An diesem Mittwoch wird die neue Präsidentin der Europäischen Kommission ihren ersten großen Auftritt haben. Sie präsentiert ihren Aktionsplan für einen „European Green Deal“. Ein gigantisches staatliches Investitionsprogramm im Dienste des Klimaschutzes. Angeblich soll es um eine Billion (also tausende Milliarden) Euro bis 2030 gehen. Was bislang in die Presse durchgesickert ist: Bis zum Jahr 2050 sollen in der EU netto keine CO2-Emissionen mehr verursacht werden. Bis 2030 soll es „in Richtung“ einer Emissionsminderung von 55 Prozent gehen, verglichen mit dem Basisjahr 1990. Bislang liegen die Ziele bei einer Minderung von 40, beziehungsweise 80 bis 95 Prozent. Und die letzten Prozente bis zur Null-Emission sind die teuersten – ob auf europäischer oder deutscher Ebene. Aber Maßhalten ist ist eben nicht mehr angesagt, wenn es um die Rettung der Welt geht, in Berlin nicht und in Brüssel erst recht nicht.
Der Begriff erinnert nicht zufällig an Franklin D. Roosevelts „New Deal“ von 1933. „New Deal“, das heißt auf Englisch soviel wie: Die Karten werden neu gemischt. Damals, angesichts einer verheerenden Weltwirtschaftskrise, in deren Zentrum die USA standen, schuf die Regierung, inspiriert von John Maynard Keynes’ Theorien, eine neue Wirtschaftsverfassung, zu der erstmals eine (rudimentäre) soziale Absicherung, Marktregulierung und vor allem große Staatsinvestitionen gehörten. Das war damals vermutlich richtig, um den Zusammenhalt der Nation und die Demokratie zu wahren (die gleichzeitig in Deutschland zusammenbrach), und schließlich schuf Roosevelts Regierung damit auch die ökonomischen Grundlagen dafür, dass die USA ab 1941 zur militärischen Supermacht werden konnten, die erst Deutschland und Japan im Zweiten Weltkrieg niederringen und danach der Sowjetunion im Kalten Krieg Paroli bieten konnten.
In der politischen Rhetorik hat die drohende Klimakatastrophe mittlerweile den Rang eines Quasi-Feindes übernommen. Dessen Bekämpfung avanciert zum Zweck, der alle finanziellen Mittel heiligt, zum Eine-Billion-Euro-Ziel eben.
Gigantische Summen Steuergeld nach klimapolitischen Maßgaben umzuverteilen ist aber wohl nur die eine Seite dieses Gigantenprojekts. Eine großangelegte Moralpolitik im Namen des Klimas gehört ebenso zum Green Deal: Die Europäische Kommission soll, so ist geplant, alle bedeutenden Unternehmen Europas und der Welt in zwei Gruppen einteilen: in gute Klimafreunde und böse Klimafeinde. Kriterien: Anpassung an Klimawandel, Schutz von Wasser- und Meeresressourcen, Abfallvermeidung und Schutz der Ökosysteme. Dieser Wirtschaftsmanichäismus soll nicht nur über öffentliche Subventionen und Aufträge entscheiden, sondern künftig Anlegern und Finanzinstituten als Grundlage für ihre eigenen Investitionsentscheidungen dienen. Wehe dem, der auf der falschen Seite steht! Er bekommt nicht nur von der gewaltigen Staatsknete nichts ab, sondern soll auch von privaten Anlegern gemieden werden. Die finanzielle Aufblähung der Staatsaktivität und die moralische Aufrüstung gehören zusammen und wirken in dieselbe Richtung.
Das ist europäische Klima-Politik in Theorie und Praxis: Ein Ideengemisch aus links-utopischer Global-Ökologie, Hypermoralismus und staatswirtschaftlichem Keynesianismus gibt das Programm vor – und ausgerechnet eine Christdemokratin aus der Partei Ludwig Erhards setzt sie um.
Man kann sich denken, wie Unternehmer und vor allem Manager von finanzmarktabhängigen Konzernen darauf reagieren werden. So wie es Joe Kaeser und Herbert Diess und andere jetzt schon tun, nur noch etwas mehr: Mit einem noch engeren Schulterschluss und Anbiederung an die Wünsche Brüssels. Nicht mehr der Konsumentenmarkt, sondern Kommission und Regierung prägen schon jetzt die wichtigsten Strategieentscheidungen etwa in der Autoindustrie. Nicht mehr „alle“, wie es Ludwig Erhard in seinem berühmten Buch postulierte, bestimmen als Konsumenten über Erfolg und Misserfolg von Unternehmen, sondern der Staat und eine moralisch aufgeladene Öffentlichkeit, die den Käufer bei unmoralischer (also nicht „grüner“) Entscheidung zur Scham verdammt.
