Tichys Einblick
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Unabhängiger Sachverständigenrat sucht Abhängigkeit – Die „fünf Weisen“ ziehen nach Berlin

Früher galt er als regierungskritisch, heute als angepaßt. Der „Sachverständigenrat“ verlegt seinen Dienstsitz von Wiesbaden nach Berlin. Schon werden Forderungen laut, beim Ortswechsel allein dürfe es nicht bleiben, weitere Strukturreformen sollten folgen. Wie kann der Rat intellektuell reaktiviert werden?

Prof. Dr. Dr. Ulrike Malmendier, Prof. Dr. Martin Werding, Prof. Dr. Dr. h.c. Monika Schnitzer, Prof. Dr. Achim Truger, Prof. Dr. Veronika Grimm, Vorstellung Konjunkturprognose 2023/24 – Sachverständigenrat zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung, Berlin, 22.03.2023

IMAGO / Metodi Popow

Früher galt der „Sachverständigenrat zur Begutachtung  der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung“ als unabhängig, hat die Wirtschafts- und Finanzpolitik der Regierung, aber auch der Tarifpartner kritisch begleitet. Davon ist schon lange nichts mehr zu spüren. Die Bürger werden vielmehr auf angeblich notwendige harte Zeiten infolge der Energiepolitik eingestimmt, statt die Energiewende zu kritisieren. Die ohnehin niedrigen Renten sollen gekürzt, die Pensionen der Politiker unangetastet bleiben. Die „Transformation“ der Marktwirtschaft in eine rotgrüne Planwirtschaft wird unkritisch begleitet. Aus dem Forum der Kritiker wurde ein Jubelchor, der dem Bundeswirtschaftsminister gefallen will. Jetzt, im 60. Jahr seines Bestehens, soll der letzte logische Schritt erfolgen: Die Verlagerung von Wiesbaden nach Berlin, um unter den Rock derjenigen zu schlüpfen, denen man eigentlich distanziert gegenüber stehen sollte.

Der Rat und sein gesetzlicher Auftrag sind ein Produkt der frühen Jahre der Bundesrepublik, das Gremium ist in die Jahre gekommen. Der Rat und seine voluminösen, stark akademisch angehauchten Jahresgutachten sind für viele Adressaten – die Öffentlichkeit und die politischen Institutionen wie zum Beispiel Bundesregierung und Abgeordnete des Deutschen Bundestags – inzwischen aus der Zeit gefallen. Von Angela Merkel und Olaf Scholz ist bekannt, dass sie die Gutachten wenig interessierten. Allenfalls gründlich gelesen von Assistenten und Doktoranten der Nationalökonomie – was allerdings zu keinen negativen Rückschlüssen auf die wissenschaftliche Qualität der Gutachten führen sollte, im Gegenteil.

Aber was nützen noch so schöne wissenschaftlich solide Abhandlungen und Beweisführungen, wenn die Stimme des Sprechers in Politik und Öffentlichkeit immer weniger Gehör findet, sein Beratungsauftrag damit ins Leere läuft?

Der Rat wurde zum eher lästigen Traditionsgremium: nice to have, aber überflüssig

Früher war alles anders, das gilt auch für den Rat. Da konnten die „fünf Wirtschaftsweisen“ Leitplanken für die deutsche Wirtschaftspolitik einziehen, die bis heute Gültigkeit haben, wie zum Beispiel die produktivitätsorientierte Lohnpolitik, die Freigabe des D-Mark-Wechselkurses und die Grundelemente der späteren Europäischen Währungsunion, die regelgebundene/angebotsorientierte Geldpolitik, der konjunkturneutrale Haushalt etc. Im Jahr 2002 bereitete der Rat mit „Zwanzig Punkte für Beschäftigung und Wachstum“ Teile der Schröderschen „Agenda 2010“ vor, anhand derer der „kranke Mann am Rhein“ (The Economist) wieder flott gemacht werden sollte – und dann auch wurde. Und im Gutachten des Folgejahrs „Staatsfinanzen konsolidieren – Steuersystem reformieren“ fand sich eine Vorlage für die bis heute letzte größere Unternehmensteuerreform.

Immer war es seit seiner Gründung die Zielsetzung des Rates, diskretionäre, damit personen- und parteipolitische und klientelgebundene Entscheidungen durch regelgebundene und damit transparente Entscheidungsabläufe zu ersetzen und damit für die Öffentlichkeit verständlich und nachvollziehbar zu machen. Das ist lang her, der Rat ist in die Jahre gekommen, hat dem Zeitgeist folgend genderisiert, die wirtschaftspolitischen Themen des Rates wanderten weg von der bundesrepublikanischen Ebene nach Brüssel oder in die hohe Politik, waren jedenfalls für den Rat und seine Überlegungen für die rein deutsche Wirtschaftspolitik nur noch schwer zu erreichen.

