Tichys Einblick
Produktionskürzungen und Stellenabbau

Tiefgreifender Umbruch bei Thyssenkrupp – Sigmar Gabriel tritt als Aufsichtsratschef zurück

Hohe Energiekosten belasten Thyssenkrupp. Das Unternehmen will seine Stahlproduktion in Duisburg herunterfahren, mit erheblichen Folgen für die Beschäftigten. Die internen Spannungen haben sich durch den Rücktritt von Sigmar Gabriel und weiterer Aufsichtsratsmitglieder verschärft. Von Hannes Märtin

Sigmar Gabriel, Duisburg, 29. August 2024

picture alliance / NurPhoto | Ying Tang

Thyssenkrupp, einst ein führender Name in der deutschen Schwerindustrie, steht vor einem historischen Umbruch. Die Stahlsparte des Unternehmens befindet sich in einer Krise, die enorme Herausforderungen umfasst. Der Rücktritt von Sigmar Gabriel und weiteren Mitgliedern des Aufsichtsrates der Stahlsparte zeigt einmal mehr die derzeitige Unsicherheit und die schwierigen Zeiten, in denen sich das Unternehmen befindet.

Produktionskürzungen und Stellenabbau: Die harte Realität

Thyssenkrupp hat kürzlich angekündigt, die Stahlproduktion in Duisburg um zwei Millionen Tonnen pro Jahr zu reduzieren. Dies ist eine drastische Maßnahme, die erhebliche Folgen für die rund 13.000 Beschäftigten am Standort Duisburg haben wird. Die geplante Reduzierung der Produktionskapazität von 11 auf 9 Millionen Tonnen jährlich wird unweigerlich zu einem Stellenabbau führen. Der genaue Umfang der betroffenen Arbeitsplätze ist noch nicht festgelegt, aber die Unsicherheit innerhalb der Belegschaft ist bereits groß.

Um den sozialen Druck abzufedern, hat die Unternehmensführung betriebsbedingte Kündigungen ausgeschlossen und eine Beschäftigungsgarantie bis März 2026 gewährt. Dennoch kann diese Garantie die Unsicherheit nicht vollständig beseitigen. Die Produktionskürzungen werden nicht nur die Herstellung, sondern auch die Verarbeitungs- und Verwaltungsbereiche betreffen.

Politische und wirtschaftliche Herausforderungen

Die aktuelle Situation bei Thyssenkrupp ist nicht nur das Ergebnis interner Probleme wie Missmanagement, sondern auch das Ergebnis externer Faktoren. Die deutsche Energiepolitik hat zu stark steigenden Energiekosten geführt, die die Stahlproduktion erheblich belasten. Gleichzeitig verschärfen günstige Importe aus Asien den Wettbewerb auf dem globalen Markt. Auch der Rückgang der Nachfrage in der Automobilindustrie, insbesondere im Bereich der E-Mobilität bei Audi, VW & Co., haben die Nachfrage nach inländisch produziertem Stahl weiter verringert.

Anstatt Unternehmen wie Thyssenkrupp durch steuerliche Entlastungen oder niedrigere Energiekosten zu unterstützen, verfolgt die Politik in Berlin weiterhin ihre strikten Klimaziele. Thyssenkrupp-CEO Miguel López treibt ebenfalls die grüne Transformation der Stahlerzeugung voran. Das Unternehmen strebt an, bis 2045 eine klimaneutrale Produktion in Duisburg zu erreichen. Dieses ambitionierte Ziel hat jedoch zu Spannungen im Aufsichtsrat beigetragen und möglicherweise zu Gabriels Rücktritt geführt.

Vergleich mit der Finanzkrise 2008

Die Herausforderungen, vor denen Thyssenkrupp steht, erinnern stark an die globale Finanzkrise 2008/2009. Während dieser Krise sah sich ArcelorMittal, der weltweit größte Stahlproduzent, ebenfalls mit dramatischen Problemen konfrontiert. Das Unternehmen musste seine Produktionskapazitäten um 40 Prozent reduzieren und über 29.000 Arbeitsplätze abbauen.

Um seine Marktstellung zu sichern, konzentrierte sich ArcelorMittal auf strategisch wichtige Branchen wie die Automobil-, Bau- und Energieindustrie. Ähnlich könnte auch Thyssenkrupp gezwungen sein, drastische Maßnahmen zu ergreifen, um im globalen Wettbewerb bestehen zu bleiben. Hätte man früher gehandelt, wären die Probleme vielleicht noch abwendbar gewesen, doch nun bleibt Thyssenkrupp bleibt kaum eine andere Wahl, als sich den Herausforderungen zu stellen und notwendige, jedoch schmerzhafte Maßnahmen umzusetzen – leider werden dabei wahrscheinlich die Arbeitnehmer die Hauptleidtragenden sein.