Die Politik gibt den Unternehmen Investitionsentscheidungen vor und bringt zugleich die Konsumenten durch finanzielles Zuckerbrot und moralische Peitsche dazu, entsprechend dieser Vorgaben auch zu kaufen. Wie praktisch für die Unternehmen, wenn dadurch die lästigen Risiken des Marktes minimiert werden! Man revanchiert sich dafür dann gerne durch mehr oder weniger deutliche Aufrufe an die eigene Belegschaft, keine Populisten oder „europafeindlichen Kräfte“ zu wählen. So wie seinerzeit auch Friedrich Krupp seine Arbeiter warnte, bloß nicht die bösen „Reichsfeinde“ von der Sozialdemokratie zu wählen. Er verkaufte schließlich Kanonen an den Kaiser.
Flankiert wird dieses Gigantenprojekt von den beiden anderen großen europäischen Institutionen: Das Europäische Parlament ist schon mit der Ausrufung des „Klimanotstands“ vorgeprescht. Direkt nach von der Leyen Präsentation wird das Parlament zu einer Sondersitzung zusammenkommen. Kaum anzunehmen, dass sich eine Mehrheit gegen deren Programm ausspricht.
Die zweite Flanke – vermutlich ist es in Wirklichkeit der Schwerpunkt der großen europäischen Klima-Offensive – bildet die Europäische Zentralbank unter ihrer ebenfalls frisch installierten Präsidentin Christine Lagarde. Sie hatte schon vor Amtsantritt deutlich gemacht, dass die EZB sich künftig auch am Ziel des Klimaschutzes orientieren werde. Einige Institutionen und NGOs haben die EZB kürzlich sogar direkt aufgefordert, keine Anleihen von Unternehmen „mit Bezug zu Kohle“ mehr zu kaufen.
Was da unter der Ägide der Juristin Lagarde passiert, ist ein weiterer Grenzübertritt. Die Hybris erreicht ein neues Stadium. Schon Mario Draghis de facto Staatsfinanzierung war und bleibt eine Überschreitung des Mandats der EZB. Wenn nun eine demokratisch völlig unlegitimierte Institution (die das aus gutem Grund ist, um unabhängig von der demokratischen Politik sein zu können) nun auch noch ein über das Geld und die Wirtschaft weit hinausreichendes politisches Ziel wie die Rettung des Weltklimas zu seiner Aufgabe erklärt, und dies von Seiten anderer europäischer Institutionen und der nationalen Regierungen und Parlamente offenbar hingenommen wird, so hat ganz offensichtlich ein grundlegende Machtverschiebung stattgefunden. Eine Usurpation, gegen die sich niemand wehrt.
Und wie zum Hohn erklärt dazu noch die künftige deutsche Vertreterin im EZB-Direktorium Isabel Schnabel, dies werde die EZB „im Rahmen ihres Mandats tun“. Wie soll eine Politik, die an sich schon das Mandat des Maastricht-Vertrags verletzt, in dem von Zielen jenseits der Geldpolitik nicht die Rede ist, im Rahmen dieses Mandats bleiben können?
Vor den Augen der Bürger der europäischen Staaten, aber ohne deren offene Zustimmung vollzieht sich damit ein epochaler Wandel. Es geht um nicht weniger als die offene Abkehr von der Wirtschaftsverfassung, die in Deutschland mit dem Namen Ludwig Erhard verbunden ist und gemeinhin als „soziale Marktwirtschaft“ bezeichnet wird. Das strukturell „soziale“ an einer solchen Marktwirtschaft ist nicht erst der Sozialstaat, den sie finanziert, sondern sie ist schon in sich selbst sozial: Sie ermöglicht faire Bedingungen für alle Marktteilnehmer, indem sie dem Konsumenten das letzte, entscheidende Urteil über Erfolg und Misserfolg zubilligt und seine Zufriedenheit zum obersten Kriterium macht.
Von Erhard ist heute fast nur noch der berühmte Buchtitel „Wohlstand für alle“ in Erinnerung. Aber es ging Erhard und seinen Mitstreitern eben nicht nur um einen breiten Wohlstand. Klar, zunächst schon. Aber Erhard sah schon zu seiner Regierungszeit dieses Ziel für weitestgehend erreicht an. Das eigentlich zentrale Anliegen dieser Wirtschaftsverfassung, die bekanntlich vor allem im Denken der Freiburger Schule des Ordoliberalismus wurzelt, war ihre politische Neutralität als eine „Ordnung“ (lateinisch: ordo), die bürgerliche Freiheit ermöglicht und gewährleistet.
