Zur Geschichte einer politischen Leitformel

Bei dem Spruch mit drei Wörtern handelt es sich um eine nationale Parole des 19. Jahrhunderts, die schon König Ludwig I. von Bayern 1848 verwendete, und zu der sich sprachgeschichtlich und sprachvergleichend einige weniger bekannte Informationen geben ließen. Dazu Sprachwissenschaftler Helmut Berschin mit einer Betrachtung.

IMAGO
Ludwig I., König von Bayern, Gemälde von Joseph Karl Stieler
„Alles für Frankreich“ (Tout pour la France) lautet der Titel eines 2016 erschienenen Buches des früheren französischen Staatspräsidenten (2007–2012) Nicolas Sarkozy, das ein Bestseller wurde. Ein deutscher Politiker, der „Alles für Deutschland!“ sagt, kann wegen „Verwendung von Kennzeichen verfassungswidriger und terroristischer Organisationen“ (§ 86a Strafgesetzbuch) und „Volksverhetzung“ (§ 130) strafrechtlich verfolgt werden.

Ende Mai 2021 hielt der thüringische AfD-Vorsitzende Björn Höcke im Landtagswahlkampf von Sachsen-Anhalt eine Rede, die mit dem Ausruf endete: „Alles für unsere Heimat, alles für Sachsen-Anhalt, alles für Deutschland!“ Der Satz besteht aus drei formal gleichen Gliedern mit einer inhaltlichen Steigerung: Er beginnt mit dem Wahlkampf-Slogan der AfD Sachsen-Anhalt (alles für unsere Heimat), weitet dann „alles für“ auf das Bundesland aus und schließlich auf das ganze Land (alles für Deutschland). Dieser argumentative Dreischritt ist ein klassisches rhetorisches Stilmittel, die sogenannte „Klimax“.

Wegen des dritten Teils dieses Satzes erstattete wenige Tage danach der Vorsitzende der Grünen von Sachsen-Anhalt, Sebastian Striegel, Strafanzeige, die zwei Jahre später zu einer Anklage der Staatsanwaltschaft Halle/Saale gegen Höcke wegen Verwendung von Kennzeichen verfassungswidriger Organisationen führte, über die nun im Hochsicherheitssaal X.01 des Justizzentrums in Halle verhandelt wird.

Die „Nazi-Parole“

„Alles für Deutschland!“ gilt laut einem Urteil des Oberlandesgerichts Hamm vom 1.2.2006 als Nazi-Parole, die „allgemein bekannt“ sei. Es war der Leitspruch der nationalsozialistischen Parteitruppe SA (Sturmabteilung), angebracht auf dem Koppelschloss ihrer Uniformgürtel und eingraviert in die Klingen der Dienstdolche. Aber wer weiß das noch heute – 79 Jahre nach dem Ende des nationalsozialistischen Deutschland (1933–1945)? Die Erlebnisgeneration ist inzwischen neunzigjährig, sie kennt den Spruch noch aus der Schulzeit; er steht zum Beispiel in einer „Fibel für die deutsche Jugend“ (1940), die für den Erstleseunterricht verwendet wurde:

„Die Ferien sind vorbei. Alle sind im Schulhof angetreten. Wir hören eine kurze Rede. Alles für Deutschland! Wir wollen unsere Flagge liebhaben. Nun wird die Flagge hochgezogen. Sie flattert im Winde. […] Deutschland über Alles!“

Björn Höcke und der Anzeigenerstatter Striegel sind 1972 bzw. 1981 geboren, gehören also nicht zur Erlebnisgeneration des Nationalsozialismus (= NS). Allerdings haben sie beide Geschichte studiert – Höcke war auch Geschichtslehrer – und könnten deshalb die NS-Vergangenheit von „Alles für Deutschland“ de facto kennen, aber nicht nur diese: Der Spruch wurde von den Nazis nicht erfunden, sondern vorgefunden; er geht zurück auf die deutsche Nationalbewegung des frühen 19. Jahrhunderts und ist vor der NS-Zeit vielfach belegt.