Interne Spannungen und Führungswechsel

Die internen Spannungen bei Thyssenkrupp haben sich kürzlich durch den Rücktritt von Sigmar Gabriel sowie mehrerer Vorstandsmitglieder der Stahlsparte weiter verschärft. Gabriel nannte „schwere Differenzen“ mit Konzernchef Miguel López und sprach von einem „Vertrauensbruch“ als Gründe für seinen Rücktritt. Dieser Schritt fiel zeitgleich mit Protesten der Mitarbeiter, die durch Unsicherheit bezüglich ihrer beruflichen Zukunft und die geplante Abspaltung der Stahlsparte angeheizt wurden.

In einem Interview mit Focus erläuterte Gabriel die Hintergründe seines Rücktritts detailliert. Er beschrieb die eskalierenden Konflikte mit López und kritisierte ihn für eine „beispiellose öffentliche Kampagne“ gegen die Vorstandsmitglieder. Gabriel behauptete, dass „keiner der Vorstände freiwillig gegangen wäre, wenn López nicht deren Reputation massiv öffentlich infrage gestellt hätte.“ Er warf dem Konzernchef einen zerstörerischen Führungsstil vor, der die Zusammenarbeit im Aufsichtsrat unmöglich gemacht habe.

Gabriel machte deutlich, dass die angestrebte Verselbstständigung der Stahlsparte stets an mangelnder Finanzierung gescheitert sei. López habe versucht, die Finanzierungslücke „quasi über Nacht“ zu schließen, was jedoch nicht gelungen sei. Obwohl der tschechische Milliardär Daniel Kretinsky bereits 20 Prozent an Thyssenkrupp Steel Europe (TKSE) erworben hat und plant, seinen Anteil weiter auszubauen, und es zudem weitere Kaufinteressenten gibt, mangelt es weiterhin an ausreichender Finanzierung.

Gabriel kritisierte zudem, dass López den Stahlvorstand für die Unternehmensprobleme verantwortlich gemacht habe, anstatt die tieferliegenden strukturellen Probleme anzugehen. Gabriel bezeichnete dies als „einfach Unsinn“ und betonte, dass die Schwierigkeiten weit über Fehlentscheidungen des Vorstands hinausgingen. Zusätzlich warf Gabriel López vor, das Unternehmen und den Stahlvorstand direkt und am Aufsichtsrat vorbei beeinflusst zu haben, was eine konstruktive Zusammenarbeit unmöglich gemacht habe. Infolgedessen sahen Gabriel und seine Kollegin Frau Eller keine Grundlage mehr für ihre weitere Tätigkeit im Aufsichtsrat.

Die bittere Realität

Die aktuelle Lage bei Thyssenkrupp offenbart eine bittere Realität: Es gibt keine einfachen Lösungen für das Unternehmen. Trotz aller Bemühungen der Unternehmensführung wird ein Stellenabbau unvermeidlich sein, wenn Thyssenkrupp seine Wettbewerbsfähigkeit aufrechterhalten will. Fehlentscheidungen im Vorstand und eine verfehlte Wirtschaftspolitik haben das Unternehmen in diese schwierige Lage gebracht. Die Herausforderung besteht darin, den unvermeidlichen Stellenabbau möglichst sozialverträglich zu gestalten und gleichzeitig die Grundlagen für eine Neuausrichtung des Unternehmens zu legen.

Der Rücktritt führender Köpfe hat zusätzlich Fragen über die strategische Ausrichtung und die Zukunft der rund 27.000 Beschäftigten aufgeworfen. Die IG Metall hat die aktuelle Strategie scharf kritisiert und fordert eine Rückkehr zu den grundlegenden Problemen des Unternehmens. Es bleibt ungewiss, ob Thyssenkrupp den Balanceakt zwischen notwendigen Veränderungen und dem Erhalt der Wettbewerbsfähigkeit erfolgreich meistern kann.

Des Weitern könnte das Schicksal von Thyssenkrupp einen entscheidenden Einfluss auf die industrielle Basis des Landes haben. Es bleibt abzuwarten, ob eine Lösung gefunden werden kann, die das Unternehmen langfristig stabilisiert, bevor es für viele Unternehmen und ihre Mitarbeiter zu spät ist.

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