Tichys Einblick
Auf Kosten der Verbraucher

Die Vermachtung im Einzelhandel beschleunigt die Inflation

Der Einzelhandel hat offensichtlich seine Oligopolmacht in der Zeit von Corona, Angebotsengpässen und Hamsterkäufen genutzt, um seine Gewinnmargen strukturell zu verbessern. Im Lebensmittelhandel scheint ein Paradigmenwechsel stattgefunden zu haben: Mitnehmen, was der Markt hergibt, scheint das neue Motto zu sein.

IMAGO / Rolf Poss

In Deutschland wütet die Inflation. Im Oktober erreichte die Teuerungsrate nach Berechnungen des Statistischen Bundesamtes mit 10,4 Prozent einen neuen Höchststand (harmonisierter EU Preisindex: 11,6 Prozent). So hoch wie jetzt war die Inflationsrate in Deutschland seit 1951 nicht mehr. Dazu vorab einige kurze methodische Hinweise und eine kurze Oktober-Bestandsaufnahme.

Methodische Hinweise und Inflationsentwicklung Oktober 2022

Die Inflationsrate errechnet sich aus dem Preisanstieg bestimmter Waren und Dienstleistungen, für die ein durchschnittlicher Endverbraucher in Deutschland im Jahresverlauf Geld ausgibt. Dieser zugrunde liegende Produktwarenkorb wird durch das Statistische Bundesamt definiert. Hierin enthalten sind unter anderem Ausgaben für Lebensmittel, Bekleidung, Miete, Strom, Telekommunikation, Freizeitausgaben und Rohstoffe (beispielsweise Benzin, Heizöl) sowie staatliche Gebühren und Steuern.

10,4 Prozent
Jetzt ist es amtlich: wieder ein neuer Inflationsrekord
Inflationsentwicklung Oktober 2022: Ein Ende der Teuerungswelle in Deutschland (wie in Europa) ist bislang nicht in Sicht. Im Gegenteil, die Inflation hat sich von Monat zu Monat weiter beschleunigt. Lag die Rate im Dezember 2021 noch bei „nur“ 5,3 Prozent, erreichte sie im Juli 2022 bereits einen Stand von 7,5 Prozent, im August von 7,9 Prozent, im September von 10,0 Prozent und aktuell im Oktober von 10,4 Prozent – Tendenz weiter steigend. Gegenüber dem Vormonat September stieg der Preisindex im Oktober 2022 sogar um 0,9 Prozent, auf Jahresrate hochgerechnet entspricht das einer Rate von 10,9 Prozent.

Alle Befürchtungen, wie sie an dieser Stelle bereits Ende letzten Jahres hinsichtlich der kommenden Inflation geäußert wurden, wurden damit sogar übertroffen. Und das, obwohl die Lohnkosten, die in früheren Inflationszyklen Hauptursache waren, bislang (noch) kaum eine Rolle gespielt haben.

Im Jahr 2022 sind Nahrungsmittel und Energie die Haupt-Inflationstreiber. Ohne Energie und Nahrungsmittel hätte die Inflationsrate im Oktober „nur“ +5,0 Prozent betragen.

Energieprodukte wurden binnen Jahresfrist um 43,0 Prozent teurer.

Nahrungsmittel verteuerten sich binnen Jahresfrist um 20,3 Prozent, damit war hier der Preisanstieg fast doppelt so hoch wie die Gesamtteuerung. Insgesamt hat sich der Preisauftrieb für Nahrungsmittel seit Jahresbeginn sukzessive verstärkt (September 2022: +18,7 Prozent). Erneut wurden im Oktober 2022 bei allen Nahrungsmittelgruppen Preiserhöhungen beobachtet: Erheblich teurer wurden Speisefette und Speiseöle (+49,7 Prozent), deutlich spürbare Anstiege gab es auch bei Molkereiprodukten und Eiern (+28,9 Prozent), Gemüse (+23,1 Prozent) sowie Brot und Getreideerzeugnissen (+19,8 Prozent).

