Die Kanzlerin hat die Verantwortung doppelt ausgelagert: auf das internationale Parkett und auf die örtlichen Verwaltungsebenen. Im Zwischenraum ist der Bund aus dem Schneider. Der Bund hantiert mit Worten und Geld, aber irgendeine direkte Berührung mit dem Migrantenproblem meidet er. Berlin hat sich auf die Moderatorenrolle zurückgezogen.
Es war ein geradezu gespenstischer Auftritt, den die amtierende Bundeskanzlerin am 7.Oktober bei „Anne Will“ im Ersten Deutschen Fernsehen hingelegt hat. Frau Merkel hat dafür gesorgt, dass zigtausende Migranten unter Umgehung europäischer Regelungen ohne vorherige Prüfung nach Deutschland gelangt sind und immer noch tagtäglich gelangen. Und nun erklärt sie, dass die Zuwanderung an der deutschen Grenze gar nicht aufzuhalten sei. Das Merkelsche „nicht möglich“ ist ein prinzipielles Nein gegen den Einsatz der Staatsgrenzen in der Migrationskrise – nicht nur für den Augenblick, sondern auch für jede weitere Zukunft. Diese Festlegung, die faktisch bedeutet, dass Deutschland zum offenen Territorium erklärt wird, trifft die Kanzlerin nicht etwa vor dem Deutschen Bundestag, mit sorgfältiger Darlegung der Gründe und der Rechtslage, sondern in einer Talkshow.
Auf die deutschen Grenzen richten sich jetzt zu Recht die Blicke der Bürger. Bei ihnen gibt es nicht nur ein Gefühl der Überlastung, sondern auch ein Gefühl der Hilflosigkeit. Das bisherige Handeln der Regierenden hat ihnen den Eindruck vermittelt, dass es gar keine Mittel gibt, auf die Migrantenströme Einfluss zu nehmen – sie kommen einfach an, wie sie wollen.
Verschiebebahnhof Deutschland
Das gilt für die außenpolitischen Mittel – das Dublin-System funktioniert seit Monaten nicht mehr und die Regierung kann keinen Weg angeben, es wiederherzustellen. Das gilt für die innenpolitischen Mittel – auf der lokalen Ebene im Deutschland, wohin die Migranten ja sofort gelangen, sind die Behörden nicht in der Lage, zuverlässige Kontrollen über Identitäten, Aufenthaltsorte oder rechtlichen Status durchzuführen, auch nicht mit zusätzlichem Geld und Personal.
So ist Deutschland unter der Ägide von Frau Merkel zu einem doppelten Verschiebebahnhof der Migrationswelle geworden. Man hat die Migranten großzügig hereingewunken und gleich über die Länder an die Kommunen weitergeleitet (und der „Zivilgesellschaft“ vor die Haustür gestellt). Man hat also eine doppelte Auslagerung von Verantwortung vorgenommen: auf das internationale Parkett und auf die örtlichen Verwaltungsebenen. Im Zwischenraum ist der Bund fein aus dem Schneider. Er kann mit Worten und Geld hantieren, aber irgendeine direkte Berührung mit dem Migrantenproblem hat er nicht auf sich genommen. Er hat sich auf die Moderatorenrolle zurückgezogen. Der entscheidende Ort, der dabei wegfällt, ist die deutsche Staatsgrenze (für die der Bund zuständig ist).
Aber es hat sich etwas geändert an der Stimmung im Lande. Dass die zunächst angebotene Lösung „Willkommenskultur“ es richten kann, wird kaum noch geglaubt. Auch das Geraune, man müsse „die Ursachen“ der Migration beseitigen, weckt Zweifel. Bei einer großen Flut schaut man auch nicht zuerst auf die tieferen Ursachen, sondern auf die Deiche. Es ist natürlich richtig, dass Staatsgrenzen nicht die Triebkräfte von Migrationsbewegungen beseitigen können, aber sie sind ein Schutzmittel, wenn die Substanz eines Landes gefährdet ist. Ihr Einsatz könnte jetzt wesentlich dazu beitragen, dass die Migrationswelle in Deutschland nicht immer weiter (irreversible) Tatsachen schafft. Der Instinkt, jetzt nach den territorialen Grenzen zu fragen, ist also ein sehr richtiger Instinkt. Die Auseinandersetzung mit der Migration wird damit politischer. Sie fragt nach den Mitteln des Staates.
Das Mantra „Wir schaffen das“ hat schon einen scheppernden Klang. Deshalb legt Merkel nun hilfsweise eine zweite Botschaft nach. Es ist eine reine Negativbotschaft: Eine Abwehr des Migrantenansturms an der Staatsgrenze ist „nicht möglich“. Funktioniert nicht. Gibt´s nicht. Geht nicht. Es ist ein apodiktisches Nein, das Frau Merkel da – fast beiläufig im Gesprächsmodus – fallen lässt. Sie begründet es nicht in Form einer Abwägung von Vorzügen und Nachteilen, sondern schließt die Grenze als Begrenzungsmittel absolut aus.