Ein Beispiel aus der deutschen Revolution von 1848/49. Am 3. März 1848 richteten die Ständevertreter der bayerischen Pfalz an König Ludwig I. eine Petition, in der sie angesichts der „tiefgreifenden Bedeutung der jüngsten Ereignisse“ [Februarrevolution in Frankreich mit Abdankung des Königs] die unverzügliche Einberufung der bayerischen Ständeversammlung forderten. Der König antwortete am 6. März mit einer zustimmenden „Proklamation“ – „Die Wünsche Meines Volkes haben in Meinem Herzen jederzeit vollen Widerhall gefunden“ –, die so endet:

„Bayern! Euer Vertrauen wird erwidert […]. Lasst uns erwägen, was uns, was dem
gemeinsamen Vaterlande [= Deutschland] not tut!
Alles für Mein Volk! Alles für Deutschland!
München, 6. März 1848
Ludwig“

Alles für das eigene Land! – das war im 19. Jahrhundert, in der Epoche der nationalstaatlichen Formierung Europas, eine geläufige Formel, um den obersten politischen Wert auszudrücken. Nicht nur in Deutschland, sondern auch in Spanien (Todo por la Patria „Alles für das Vaterland“), in Italien (Tutto per l’Italia „Alles für Italien“) und, vor allem, in Frankreich: Tout pour la France/la République/la Nation/la Patrie – „Alles für Frankreich/die Republik/die Nation/das Vaterland“.

Entstanden ist diese nationale Formel in der Französischen Revolution, als ein neuer politischer Akteur die europäische Bühne betrat, der „Nation“ genannt wurde, „Vaterland“ oder mit dem Namen des eigenen Landes (France, Deutschland, Italia usw.). Entsprechend fasste 1815 Napoleon sein politisches Handeln in dem Satz zusammen: „Alles der Nation, alles für Frankreich – das ist mein Grundsatz“ (Tout à la nation, tout pour la France – voilà ma devise).

In Deutschland verbreitete sich die nationale Formel im Zuge der politischen Einheitsbewegung des 19. Jahrhunderts. Allerdings schied die Formulierung „Alles für das Vaterland“ zunächst aus; denn unter dem Wort „Vaterland“ verstand man damals in erster Linie die einzelnen deutschen Staaten (Bayern, Württemberg, Preußen usw.). Ein Vaterland „Deutschland“ musste sprachlich präzisiert werden als „gemeinsames Vaterland“ (wie im Zitat von Ludwig I.), „allgemeines/gesamtes/großes Vaterland“ oder – wie im Deutschlandlied – „deutsches Vaterland“. Deshalb setzte sich die Formulierung mit Ländernamen (Alles für Deutschland) als nationale Formel durch.

Fazit

Fazit: „Alles für Deutschland“ ist eine alte, im 19. Jahrhundert entstandene Formel, die – wie die deutsche Sprache überhaupt – auch in der NS-Zeit benutzt wurde. Das Muster „alles für …“ zum Ausdruck des obersten politischen Wertes ist trotzdem im Deutschen weiter produktiv, aktuell vor allem in der seit 2019 üblichen Formel „Alles für das Klima“. „Volksverhetzend“ klingt – zumindest für den normalen Deutschsprecher – keiner der beiden Sprüche.

Übrigens kommt in der frühen, „antifaschistischen“ DDR „Alles für Deutschland“ durchaus noch vor: Als 1952 Stalin die Wiedervereinigung Deutschlands als neutralen Staat vorschlug, sprach sich die DDR-Volkskammer sofort für seine Vorschläge aus („sie entsprechen vollständig den Lebensinteressen des deutschen Volkes“), und die regimenahe Berliner Zeitung (30.8.1952) kommentierte: „Alles für Deutschland, alles für den Frieden!“

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Kommentare ( 9 )

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H.H.
3 Tage her

Sinngemäß ist es der Eid den jedes Regierungsmitglied leistet. Dann verhaftet mal schön die gesamte Regierungsmannschaft für den gegenüber dem Bundespräsidenten geleisteten Amtseid.

Grumpler
10 Tage her

Vielleicht nicht gleich „alles“ für Deutschland (oder das „deutsche Vaterland“), aber Einigkeit und Recht und Freiheit. Ansonsten müßte sich der Verfassungsschutz mal um diesen Hoffmann von Fallersleben „kümmern“. Unglaublich, was dieser Mann so von sich gibt. Oder gab? 😉

P. Pauquet
10 Tage her

Dass sich die Nationalsozialisten quer durch die deutsche Geschichte alles Mögliche angeeignet und dann aus dem Kontext gerissen und zu „ihrem“ gemacht haben, ist ein alter Hut und sollte jedem mit einem Funken Geschichtsinteresse bekannt sein. Wie der Artikel richtig beschreibt, fußt nicht Alles auf Nazimist, sondern hat Bedeutung aus der Geschichte und Entwicklung des Landes. Dass die Rechtsprechung im einen oder anderen Fall sich in Deutungshoheit verliert und sich Bewertungen anmaßt, ist auch nicht neu. Was heute so geschieht sprengt jeden Rahmen. Ob Höcke das bewusst als Nazisprech abgelassen hat, wage ich in diesem Zusammenhang so oder so zu… Mehr

