter und menschenverachtender Inhalte fordert, legt in Wahrheit nicht deren Urheber in Ketten, sondern alle potenziellen Empfänger, da er diesen die Mündigkeit abspricht, Übelriechendes, Ekelhaftes und Menschenverachtendes selbst zu erkennen und entsprechend zu behandeln oder dies zu lernen. Ich habe nie verstanden, wie man Demokrat sein kann, wenn man von ganz normalen Leuten eine solche Meinung hat.
Beschränkungen der Meinungsfreiheit degradieren die Öffentlichkeit zu einer unmündigen verführbaren Masse und mich persönlich zu einem orientierungs- und willenlosen Schaf, das man zum Positiven gängeln und belügen zu müssen glaubt, damit es sich nicht in einen blutrünstigen Wolf verwandelt. Ich halte dies für eine so unerträgliche Beleidigung und Beeinträchtigung meiner Individualität, dass ich nicht gewillt bin, von meiner Meinungsfreiheit auch nur einen Millimeter preiszugeben. Ach so, diese wohlmeinende Steuerungspolitik ist gar nicht gegen mich gerichtet, sondern gegen „die Anderen“? Dann bin ich ja beruhigt, denn sowohl diese „Anderen“ als auch der komplette Rest der Gesellschaft werden damit umgehen müssen, dass meine Meinungsfreiheit unantastbar ist und ich selbst darüber entscheiden will, was ich sehe, lese, höre, denke, sage und schreibe oder sonstwie ausdrücke, sei es durch Kleidung, Musik oder sonstiges. Und so, wie ich mir dieses Recht nehme, so gestehe ich es auch jedem anderen Menschen zu und verteidige es, auch dann, wenn ich dessen Haltung verabscheue. Das bedeutet Mündigkeit, und wer dies für verantwortungslos und egoistisch hält, sollte möglichst schnell damit beginnen, Verantwortung für seine eigene Individualität zu übernehmen und zu entdecken, wozu Freiheit gut sein kann.
Als ich mit meiner Tochter kürzlich im Fernsehen einen Bericht darüber sah, dass ein arabischer Fernsehsender die Bikinis der olympischen Beachvolleyballerinnen mit schwarzen Balken überdeckte, hielt ich die Luft an. Ich sah förmlich, wie es in dem kleinen Gehirn neben mir arbeitete, und ich atmete innerlich tief durch, als sie es bei der überaus klugen Beobachtung beließ, die Spielerinnen würden mit dem Balken ja aussehen, als wären sie nackt. Sie hatte die Perversion der Zensur erkannt und auf den Punkt gebracht. Ich hoffe, sie wird später auch verstehen, dass die Notlüge bezüglich meiner eigenen vorgeblich so unbegrenzten Meinungs- und Entscheidungsfreiheit letztlich nur ihre eigene Vorstellung retten sollte, dass es erstrebenswert ist, erwachsen, mündig und frei zu sein.
Matthias Heitmann ist freier Publizist und Vortragsredner. Sein aktuelles Buch heißt „Zeitgeisterjagd. Auf Safari durch das Dickicht des modernen politischen Denkens“ (TvR Medienverlag Jena, 2015, 197 S., EUR 19,90). Seine Website findet sich unter www.zeitgeisterjagd.de.
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