Wenn der Westen dem Osten folgt: Für das progressive Belehrmilieu werden die Räume ganz eng

Warum, fragen sich die Wohlgesinnten nach der EU-Wahl, sind wir so unbeliebt? Für sie kommt alles so plötzlich. In Wirklichkeit hat ihr Niedergang eine lange Vorgeschichte. Das Schlüsselwort lautet: Reaktanz

picture alliance/dpa | Christoph Soeder

Die Tage nach den Wahlen gehören für Politikwissenschaftler, Redaktionsmitglieder und andere Konsenshüter neuerdings zu den unangenehmsten überhaupt. Anders als die Politiker können sie schlecht sagen, sie müssten das Ergebnis jetzt erst einmal in den Gremien auswerten. Ihre Aufgabe besteht darin, sofort Gründe für den Wahlausgang zu finden, allerdings nur, falls die Wahlen in einer ganz bestimmten Weise ausgehen. In der Vergangenheit jedenfalls, als die Grünen 2019 noch 20 Prozent bei den Europawahlen holten und 2021, als sie unter Führung von Annalena Baerbock schon die neuen Topfpflanzen fürs Kanzleramt aussuchten und die Umfragen bei über 20 Prozent standen, erschienen keine Sorgenfalten auf den üblichen Erklärgesichtern. Es schob sich nicht die Frage nach vorn, ob der Erfolg möglicherweise am Einfluss von umstrittenen Plattformen liegen könnte, beispielsweise ARD und ZDF. Es schwärmten nach der Wahl keine Reporter nach Bremen und Kreuzberg-Friedrichshain aus, um dort auf Spurensuche zu gehen und die Frage zu klären, ob die Grünenwähler dort wissen, was sie tun. Überhaupt fällt auf, dass in diesen Erläuterungskreisen niemand jemals die Formel benutzte, jemand würde den Grünen hinterherlaufen. Hinterherläufer bewegen sich grundsätzlich nur in eine Richtung, so, wie auch die Ursachenforschung nur dann stattfindet, wenn Wahlergebnisse und überhaupt ganze Landesteile hinter den Erwartungen zurückbleiben.

In den vergangenen Jahren also gab es keinen derart großen Bedarf an Warnkommentaren und Interviews mit besorgten Experten wie nach dieser Europawahl und vor den kommenden Abstimmungen in Thüringen, Sachsen und Brandenburg. Es herrschte damals im Großen und Ganzen eine gelöste Stimmung im Meinungsapparat des Landes. Eins gehörte dort nach Wahlgängen allerdings auch schon früher zur Routine: der immer tief beunruhigte Blick gen Osten. Die Ostdeutschen als Hillbillys der Bundesrepublik stehen unter dem gar nicht einmal unbegründeten Verdacht, Begriffe und Festlegungen des Juste Milieus nicht zu verstehen, was in der Praxis meist bedeutet, dass sie diese Formeln ganz anders verstehen, als sie es aus Sicht der Begriffspräger sollten. Bestimmte Wendungen treffen in Ostdeutschland ganz einfach auf einen größeren Widerstand als im Westen.

— Katrin Göring-Eckardt (@GoeringEckardt) June 10, 2024

Die Selbstermahnung von Würdenträgern beispielsweise, sie sollten die Bürger in Zukunft noch besser abholen und mitnehmen, klingt für viele ältere Ostdeutsche möglicherweise anders als für Landsleute drüben, so, wie Bürger mit der deutschen Doppelerfahrung auch staatlich-medial organisierte Großkundgebungen unter dem Motto ‚Antifaschismus‘ mit Politikern an der Spitze anders wahrnehmen als Generation Z-Vertreter aus Kreuzberg und Kölner „Omas gegen rechts“.Das gleiche gilt für den Vorschlag, einen neuen demokratischen Fastallparteien-Block zu bilden, wenn ein in Ostdeutschland sozialisierter Expfarrer diese Idee in die Runde wirft – diejenigen, die das Modell für innovativ halten,sitzen fast ausschließlich im Westen. Den meisten der schon erwähnten älteren Ostler kommt es vertraut vor. Wobei ‚vertraut‘ zweierlei bedeuten kann: Manche dort empfinden das Déjà-vu vielleicht als anheimelnd. Sehr viele von denen, die 1989 bestimmte Verhältnisse wegdemonstrierten, empfinden gegenüber einem neuen Parteiblock, den Zusammenstehforderungen von oben und dem antifaschistischem Brandschutzwall in den Farben der Bundesrepublik allerdings einen Widerwillen, der bei Soziologen neuerdings vornehm Reaktanz heißt. Reaktanz geht über den bloßen Unmut schon deutlich hinaus.