Ende des Preisauftriebs nicht in Sicht

Ein Ende des Preisauftriebs ist nicht in Sicht, die Bundesbürger müssen auch 2023 mit einer starken Inflation rechnen. Die fünf Wirtschaftsweisen sagen in ihren jüngsten Jahresgutachten im kommenden Jahr neben einer leichten Rezession (-02 Prozent BIP) eine Inflationsrate von 7,4 Prozent voraus, nach 8,0 Prozent im Jahr 2022. Für Neu-Weise Ulrike Malmendier hat die Inflationsbekämpfung höchste Priorität. Neben den traditionellen Instrumenten der Geld- und Zinspolitik und den Versuchen, ein Überschwappen der von außen kommenden Energiepreishausse auf die Löhne, und damit eine Preis-Lohn-Preis Spirale, zu verhindern.

In der Tat ist Inflationsbekämpfung im Sinne der Lohnempfänger, sprich Verbraucher dringend notwendig. Gerade die Preise für Lebensmittel sind in Deutschland in den letzten zwei Jahren ungewöhnlich stark gestiegen, sogar deutlich stärker als die allgemeine Inflationsrate. Die Daten des Statistischen Bundesamtes zeigen deutlich, wie sich die Nahrungsmittelpreise seit Ausbruch der Ukraine-Krieges Monat für Monat von der durchschnittlichen Inflationsrate in immer größeren Schritten entkoppelt haben: Während die Verbraucherpreise insgesamt von Februar bis Oktober dieses Jahres um 8,6 Prozent stiegen, verteuerten sich Nahrungsmittel beschleunigt um 14,6 Prozent.

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Dazu einige anschauliche Beispiele aus der Süddeutschen Zeitung: Die Preise für Mövenpick-Konfitüre sind von 2,49 auf 2,99 Euro gestiegen, Sonnenblumenöl von Thomy verteuerte sich von 2,29 auf 3,99 Euro, bei Aldi kostete Bio-Milch plötzlich 50 Cent mehr, Butter kostet im Oktober 2022 fast zwei Drittel (55 Prozent) mehr als ein Jahr zuvor. Gastwirte klagen, dass tiefgefrorene polnische Gänse im Einkauf im Edeka-Großhandel über Nacht netto statt 25 Euro plötzlich 50,34 Euro kosten, gleiches Schlacht- und Verpackungsdatum. Die Liste ließe sich endlos verlängern.

Die Discounter (Aldi, Netto, Edeka und Rewe) erzielen laut GfK (Gesellschaft für Konsumforschung) im September ein Umsatzplus von 20 Prozent. Dafür waren nicht nur steigende Warenabsätze verantwortlich, sondern auch auf breiter Front steigende Preise. Alle Discounter hüllen sich darüber in Schwiegen, oder äußern sich, wenn überhaupt, dann als „zufrieden“ (Stefan Kopp, Sprecher Verwaltungsrat Aldi Süd). Ein berichtspflichtiges Unternehmen aus der Branche, wie zum Beispiel Nestlé, der weltweit größte Nahrungsmittelkonzern, hat einen Umsatz in den ersten neun Monaten 2022 um 8,5 Prozent gesteigert, der Gewinn von Pepsico lag im dritten Quartal 2022 um 20 Prozent, der von Coca Cola um 14 Prozent höher als im Vorjahr, „was zum großen Teil auf Preiserhöhungen zurückzuführen ist“ (New York Times, zitiert nach SZ).

Händler und Hersteller verdienten offensichtlich gut am heißen Preisklima und manch einer scheint die allgemein Inflationsmentalität quasi als Trittbrettfahrer ausgenutzt zu haben (Süddeutsche Zeitung, 9 November 2022). Zumal die Lebensmittelbranche in Person des grünen Agrarministers Cem Özdemir erstmals auch in der Politik einen wortgewaltigen Fürsprecher höherer Erzeugerpreise für (bessere) Nahrungsmittel gefunden hat. „Der Verdacht liegt nahe, dass Händler und Hersteller die Inflation für ihre eigenen Zwecke nutzen“, so Armin Valet (Verbraucherzentrale Hamburg).