Der Sachverständigenrat zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung geriet langsam aber sicher aus dem Blickfeld der breiten Öffentlichkeit, seine Themen mutierten zunehmend mehr zum Gegenstand von Fachzirkeln, nicht mehr der Wirtschaft als Ganzes. Seine Konjunkturprognosen in den frühen 60er- und 70er-Jahren hochbeachtet, weil singulär, gerieten unter die Räder der Prognosevielfalt aller möglicher Institutionen, Banken und Gremien, verloren also ihre Einzigartigkeit. Internet und neue Kommunikationsmedien ermöglichten bei wirtschaftspolitischen Problemstellungen Suchenden in Windeseile Antworten, die früher nur in den Jahresgutachten des Rates zu finden waren. Gedruckte Exemplare der Gutachten werden heute nur noch für Präsentationszwecke hergestellt, alle Inhalte der Gutachten sind online abzurufen.

Kurzum: Der Rat wurde zum eher lästigen Traditionsgremium in der Politik, nice to have, aber im Prinzip überflüssig, was sich gelegentlich auch darin ausdrückte, dass Nachbesetzungen der fünf Wirtschaftsweisen, auch der Stelle des Ratsvorsitzenden, teils monatelang verschleppt wurden oder, bei Koalitionsregierungen, dem Parteien- oder Geschlechterproporz folgen mussten, nicht in erster Linie der Qualifikation.

Gefahr von Interessenkumpanei und Lobbyismus wächst bei Umzug nach Berlin

Lediglich für akademische Laufbahnen erweist sich eine Tätigkeit als Ratsmitglied oder vor allem im Stab nach wie vor als zielführend. Als volkswirtschaftliche und empirische Ausbildungsstätte blieb der Sachverständigenrat unangefochten in Deutschland die Nummer Eins. Doch das ist Beifang, nicht die eigentliche Aufgabe des Rates. Reformen sind daher angebracht, der Tausch des dampfigen Wiesbadener Kurklimas gegen die raue politische Berliner Luft ist angebracht, bringt aber auch Gefahren mit sich: nämlich der schleichende Verlust der bisherigen Unabhängigkeit als Beratergremium und das unmerkliche Umsponnenwerden durch ein Netz politischer Abhängigkeiten.

Damit zum Vorgang selber. Anfang Oktober 2023, mitten in der laufenden „Kampagne“ am diesjährigen Jahresgutachten, hat der Rat verkündet, seinen bisherigen Dienstsitz in Wiesbaden im Statistischen Bundesamt, den er seit 1963/64 innehatte, zu verlassen. Und nach Berlin zu ziehen. Der Umzug in die Hauptstadt solle Ratsmitgliedern und Mitarbeitern „einen intensiveren Austausch mit der Entscheidungs- und Arbeitsebene in der Exekutive und Legislative“ ermöglichen.

Davon ist auszugehen. Alles, was in Deutschland wirtschaftspolitisch Rang und Namen hat oder glaubt zu haben, hat inzwischen seinen Dienstsitz in Berlin – und eine feste Tischreservierung beim Borchardts. Kurze Wege und schnelle Terminvereinbarungen erleichtern die Kommunikation zwischen Ratgeber und Ratsuchendem ungemein. Richtig ist jedoch, dass informelle oder gar zufällige Treffen mit politischen Entscheidern und deren Zuarbeitenden in Berlin deutlich häufiger als in Wiesbaden stattfinden dürften.

Die Gefahr der Interessenkumpanei und des Lobbyismus liegt da nahe, zumal wenn die bisherige Übung beibehalten wird, dass einzelnen Gesellschaftsgruppen wie Arbeitgebern oder Gewerkschaften bei der Berufung ein Vorschlagsrecht für „ihren“ Kandidaten zukommt. Genau das hatte der Gesetzgeber bei Gründung des Gremiums vermeiden wollen. Mit dem Umzug will der Rat das offensichtlich korrigieren. Offensichtlich will der Rat mehr politischen Einfluss erlangen, einzelne Ex-Mitglieder wie der frühere Vorsitzende Lars Feld, dem die Politik eine zweite Amtszeit als Vorsitzendem verwehrte, haben den schon durch Beratungsjobs unmittelbar bei den zuständigen Ministern, in diesem Fall beim Bundesfinanzminister höchstpersönlich.