Im Rückblick sieht es so aus, als wäre diese speziell ostdeutsche Reaktanz 2015 und in den Folgejahren entstanden. Das Jahr der bedingungslosen Öffnung nach außen bei entsprechender Verengung der Debattenkorridore im Inneren spielte tatsächlich eine wichtige Rolle für die Entwicklungen in Sachsen, Thüringen und anderswo im Osten. Aber – und dazu kommen wir gleich – nicht die wichtigste.
Als Katrin Göring-Eckardt, ein Exemplar der richtigen Ostdeutschen, weil voll und ganz in das progressiv-westurbane Milieu integriert und fast ein bisschen überangepasst, damals ihren Satz von den geschenkten Menschen sagte, erinnerten sich viele östliche Bürger daran, dass sie 1990 von genau diesem Milieu durchaus nicht als Geschenk betrachtet wurden.

Und danach noch viel weniger. Wer nach dem Moment sucht, an dem sich das Verhältnis zwischen dem westlichen Belehrungskomplex und den Ostdeutschen zum ersten Mal in aller Deutlichkeit zeigte, geht am besten zurück ins Jahr 2000. Die Bild-Zeitung erschien am 23. November mit der Schlagzeile über das sächsische Städtchen Sebnitz: „Neonazis ertränkten Kind. Am hellichten Tag im Schwimmbad. Und eine ganze Stadt hat es totgeschwiegen.“ Bei der Geschichte handelte es sich um eine Kompletterfindung, sie beruhte auf grotesken Behauptungen der Familie des Kindes. Der Obduktionsbericht des Gerichtsmedizinischen Instituts Gießen, der damals schon vorlag, schloss einen gewaltsamen Tod des Kindes aus und stellte einen Herzfehler fest. Obwohl es leicht gewesen wäre, diese Fakten aufzuspüren, mühte sich fast die gesamte Medienrepublik gar nicht erst mit einer Recherche ab, sondern übernahm die Bild-Story als quasiamtliche Wahrheit.

In den Texten der Qualitätsmedien ging es nur darum, anhand der Geschichte die Kleinstadt Sebnitz, Sachsen und den Ostler an sich zu deuten. Bei der FAZ stand das Wesentliche gleich in der Überschrift: „Na, mach’s endlich, schmeiß ihn schon rein. Die ganze Gruppe lachte und guckte zu – Der Tod des sechs Jahre alten Jungen in einem Schwimmbad in Sebnitz“. Die Süddeutsche: „Ein Kind ertränkt wie eine Katze – Wie es geschehen kann, dass Menschen nicht merken wollen, was in ihrer Mitte geschah“. Die taz: „Badeunfall erweist sich als rassistischer Mord“. In ihrem Text schilderte die Süddeutschen ein Ereignis, das nie stattfand, so präzise, als hätte ihr Korrespondent dabeigestanden: „Da schnappt sich eine Gruppe rechter Jugendlicher im Schwimmbad von Sebnitz in Sachsen einen kleinen Jungen, flößt ihm ein Betäubungsmittel ein, quält ihn mit Elektroschocks, drückt ihn unter Wasser, tritt auf dem Kind herum, bis es tot ist.“ Alle Texte schlugen den Bogen von den alternativen Fakten zur wohligen Selbstbestätigung eines Milieus innerhalb von Westdeutschland, demzufolge die Bewohner von Deutschland Ost zu einer moralisch niederen Spezies gehören. Jedenfalls bis zum Beweis des Gegenteils, den die Ostler aber bitte schon selbst erbringen müssen.