Frau Doktor Merkels Zaunphysik
Hier kommt es nun auf ein Detail an. Merkel hat die Unmöglichkeit strikter Grenzkontrollen nicht etwa mit rechtlichen Festlegungen (z.B. mit internationalen Abkommen) oder mit operativen Schwierigkeiten (Polizeiaufwand) begründet, sondern mit quasi naturgesetzlichen Gründen. In der entsprechenden Gesprächspassage des Fernsehauftritts nennt Merkel eine Kilometer-Länge („3000 km“) der deutschen Grenze. Die Grenze sei so lang, dass die Errichtung eines bewachten Zauns unmöglich sei – das habe man ja in Ungarn gesehen… Wahnsinn, Frau Merkel hat mal eben in drei Sätzchen die Unhaltbarkeit jeglicher territorialen Staatsgrenze bewiesen.
Große Grenzlängen gibt es auf dieser Welt viele. Sie müssten, gemäß Frau Doktor Merkels Zaunphysik, überall obsolet sein. In der Migrationskrise hat eine solche Weltanschauung eine ungeheuerliche und infame Konsequenz. Würde sie stimmen, hätten auch Italien, Griechenland, Spanien und die anderen Grenzstaaten der Europäischen Union einen „unmöglichen“ Auftrag. Auch sie haben geographisch lange Grenzen. Sind also die europäischen Grenzen insgesamt unhaltbar? Und worüber wird eigentlich mit der Türkei verhandelt, wenn eine verlässliche Staatsgrenze zu Syrien „nicht möglich“ ist? Wieso fordert man von der Türkei ein hartes Grenzregime, das man in Deutschland nicht einrichten möchte?
Und es gibt hier noch eine infame Geschichte: Beim G7-Gipfel im bayrischen Elmau fand Frau Merkel nichts dabei, über einige Wochen rigorose Grenzkontrollen stattfinden zu lassen. Die Polizei führte vor, dass das sehr wohl machbar war – und stellte in diesen Wochen mehr als 10.000 Personen fest, die im Bereich zwischen Italien, Österreich und Deutschland illegal unterwegs waren. Daraufhin erhob sich die Forderung, diese Kontrollen auf längere Zeit beizubehalten. Die von Merkel geführte Bundesregierung lehnte das ab. Was für ihre eigene Veranstaltung kein Problem war, soll jetzt zum Schutz des ganzen Landes unmöglich sein.
Das Bild des „Zaunes“ ist ein recht eingängiges Bild. Aber es beruht auf einer kartographischen Täuschung. Eine Grenze ist nicht nur eine simple Linie durch die Landschaft. Seit es die neuzeitlichen Territorialstaaten gibt, sind die Grenzen immer komplexere Systeme geworden, die sowohl Öffnung als auch Schließung beinhalten. Von simplen Linien sind sie zu breiteren Grenzräumen geworden, die auch Zonen der Kooperation zwischen Staaten sind. In solchen Zonen sind illegale Übertritte schwerer.
Eine einzelne gewaltsame Durchbrechung nützt nicht viel. Zu den Grenzräumen eines modernen Landes – besonders eines Einwanderungslandes – gehören auch zentrale Einrichtungen (Lager unterschiedlichster Art). Dort kann die Klärung von Herkunft, rechtlichem Status und die Trennung von berechtigten und unberechtigten Ansprüchen vorgenommen werden. Ebenso kann man Rückführungen (Abschiebungen) organisieren.
Nur durch solche Einrichtungen ist eine Antwort auf größere Migrationsbewegungen effektiv möglich, weil verschiedene Behörden zusammenwirken können und auch die gerichtliche Überprüfung behördlicher Maßnahmen ortsnah stattfinden kann. Dabei ist die Zentralisierung (Bundesgrenze) wichtig. Nur durch diese Grenz-Zentralität kann der Aufwand an Dolmetschern, Juristen, Ärzten, Sicherheitskräften bewältigt werden. Nur so kann eine elementare Versorgung mit Unterkunft, Nahrung, Gesundheit zuverlässig für alle und bezahlbar für das Gemeinwesen sichergestellt werden. Natürlich ist „Lager“ ein böses Wort („Transitraum“ hört sich viel versprechender an). Aber es ist ein klarer Ort. Indem er dem Grenzraum zugeordnet wird, wird deutlich: Diese Menschen haben humanitären Schutz, aber sie gehören noch nicht zu diesem Land.
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