Micci
10 Tage her

Eigentlich ringe ich um Worte – mir fehlt echt eine Formulierung, das sachgerecht zu kommentieren:

Die Parole „Alles für D…“, die ja exakt „America first“ entspricht und inhaltlich punktgenau den Eid der Minister unseres Landes abbildet, wird in einem Gerichtsgebäude verhandelt, an dessen Fassade die Losung vom Tor des Konzentrationslagers Buchenwald prangt!

Das kann man sich nicht ausdenken, und passieren könnte es höchstens in einem D-Klasse-Movie.
Aber es findet HIER statt- im ehemals schönen Deutschland!

Dessen Regierungsparteien es aber nicht als „schön“, sondern lieber als „mieses Stück Sch…“ bezeichnen.
Auch das kann man sich nicht ausdenken …

Manfred_Hbg
10 Tage her

Zitat: „die zwei Jahre später zu einer Anklage der Staatsanwaltschaft Halle/Saale gegen Höcke wegen Verwendung von Kennzeichen verfassungswidriger Organisationen führte, über die nun im Hochsicherheitssaal X.01 des Justizzentrums in Halle verhandelt wird.“ > Na klar: zwei Jahre dümpelt die Anzeige gegen Höcke (AfD) irgendwo in den Aktenschränken und nun zwei Monate vor der EU-Wahl und anschließenden Wahlen im Osten, kommt es -potzblitz- zur Verhandlung. Welch Zufall -wieder mal. UND zu B. Höcke (AfD) als Geschichtslehrer: SOLLTE er Kenntnis davon gehabt haben das es sich um einen damals von der SA verwendeten Spruch gehandelt hat, dann bin ich der Meinung, dass… Mehr

BK
10 Tage her

„Der hat Deutschland“, gesagt und dafür eine Anzeige zu erhalten, ist auf dem intellektuellen Niveau eines 8-jährigen. Dass Anzeigenerstatter Striegel Jahrgang 81 ist, lässt mich an seiner geistigen Reife zweifeln. Was würden die Linken nur machen, wenn es in Deutschland die Nazizeit nicht gegeben hätte? Aber worüber wundert man sich noch? Hier kann man bereits für das Wort Vogelschiss einer massiven Rufmordkampagne ausgesetzt werden und muss sich fragen, ob man dieses Etikett noch unseren Engeln und Urenkeln anheften will. Doch mit Hass und Hetze von links ist man immer auf der richtigen Seite. Und wer kein Nazi ist, ist auf… Mehr

Marcel Seiler
10 Tage her

Ich verstehe dass man in der unmittelbaren Nachkriegszeit Nazi-Parolen verboten hat. Zu nah war die Katastrophenerfahrung und zu groß die Angst, dass die nicht kleine Zahl Nazi-Überlebender sie benutzen könnte, wieder an die Macht zu kommen.

Das Kriegsende ist 79 Jahre her. Die Verbote der historischen Nazi-Kennzeichen wirken nur noch als Zensur kleinkarierter Besserwisser, die in Blockwartmentalität darauf scharf sind, einem etwas „nachzuweisen“. Diese Zensur vergiftet das gesellschaftliche Klima. Sie fördert Denunziantentum. Dass darin normalen Bürgern gegenüber ausgedrückte Misstrauen ist menschenunwürdig. Einem Staat, der dieses ritualisierte Wohlverhalten verlangt, dem Grüßen von Gesslerhüten vergleichbar, möchte ich nicht angehören.

Last edited 10 Tage her by Marcel Seiler
Farbauti
11 Tage her

Falls in der NS Zeit Klopapier und Telefon benutzt wurde, sollte man die Verwendung heute mal überdenken. Rauchzeichen und Zeitungspapier waren schon zu anderen Zeiten echte Alternativen.

joly
11 Tage her

Höcke soll wohl „Alles für die Ampel“ sagen.
Wie lange sollen eigentlich solche Worte gebannt werden? Und warum werden keine kommunistischen und sozialistischen Sprüche gebannt? Hoch die internationale Solidarität – ist ja auch nur ein Abzockerspruch gegen die westlichen Ersparnisse und unsere Völker.