Als die Sebnitz-Geschichte zusammenbrach, zeigten ein paar Medienschaffende etwas Zerknirschung. Später in ähnlichen Fällen nicht mehr. Als eine Rebecca K. aus dem sächsischen Mittweida 2007 erzählte, vier Neonazis hätten ihr auf offener Straße ein Hakenkreuz in die Hüfte und eine SS-Rune ins Gesicht geritzt, übernahmen große Medien die Geschichte nach dem gleichen Muster wie die des Sebnitz-Grusicals – und das, obwohl es für die Behauptungen des Mädchens keine Zeugen gab, dafür aber jede Menge anderer Ungereimtheiten. Rebecca K. erhielt trotzdem den „Ehrenpreis für Zivilcourage“ des Bündnisses für Demokratie und Toleranz“, einer Gründung des Bundesinnenministeriums. Eine Mitarbeiterin des Bayerischen Rundfunks schrieb dem Oberbürgermeister von Mittweida sie werde alles tun, um Westdeutsche vom Besuch der Stadt abzuhalten. Denn auch hier saß wieder die gesamte Bürgerschaft auf der Anklagebank. „Neonazis ritzen Teenager Hakenkreuz in die Haut“, schrieb die Süddeutsche Zeitung, „viele Passanten sehen zu“. Wenig später stellte sich heraus, dass sich Rebecca K. die Hakenkreuz- und Runenritzungen selbst beibrachte. Aber selbst sie hatte nie zuschauende Passanten erwähnt. Dieses Detail hatte die Korrespondentin der Süddeutschenschlicht dazugedichtet, um die Geschichte für ihr Publikum ein bisschen süffiger zu machen. Eine Entschuldigung des Blattes gab es dieses Mal nicht. Und natürlich behielt die Journalistin ihren Job.

Später, 2018, steigerten sich Medienschaffende und Politiker noch einmal deutlich, als sie die erfundenen Hetzjagden von Chemnitz – ausdrücklich in dem von Angela Merkel geprägten Plural – in den Rang eines Glaubensgebotes beförderten, obwohl die Generalstaatsanwaltschaft Sachsen feststellte, dass sie nie stattfanden.

Aber zurück zu den Wurzeln der in Ostdeutschland verbreiteten Renitenz und Reaktanz: Die Medienfälle Sebnitz, Mittweida und noch einige andere ereigneten sich weit der AfD-Gründung und lange vor dem ersten Pegida-Marsch in Dresden. Sie machten den Bürgern in Sachsen und anderswo klar, dass in den großen Medienredaktionen des Landes Leute saßen, die über sie, die Ostler, in einem Tonfall und mit einer Verdachtslust schrieben und sendeten, die sie, die Wohlmeinenden, niemals auf ihr eigenes Milieu anwenden würden. Sie lernten, dass es für diese Diskursführer eine höhere Wahrheit gab, die sich nicht unbedingt mit den Fakten decken musste. Nicht alle, aber jedenfalls viele Ostdeutsche reagierten deshalb 2015 mit einer größeren Distanz als der Durchschnitt West, als ihnen die gleichen Medien und die mit ihnen verbündeten Politiker versicherten, bei den Migranten aus Syrien, Irak, Nordafrika und dem Westbalkan handle es sich ganz überwiegend um Facharbeiter, die einmal die Rente der Einheimischen erarbeiten würden. Auch der Prognose, ein Massenzustrom junger muslimischer Männer würde weder zu mehr Kriminalität noch zu islamischem Terrorismusführen, folgten im Osten insgesamt weniger, und das deshalb, weil sie nicht nur skeptischer auf die Botschaft blickten, sondern auch auf die Boten.

Bis heute zählen Journalisten, Soziologen und Angehörige des Berliner Politikbetriebs die immergleichen Gründe für die Abwehrhaltung in Ostdeutschland gegen die Grenzöffnung von 2015 auf, die sich dann nach und nach zur Abwehr gegen den gesamten westdominierten Meinungsapparat entwickelte: Die fehlende Erfahrung mit Ausländern in der DDR, das Provinzlertum, die, wie es vor allem bei den Grünen heißt, Veränderungsabwehr. Gelegentlich auch die geringeren materiellen Ressourcen.