Aus der Preisinflation wird eine Gewinninflation

In dem seit Jahren von hohem Wettbewerbsdruck und niedrigen Margen gebeutelten Lebensmittelhandel scheint ein Paradigmenwechsel stattgefunden zu haben: Mitnehmen, was der Markt hergibt – scheint das neue Motto in der Branche geworden zu sein. Oder, wie es im Mittelalter schon als Lebensweisheit galt: „When in Rome, do as the Romans do“. Dafür jedenfalls spricht ein Hinweis von Edeka in der causa tiefgefrorener Polengans: Alle „relevanten“ Wettbewerber hätten die Preis etwa in gleichem Maße erhöht (SZ). Und das alles zu Lasten der Verbraucher.

Aus der Preisinflation wird so eine Gewinninflation! Wie konnte es dazu kommen? Fakt ist, dass die deutschen Verbraucher bei zunehmend knapper werdenden Kassen wieder die preiswerten Discounter von früher gesucht haben, aber nicht mehr gefunden haben. Die Gründe dafür sind vielfältig, es gibt kurzfristig konjunkturelle, ebenso wie langfristig strukturell wirkende Gründe:

Der Ukraine-Krieg und die aufkommende Inflationsmentalität boten einen solchen Anlass. Die Angst der Kunden vor Verknappung lebenswichtiger Produkte boten dem Lebensmittelhandel über die ganze Wertschöpfungskette hinweg die hoch willkommene Gelegenheit, die Preise deutlich nach oben zu korrigieren. Kollektive Bedarfe zur Verbesserung der geringen Margen für Nahrungs- und Grundbedarfsmittel als Folge früherer Preisschlachten war bei allen vorhanden. Nur zur Erinnerung: Die Preise für Tiefkühlpizza waren bisweilen so gering, dass sich die Produktion selbst für Nahrungsmittelmultis nicht mehr rechnete. Der Butterpreis hatte sich zeitweise wegen der Konkurrenz aus dem fernen, aber immer saftig grünen Irland halbiert – inzwischen aber wieder mehr als verdoppelt. Und deutsche Kühe hätten zum Preis, den die Bauern für ihre Milch von der Molkerei bekamen, nichts mehr abgegeben, hätte die Natur sie dazu nicht verurteilt.

Überproportionale Teuerung in Deutschland

Hinzu kam, dass Preissprünge auf allen Ebenen, bei den Importpreisen für Energie und Rohstoffe, bei den industriellen Erzeugerpreisen und nun eben auch bei den Nahrungsmittelpreisen auf großes Vorverständnis bei den Verbrauchern stieß. Überall stiegen ja die Preise: für Benzin, Öl, Gas, Holzpeletts, beim Bäcker, beim Friseur etc., dann eben auch für Lebensmittel. Ob die Produzenten und/oder der Handel nur die gestiegenen externen oder internen Kosten weitergaben und nicht noch eine Preis-Schippe drauflegten – wer wollte das von den Verbrauchern oder vom Bundeskartellamt nachvollziehen? Niemand.

Und so kam es, wie es kam, plötzlich stiegen die Nahrungsmittelpreise in Deutschland, dem früheren Wunderland billiger Nahrungsmittelpreise, seit 2021 erheblich stärker als bei den europäischen Nachbaren. Nach dem Harmonisierten Verbraucherpreisindex von Eurostat liegt die Teuerungsrate für Lebensmittel zuletzt bei 18 Prozent und übersteigt damit die Inflationsraten für Lebensmittel von Ländern wie Spanien (15 Prozent), Italien (12,5 Prozent), Frankreich (11 Prozent) und der Schweiz (3,5 Prozent) deutlich. Allerdings ist Deutschland bei Verteuerung von Lebensmittel im EU-Vergleich nicht Spitzenreiter: In osteuropäischen Ländern liegt die Rate merklich höher, in Litauen oder Lettland liegt die Nahrungsmittelinflation bei über 25 Prozent, in Ungarn sogar bei 33 Prozent.