Ursprünglich als externes und unabhängiges Gremium konzipiert

Warum hat der heutige Rat so wenig politische Gestaltungsmacht und Durchsetzungskraft? Dazu ein kurzer Rückblick auf die Entstehungsgeschichte der „fünf Weisen“. Der Sachverständigenrat zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung wurde als Gremium im Jahr 1963 durch einen gesetzlichen Auftrag eingeführt. Die Existenz des Sachverständigenrats ist im Gesetz über die Bildung eines Sachverständigenrates zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung rechtlich verankert. Dieses Gesetz wurde am 26. Juni 1963 einstimmig vom Deutschen Bundestag verabschiedet.

Geistiger Vater des Rates war Gründungsmitglied Herbert Giersch, Professor für Wirtschaftspolitik an der jungen, erst 1957 nach der Wiederrückgliederung des Saarlandes als 11. Bundesland an die Bundesrepublik Deutschland in die westdeutsche Rektorenkonferenz aufgenommenen Universität des Saarlandes in Saarbrücken. Als Vorbild für den Sachverständigenrat galt vor der Gründung das US-amerikanische Council of Economic Advisers, dessen Nähe zum US-amerikanischen Präsidenten in der deutschen Diskussion um wissenschaftliche Beratung in den frühen Fünfzigerjahren allerdings heftig kritisiert wurde. Auch war dem Council of Economic Advisers keine öffentliche Rolle zugedacht, er sollte nur für den Präsidenten arbeiten. Diese Rolle sollte der SVR jedoch haben. Er wurde als ein externes und unabhängiges Gremium konzipiert, „das sich in die öffentliche Diskussion einschalten sollte“.

Ziel war die periodische Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung zur Erleichterung der Urteilsbildung aller wirtschaftspolitisch verantwortlichen Instanzen sowie der Öffentlichkeit. Als Aufgabe sollte er sich wissenschaftlich mit der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung Deutschlands befassen, sie analysieren, Fehlentwicklungen diagnostizieren und Möglichkeiten aufzeigen, diese zu vermeiden oder zu beseitigen. In keinem Fall durfte er Empfehlungen an die politischen Entscheidungsträger abgeben.

Zu diesem Zweck muss der Rat jährlich ein Gutachten erstellen, das der Bundesregierung bis zum 15. November zugeleitet wird. Spätestens acht Wochen nach Vorlage des Gutachtens nimmt die Bundesregierung im Rahmen des Jahreswirtschaftsberichts dazu Stellung. Darüber hinaus kann der Sachverständigenrat von der jeweiligen Bundesregierung mit der Erstellung von Sondergutachten beauftragt werden oder selbst ein Sondergutachten erstatten, wenn auf einzelnen Gebieten eine Gefährdung der gesamtwirtschaftlichen Ziele erkennbar ist.

Mit dem Umzug von Wiesbaden nach Berlin, aus der Provinz ins Zentrum der politischen Macht, nimmt der Rat – gewollt oder ungewollt – nicht nur einen Ortswechsel, sondern auch eine substanzielle Anpassung seines Beratungsauftrags vor. Um dieses besser zu verstehen, ist ein kurzer Blick in die Entstehungsgeschichte des Sachverständigenrates zweckmäßig.

Entstehungsgeschichte unter Ludwig Erhard

Begonnen hatte alles in den 1950er-Jahren, als der damalige Bundeswirtschaftsminister Ludwig Erhard eine „Versachlichung“ der wirtschaftspolitischen Debatte zur „Erleichterung einer Wirtschaftspolitik der Vernunft“ wollte. Erhard wollte vor allem eine neutrale und sachliche Informierung und Beratung der politischen Öffentlichkeit. Um auf diese Weise Konflikte und konkurrierende Interessen in der Wirtschaftspolitik, wie sie unter anderem zwischen Politik, Gewerkschaften und Arbeitgebern immer gegeben sind, zu vermeiden; einzelne Stimmen aus der Wissenschaft waren ihm dafür zu schwach, ein Gremium sollte her.