In vielen ostdeutschen Gegenden fehlte 1990 tatsächlich die Erfahrung mit gut integrierten Einwanderern wie in Westdeutschland. Allerdings gibt es heute auch in fast jeder sächsischen und brandenburgischen Kleinstadt italienische Restaurants, von Deutschtürken betriebene Dönerlokale und den aus Vietnam stammenden Gemüsehändler. Gegen Veränderungen, die ihnen nützen, wehren sich die Leute im Osten so wenig wie anderswo auch. Schmalere materielle Basis, das stimmt durchaus, vor allem für abgelegene Landkreise, in denen ein Fünftel bis Drittel der Beschäftigten auch bei Vollzeit höchstens 2000 Euro netto verdient, und wo der Bahnbetrieb aus Kostengründen schon vor zehn Jahren endete. In diesen Landstrichen nahmen die Leute die Begründungsformel von 2015 – ‚wir sind ein reiches Land‘ – etwas anders auf als beispielsweise im Rhein-Main-Gebiet.
Was die Meinungspräger damals allerdings völlig unterschätzten und bis heute bei ihrer Frage, was denn schief laufe mit dem Osten, immer noch nicht verstehen, betrifft sie selbst. Genauer: ihr Erscheinungsbild, das sie ostdeutscher Sicht abgeben. Die Ansichten des Medienapparats West über die Problemzone standen, siehe oben, schon vor 2015 eisern fest. Das der Problemzonenbewohner über diesen Apparat allerdings auch. Reaktanz bedeutet eben nicht nur ein Misstrauen nach dem Muster: Wer nicht nur einmal die Wahrheit verbiegt, dem glaubt man nicht. Sondern eben auch einen generellen Widerwillen gegen das, was Süddeutsche Zeitung, Spiegel, Stern, WDR, Correctiv, Grünenpolitiker und die Amadeu-Antonio-Stiftung für gut und richtig befinden.

Diese Konstellation führt dazu, dass eine wachsende Zahl von Ostdeutschen sich beispielsweise vor Wahlen fragt, was dieses Meinungskonsortium am besten zur Weißglut bringt. Und diese Zahl wächst auch deshalb, weil genau dieses Konsortium seit Jahr und Tag sein bestes gibt, um die Reaktanz der Ostler noch weiter zu festigen und zu vertiefen. Als die östlichen Ergebnisse der Bundestagswahl 2017 nicht nach den Vorstellungen der wohlgesinnten Funktionsträger des Westens ausfielen, twitterte der damalige Kommunikationsdirektor des Erzbistums Köln Ansgar Meyer: „Tschechien, wie wär’s: Wir nehmen Euren Atommüll, ihr nehmt Sachsen?“ Nachdem die Abstimmungsergebnisse der Landtagswahlen in Sachsen und Brandenburg 2019 die Erwartungen der Wohlgesinnten noch deutlicher verfehlten, schrieb Werner Kolhoff, Chefredakteur der Saarbrücker Zeitung: „Was bilden sich die Ossis eigentlich ein?“ Er empfahl der Bevölkerung in den moralisch unzurechnungsfähigen Provinzen: „Ihr solltet dringend etwas mehr nachdenken“ und wies sie an, „Empathie“ zu zeigen. Erste Vertreter des nachdenklich-empathischen Komplexes schlugen konkreten Erziehungsmaßnahmen vor, etwa Jan Böhmermann, der Sachsen 2019 noch nicht für völlig verloren hielt: „Das Einzige, was dieses Bundesland noch retten kann, ist eine Koalition aus RAF und Royal Air Force.“

Nach den EU- und vor den drei Landtagswahlen im Osten lautet die vorläufige Bilanz: Daran, dass in Thüringen, Sachsen und Brandenburg eine gebrandmauerte Partei auf Platz eins steht und Sahra Wagenknechts zumindest mit einem Schutzzaun versehene Truppe zweistellig abräumt, hat das breite Bündnis von Medienschaffenden, Erziehungspolitikern und Kirchentagsfürsten einen Anteil, den es selbst grob unterschätzt. Auch daran, dass, wie ARD-Intendant Kai Gniffke kürzlich einräumte, in Sachsen mittlerweile 300 000 Renitenzbürger keinen Rundfunkbeitrag zahlen. Unter den Nochzahlern Ost – nicht nur in Sachsen – geht der Spruch um, vor 1989 habe man Westfernsehen geschaut, ohne dafür Geld zu geben, heute sei das genau umgekehrt.