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Dennoch bleibt die Frage offen, wie sich diese deutlichen Unterschiede in der Preisdynamik erklären lassen; Deutschland gegen den Rest der EU? Als ein wichtiger Grund für die überproportionale Teuerung in Deutschland werden die gestiegenen Erzeugerpreise angeführt, die zusammen mit Mehrwertsteuer, Marge und den Transportkosten den Endpreis eines Produktes beim Verbraucher bestimmen. Vor allem in der Landwirtschaft wären laut Experten diese Preise angestiegen, ein Umstand, der sich auch auf die Warenpreise bei Händlern wie Aldi, Lidl & Co. spürbar ausgewirkt hätte. So habe sich der Milchpreis in den letzten 18 Monaten fast verdoppelt; bei den Erzeugern ist davon allerdings kaum etwas angekommen, der Anstieg dürfte beim Handel stecken geblieben sein.

Wichtiger als Ursache scheint das – wie die Statistik zeigt erfolgreiche – Bemühen der deutschen Discounter, der EU im Bemühen um einheitliche Lebensverhältnisse im EU-Raum hilfreich zur Seite zu treten. Denn im EU-Vergleich lag das Niveau der Nahrungsmittelpreise in Deutschland dank des scharfen Wettbewerbs auf der Einzelhandelsstufe und der Discounter untereinander seit Jahr und Tag auf einem sehr niedrigen Ausgangsniveau. Was den Verbrauchern nutzte – und die Verschwendung begünstigte. Dadurch fällt die jetzige Teuerungswelle stärker ins Gewicht (Basiseffekt).

Als Beispiel: Kostet eine Gurke bei Aldi, Lidl & Co. jetzt einen Euro statt wie vorher 70 Cent, liegt die Teuerungsrate bei 43 Prozent. Steigt der Preis einer Gurke in Frankreich von 1,10 Euro auf 1,40 Euro, ist der absolute Anstieg des Preises mit 30 Cent zwar der gleiche, die Teuerungsrate liegt aber nur bei 27 Prozent. Das allgemeine Preisniveau bei Lebensmitteln ist zum Beispiel in Frankreich im Vergleich zu Deutschland trotz des überproportionalen Anstieges der deutschen Nahrungsmittelpreise noch immer deutlich höher. Genauso wie das Preisniveau in Osteuropa trotz der hohen zweistelligen Inflationsraten nach wie vor erheblich niedriger ist als in Rest-Europa. Womit der alte statistische Lehrsatz erneut bewiesen ist: Zuwachsraten sagen nichts über Niveaus aus.

Der Einzelhandel hat offensichtlich seine Oligopolmacht in der Zeit von Corona, Angebotsengpässen und Hamsterkäufen kollektiv und im Gleichschritt genutzt, seine Gewinnmargen strukturell zu verbessern. Folgt man Wirtschaftsminister Robert Habeck, wird das auch so bleiben: “Das Preisniveau wird nicht mehr wie vor Putins-Krieg.“

Quelle: Statistisches Bundesamt, Dr. Bruno Kesseler

An eine Rückkehr zum alten höheren Wettbewerbsgrad bei den Discountern und zu alten Preisverhältnissen glaubt er offensichtlich nicht. Dann muss Wirtschaftsweise Ulrike Malmendier wohl zu anderen Instrumenten der Inflationsbekämpfung greifen.

Vielleicht wäre ein Anruf beim Kartellamt hilfreich: Nach § 19 (2) GWB könnte das Kartellamt zügig einschreiten. Bei „spontan solidarischem Parallelverhalten“ könnte das Amt schnell erhebliche Bußgelder verhängen und müsste nicht wie bei Machtmissbrauch dies mühsam beweisen.

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