1958 schlug Erhard gemeinsam mit dem damaligen Bundesarbeitsminister Theodor Blank ein „Sachverständigengremium für Wirtschafts- und Sozialpolitik“ vor. Erhard dachte dabei aber nicht an eine Beratung der Regierung; diese sah er durch das Ministerium für Wirtschaft ausreichend beraten. Bundeskanzler Konrad Adenauer sah das ähnlich. Der Vorschlag wurde vom Bundeskanzleramt und der CDU/CSU abgelehnt. Bundeskanzler Konrad Adenauer reagierte auf den Vorschlag mit Entrüstung und soll den Bundeswirtschaftsminister gefragt haben: „Erhard, woll’n Sie sich ’ne Laus in ’n Pelz setzen?“

Erst 1962/63 konnte Erhard seinen Vorschlag parlamentarisch umsetzen, als ein starker Wirtschaftsboom die Preisniveaustabilität in der Bundesrepublik gefährdete und die Lohnentwicklung aus dem Ruder zu laufen drohte. Wesentliche Elemente waren ein Empfehlungsverbot und, dass die Berufung neuer Mitglieder nicht durch den Rat selber, sondern nur durch den Bundespräsidenten auf Vorschlag der Bundesregierung (§ 7 SVRG) erfolgen darf (Kooptionsverbot).

Das Gesetz zur Gründung des Sachverständigenrates wurde von Bundespräsident Heinrich Lübke und Vizekanzler Ludwig Erhard (nicht von Bundeskanzler Adenauer) unterzeichnet und trat am 14. August 1963 in Kraft. Als Beratungsort des Sachverständigenrats einigte man sich auf das Statistische Bundesamt in Wiesbaden. Man wählte in den 60ern bewusst keinen Ort in Bonn, da man die politische Unabhängigkeit des Sachverständigenrats durch die räumliche Distanz von der Bundesregierung betonen wollte. Das Statistische Bundesamt fungierte von Beginn qua Gesetz als Geschäftsstelle und Schlüssel des Rates zum statistischen Datenschatz des Amtes, ohne die die Arbeit von Rat und Stab unmöglich wären. Seit 1970 amtiert der Sachverständigenrat offiziell in Wiesbaden, davor die meiste Zeit bei Gründungsmitglied Herbert Giersch in der Wirtschaftswissenschaftlichen Fakultät der Universität Saarbrücken.

Welche Reformen würden dem Rat mehr politische Bedeutung und Gewicht verleihen?

Nur die Stabsmitglieder sind seither fulltime beim Rat mit Zeitverträgen fest angestellt, die Ratsmitglieder selber fungieren als „Teilzeit-Gutachter“ und gehen in der Hauptsache ihren gegebenen beruflichen Tätigkeiten nach. Und treffen sich nur zu den Sitzungen und während der Kampagne (jeweils August bis November) „am Stück“ in Wiesbaden, um die Gutachten zu Papier zu bringen oder Textentwürfe der Stabsmitglieder zu finalisieren.

Die derzeitigen Mitglieder des Rates sind:

Welche Reformen wären zielführend, würden dem Rat mehr politische Bedeutung und Gewicht verleihen? Ex-Weiser Bert Rürup bringt es auf den Punkt: „So überfällig dieser Umzug ist – er allein dürfte kaum ausreichen, um den in zurückliegenden Jahren einsetzenden schleichenden Bedeutungsverlust zu stoppen. Der Rat steckt in einer Zwickmühle, aus der er sich nicht selbst befreien kann. Laut Gesetz ist es ihm untersagt, ‚Empfehlungen für bestimmte wirtschafts- und sozialpolitische Maßnahmen auszusprechen‘. Adressat der Begutachtung ist vielmehr die Öffentlichkeit.“ (Der Chefökonom, Kämpfer gegen den Bedeutungsverlust).

Rürup als Insider beklagt „wichtigste(n) Regierungsberater“, wie die Wirtschaftsweisen oft genannt werden, seien die Mitglieder des Gremiums eben nicht, sondern eher so etwas wie ein „Obergutachter“. Fakt ist, dass es heute anders als vor 60 Jahren zahlreiche formelle und hochqualifizierte wirtschaftspolitische Begutachter gibt „ – und zudem unzählige selbst ernannte Welterklärer in den sozialen Medien mit teils erstaunlich großer Gefolgschaft“. Die weitgehend staatlich finanzierten Wirtschaftsforschungsinstitute erstellen regelmäßig Konjunkturprognosen sowie zahlreiche Gutachten zu aktuellen ökonomischen Problemen. Wirtschafts- und Finanzministerium haben hochkarätige wissenschaftliche Beiräte, und viele Banken verfügen über volkswirtschaftliche Abteilungen mit exzellenten Chefvolkswirten, die ihrerseits häufig beim Rat ausgebildet wurden.

Darüber hinaus versuchen Gewerkschaften sowie Wirtschafts- und Arbeitgeberverbände, mit ihren ökonomischen Analysen die öffentliche Meinung und damit die Politik zu beeinflussen. In diesem Vielklang wirkt der Rat wie eine Stimme unter vielen, allerdings ohne große Gefolgschaft der anderen Organisationen.