Im Jahr 2024 – und das ist neu – herrschen in ganz Deutschland etwas andere Mentalitätsverhältnisse als noch vor fünf Jahren. Reaktanz gibt es längst nicht nur im Osten. Sie richtet sich auch im Westen gegen exakt das gleiche Milieu. Mittlerweile verfügen auch große Gruppen in der Altbundesrepublik über die Erfahrung, wie es sich anfühlt, aus einer steuer- und gebührenfinanzierten Meinungsfestung heraus verachtet zu werden. Diejenigen, die sich damals nicht mit experimentellen Stoffen gegen Corona impfen lassen wollten, vergessen nicht, wie eine öffentlich-rechtliche Sarah Bosetti sie als Blinddarm der Gesellschaft („rechts und unten“) am liebsten aus dem Volkskörper entfernen wollte, und wie Bayerns Obergrüne Katharina Schulze forderte, den Handel für Nichtgeimpfte zu schließen.

Die Demonstranten 2023 in Erding, die gegen Robert Habecks Zwangsheizpumpengesetz protestierten, machten ihre Erfahrung mit Medien, die sie deshalb kollektiv als dumpfe und sogar braune Tröpfe anpinselten. Inzwischen inszenieren Medien erfundene Geschichten auch im Westen der Republik, etwa den Angriff auf, ja fast die Versenkung des Robert Habeck am Fähranleger von Schlüttsiel. Dort gerieten die Protestbauern zwar noch nicht einmal in die Nähe des Ministers, was einen Kommentator der Wirtschaftswoche aber nicht daran hinderte, „ein bisschen Sippenhaft“ für alle Landwirte zu fordern. Überhaupt sahen sich plötzlich auch unzufriedene Landwirte im tiefsten Westen ganz ähnlich behandelt, wie es die Ostdeutschen schon vor Jahren erlebten, nämlich als bestrafungswürdiges Kollektiv.

Als der ARD-Mandarin Reinald Becker twitterte: „Traktorfahren macht offensichtlich dumm“, unterschied er so wenig zwischen demonstrierenden und nichtdemonstrierenden Bauern, wie damals der „was bilden sich die Ossis ein“-Schnarrkopf aus Saarbrücken zwischen ostdeutschen AfD-Wählern und den anderen.

Wie gelebte Reaktanz aussieht, zeigten ziemlich viele Wähler vor allem in Niederbayern, als sie bei der Landtagswahl 2023 auf die Kampagne der Süddeutschen gegen Hubert Aiwanger mit Extrastimmen für dessen Partei antworteten. Ihnen entging es damals nicht, dass sich das Blatt München nicht nur mit einem antisemitischen Flugblatt aus den Achtzigern befasste. Aus seinen Beiträgen zum Thema troff auch der Ekel vor den schwitzigen, biertrinkenden Niederbürgern, die damals Aiwanger, den die SZ-Redaktion schon für erledigt hielt, immer noch im Festzelt zujubelten. Den Niederbürgern in Niederbayern ging es wie den Sachsen nach Sebnitz und ähnlichen Medienfeldzügen: Sie lesen das Zentralorgan der gutdenkenden Einheitsfront zwar nicht, erfahren aber trotzdem, wie man dort über sie denkt, und ziehen ihre Schlüsse.

Sehr vielen Westdeutschen geht inzwischen auf, was Ostdeutsche schon länger wissen: Es gibt gar keine mentale Ost-West-Spaltung, sondern einen tiefen Graben zwischen den Kreisen, deren Angehörige gern ‚wir als Gesellschaft‘ sagen und für sich die exklusive Lizenz zum öffentlichen Urteilen beanspruchen, und den anderen, die sich von diesen Leuten partout nicht beurteilen, nicht führen, nicht belehren, nicht abholen und irgendwohin mitnehmen lassen wollen. Nicht ins bunte Neudeutschland, in dem, wie die Dauertalkgästin Ulrike Herrmann gerade in der Sendung Maischberger meinte, alle mit der Messergewalt irgendwie „leben müssen“. Nicht in Robert Habecks Welt, in der Privatdinge wie Ernährungsvorlieben oder Angewohnheit der Gluckssprache als „relevante Themen“ gelten, die jetzt alle gemeinsam mit den Grünen ausdiskutieren sollten.

Und nicht ins transformierte Deutschland ohne Industrie, aber mit Bürgergeld für alle.