Die soziale Marktwirtschaft ist, wie Erhard 1972 schrieb, „auf überhaupt kein Ziel gerichtet [ist] als nur auf das eine, ein geordnetes Zusammenleben der Menschen zu ermöglichen“. Die Einhegung von Macht und die Verhinderung des Entstehens von verkrusteten Privilegien in der Wirtschaft, also der Kampf gegen Kartelle und andere Formen des Rent-Seeking – das ist das Hauptmotiv Erhards und der anderen Väter der sozialen Marktwirtschaft.
Der Markt als neutraler, möglichst machtsteriler Mittler zwischen freien Anbietern und freien Nachfragern. Und der Staat wacht darüber, dass es so bleibt. Was die Nachfrager nachfragen und die Anbieter anbieten sollen, hat ihn nicht zu interessieren.
Vermutlich war gerade diese Freiheitsorientierung der ordoliberalen Wirtschaftsverfassung, ihre schwache Flanke. Gegenüber den immanenten Begierden des Staates beziehungsweise seiner Nutznießer an dessen Ausweitung einerseits, den Interessen der Wirtschaftsakteure an der Ausschaltung von Marktrisiken andererseits und nicht zuletzt der Versuchung, das Wirtschaften so genannten „höheren“ Zwecken zu unterwerfen, was stets zur Rechtfertigung von Macht dienen kann.
Die „soziale Marktwirtschaft“ ist eine Wirtschaftsverfassung, die konsequent zwischen der staatlich-politischen Sphäre und der privat-geschäftlichen trennt. Die privaten Wirtschaftsakteure, sowohl Produzenten als auch Konsumenten sind weitestgehend „höheren“ Zwecken enthoben. Das war für die Väter der sozialen Marktwirtschaft auch eine Lehre aus den Katastrophen der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts.
Unter Kritikern ist oft von einer Rückkehr zum Sozialismus die Rede. Das ist ebenso bewusst oder unbewusst missverständlich wie die Bezeichnung „Nazi“ oder „Faschist“ für all jene neuen politischen Parteien und Bewegungen, die die Auflösung der Nationalstaaten, unbegrenzte Zuwanderung und oft auch die Klimaschutzpolitik ablehnen. Das, was heute unter dem Vorwand des Klimaschutzes und der humanitären Moral geschaffen wird, hat so gut wie nichts mit dem real existiert habenden Sozialismus à la DDR zu tun, und auch nicht allzu viel mit den nostalgisch-palliativen Traumtänzereien, wie sie jetzt ein die „Internationale“ singender Berufspolitikerverein namens SPD wieder aufführt. Es sind historische Reminiszenzen in Ermangelung eigener Begriffe für etwas neu entstehendes, das womöglich erst später in der Rückschau mit treffenden Begriffen versehen werden wird.
Nicht die Enteignung von Kapitalisten steht auf der Brüsseler oder Berliner Agenda. Sondern vielmehr die fortgesetzte Verzahnung von Kapital und Staat. Es geht um Macht – in der Wirtschaft, im Staat und in der Gesellschaft – und deren Festigung durch moralische (nicht unbedingt demokratische) Legitimation. Diese bietet das Verlangen nach Klimaschutz. Es entsteht dadurch ein neues Wirtschaftssystem, für das es noch keinen Namen gibt. Ein Wirtschaftssystem mit weiterhin privatem Eigentum an Produktionsmitteln (also ganz und gar nicht sozialistisch), das allerdings in weiten Bereichen den freien Markt als Entscheidungsgremium ausgeschaltet und durch staatliche Machtprivilegien ersetzt hat.
Das festzustellen und sich darüber große Sorgen zu machen, sollte übrigens keinesfalls dazu verführen, die sehr berechtigten Sorgen über die ökologischen Zerstörungen, die ökonomisches Handeln anrichtet, zu ignorieren oder auch nur klein zu reden. Die Gefahr besteht darin, dass der behauptete Zweck (das Klima) zum machtpolitischen Mittel wird. Gerade weil die natürlichen Lebensgrundlagen unersetzlich wertvoll sind und ihr Schutz unabdingbar, sollten wir niemals zulassen, dass die Sorgen und Ängste der Menschen um sie von den Mächtigen instrumentalisiert werden, um ihre Macht zu festigen und mündige Bürger zu ihren Mündeln zu machen.