Rürup vertritt die Auffassung, Politikberatung habe stets einen konkreten Adressaten, also etwa die Regierung, einen Minister, eine Partei oder einen Verband. Letztlich muss – und das ist der Unterschied zur Begutachtung – ein Berater den Erfolg seines Auftraggebers wollen und bereit sein, dessen Ziele und Restriktionen zu akzeptieren. Beratung bedinge also die Aufgabe der Neutralität, nicht jedoch die Aufgabe der wissenschaftlichen Seriosität. Diese Gratwanderung muss der Rat in Zukunft bewältigen, wenn, ja wenn, der Gesetzgeber das Ratsgesetz reformiert und damit dem Sachverständigenrat die Möglichkeit einräumt, Empfehlungen auszusprechen. Anhand derer die Politik sich dann später auch messen lassen muss, ob sie diesen Empfehlungen gefolgt ist oder nicht.

Es fehlt die Erlaubnis für den Rat, Empfehlungen auszusprechen

Vor kurzem hat die FDP einen Versuch gestartet, die Bedeutung des Sachverständigenrats zu stärken. Die Regierung sei heute „mehr denn je auf konstruktiv-kritischen wissenschaftlichen Rat angewiesen“, hieß es in einem Positionspapier der Bundestagsfraktion. „Die Bundesregierung soll im Rahmen des Jahreswirtschaftsberichts konkrete Handlungsvorschläge aus dem Jahresgutachten des SVR entwickeln und ein jährliches Update geben, welche Vorschläge aus dem Vorjahr bereits umgesetzt wurden“, so das FDP-Papier. Dafür müsste freilich das SVR-Gesetz reformiert werden
Damit sitzt die berühmte – von Adenauer vorhergesehene – Laus im Pelz!

Nach Rürup wäre es auch sinnvoll, im Fall einer Reform durch die Bundesregierung zumindest die Tätigkeit des Ratsvorsitzenden hauptamtlich ausführen zu lassen und die Tradition, je ein Mitglied auf Vorschlag der Sozialpartner zu berufen, abzuschaffen.

Zudem wäre es klug, die Mitgliedschaft auf eine Amtsperiode zu begrenzen. So würde mehr Raum für neue Ideen geschaffen, und neue ökonomische Problemfelder könnten rascher durch neue Experten abgedeckt werden. Gleichzeitig würde das oft unwürdige Gezerre um etwaige Amtszeitverlängerungen entfallen. Alles diese erscheint sehr vernünftig und zweckmäßig.
Ginge es nach Rürup, sollte „ein modernisierter Sachverständigenrat … auf eigene Konjunkturprognosen und kompendienhafte Jahresgutachten verzichten. Hingegen sollte die Kernkompetenz, die theoriegeleitete und durchgerechnete Ableitung von wirtschaftspolitischen Optionen, gestärkt werden. Der Rat sollte sich auf die Erstellung mehrerer unterjähriger Ad-hoc-Expertisen zu aktuellen Problemen konzentrieren.“

Dies sollte die Politik indessen tunlichst vermeiden. Die Prognosen des Rates, weil zeitlich die letzten jeweils im Jahr mit der besten Datenbasis, haben eine hohe Treffergenauigkeit und sind eine hervorragende Möglichkeit, junge Volkswirte an empirisches Arbeiten im Rahmen der Volkswirtschaftlichen Gesamtrechnung heranzuführen. Kurz: Als Lernstatt ist der Rat unersetzlich.
Für Rürup wirken die mehrere Hundert Seiten starken Jahresgutachten heute wie aus der Zeit gefallen. Was die Bundesregierung brauche, ist „rascher, politiknaher und gleichzeitig wissenschaftlich fundierter“ Rat.

Den erhält sie allerdings auch heute schon, jedem Gutachten ist eine Kurzfassung für den eiligen Leser vorgeschaltet. Das Lesen kann der Rat dem Politiker indessen nicht abnehmen. Wohl aber die Furcht, dass das, was der dann liest, nicht in verständlicher Sprache wohlformuliert niedergelegt ist.
Was fehlt, ist die Erlaubnis für den Rat, gezielte, politiknahe und gleichzeitig wissenschaftlich fundierte Empfehlungen auszusprechen. Ob die Mitglieder der Ampelregierung daran Interesse haben, ist kaum vorstellbar.

Dr. Helmut Becker war von 1970 bis 1974 Stabsmitglied im Sachverständigenrat.


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