So unterschiedlich fielen die Wahlen in Ost- und Westdeutschland gar nicht aus. Da wie dort existieren nur noch kleine grüne Festungen in einem hie blauen und da schwarzen Umfeld. Rote SPD-Flecken tauchen noch seltener auf, was nicht ganz überraschend kommt, jedenfalls für alle außerhalb des Willy-Brandt-Hauses, wenn sich eine Partei drei Tage vor einer Wahl ausdrücklich eine neue Wählerschaft wünscht. Da macht die alte gern schon mal Platz.

Hier wie dort dürfte es 2025 wahrscheinlich zu einer Massenverweigerung kommen, sollte der Rundfunkbeitrag tatsächlich steigen. Zumindest den Aufschlag zahlen dann voraussichtlich Millionen nicht. Mittlerweile befinden sich die progressiven Belehrbären auch im Westen in der Defensive. Im Osten fing dieser Prozess nur etwas früher an. Aber der Westen holt in großen Schritten auf.

In den bedrängten Zentralen der Moralelite zeigt sich inzwischen so etwas wie Defätismus. Nicht, dass dort nun plötzlich so etwas wie Selbstkritik ausbrechen würde. So weit kommt’s noch. Aber anders als 2017 und 2019 fordert dort niemand mehr die Bombardierung Sachsens oder wenigstens den Ausschluss des Landes aus der Bundesrepublik. Wenn sich noch nicht mal irgendein Staatssatiriker dazu aufraffen kann, dann liegt der Kampf der Westprogressiven um minds & heartsder Ostdeutschen wirklich in den letzten Zügen. Süddeutsche und Spiegel stellen stattdessen für die ganze Republik fest, dass Wähler, insbesondere die jungen, in einem Zustand der Quasibewusstlosigkeit handeln.

Jürgen Trittin findet in der Sendung „Caren Miosga“, Leute wie er hätten es wie schon manch andere Visionäre mit dem falschen Volk zu tun: „Wir haben die Veränderungsbereitschaft überschätzt“.

Ansonsten ergibt die Aufarbeitung: Der Schlamassel liegt ganz klar an TikTok.

Und an X, vormals Twitter.

An der Einsamkeit von Jugendlichen.

Außerdem daran, dass zu wenige gepierct-blauhaarige junge Menschen aus den letzten Grünenfestungen nach Höckistan ziehen, um dort das Ruder bei der Landtagswahl herumzuwuchten. Immerhin bieten jetzt mehrere Thüringer Hochschulen allen Studenten Prämien an, wenn sie sich noch so schnell ummelden, dass es für eine Stimmabgabe reicht.

Den Vorschlag, den Osten endlich durch progressive Siedlungspolitik aufzubrechen, unterbreitete der Zeit-Mitarbeiter Christian Bangel schon 2019, allerdings ohne großen Nachhall bei den Angesprochenen. Bei Anton Kuh heißt es zwar leicht abgewandelt: Nichtsnutze werden überall gebraucht. Im Zweifelsfall bleibt aber gerade diese Sorte lieber im angestammten Revier. Aber vielleicht rückt das letzte Aufgebot auch wirklich erst bei höchster Not an, also jetzt. Ansonsten macht man einander auf der Zinne des belagerten Elfenbeinturms mit einem Ordensregen Mut, eine Erscheinung, die zu allen Zeiten dann eintritt, wenn es an der Gesamtfront schlecht läuft. Ricarda Lang räumte am Tag der Europawahl beim „Politik Award“ den Preis als „Aufsteigerin des Jahres“ ab, die Süddeutsche den „Stern-Preis“ für ihre Aiwanger-Unterstützungsartikel, Blinddarm-Bosetti den Literaturpreis von Schifferstadt. Und zwar, so die Begründung der Jury, weil sie mit Nazijargon „scharfem Verstand und klugen und witzigen Betrachtungen zum politischen und gesellschaftlichen Geschehen gekonnt Populismus, Hass und Dummheit mit Witz und Ironie entgegentritt“.

Dieses Milieu lehnen viele in Ost und West inzwischen nicht nur einfach ab. Sie möchten es scheitern und fallen sehen. ‚Macht kaputt, was das Land kaputtmacht‘ – das wäre nicht das schlechteste Motto für die nächsten zwölf bis fünfzehn Monate.

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