Die EZB hält am Nullzins und den massiven Anleihekäufen fest – und zwar solange, bis die Inflation nachhaltig auf 2 Prozent steigt. In einer Mitteilung vom Donnerstag heißt es, dass die Zinsen auf dem „derzeitigen oder niedrigeren Niveau“ bleiben dürften, solange die Inflation nicht dauerhaft und weit vor Ende 2023 bei der Zielmarke von 2 Prozent liege. Das könne auch bedeuten, dass die Inflationsrate in einer „Übergangsphase“ zeitweilig über 2 Prozent steige.
Der Harmonisierte Verbraucherpreisindex (HVPI), auf den sich die EZB stützt, lag im Juni bei 1,9 Prozent. Die Notenbank änderte kürzlich ihr geldpolitisches Ziel von „nahe, aber unter 2 Prozent“ auf ein „symmetrisches“ Ziel von 2 Prozent. Das heißt, die Teuerungsrate darf auch über 2 Prozent steigen, wenn sie zuvor darunter war. Weil der HVPI im Jahr 2020 bei 0,3 Prozent lag, ist eine höhere Inflation aus Sicht der EZB also „vorübergehend“ gerechtfertigt.
Gunther Schnabl und Karl-Friedrich Israel sehen das ähnlich. Die Geldmenge M1 – also alle Sichtguthaben und Bargeld – sei seit dem Jahr 1999 rascher gestiegen als das reale Bruttoinlandsprodukt (BIP) und der HVPI, schreiben die Professoren in einer Untersuchung, die das ifo-Institut veröffentlicht hat. Es bleibe eine Erklärungslücke von 4,8 Prozent, wenn man das durchschnittliche Jahreswachstum des realen BIP (1,6 Prozent) und des HVPI (1,7 Prozent) von der Geldmenge M1 (8,1 Prozent) abziehe. Zwar könne das auch an anderen Einflüssen liegen, geben Schnabl und Israel zu – etwa, dass Menschen mehr Bargeld horten. Aber die beiden schätzen vor allem, dass die Statistikbehörden die Inflation zu gering angeben.
Das Statistische Bundesamt berücksichtige nämlich nicht die Preise von Aktien, Wohneigentum und öffentlichen Gütern wie Gesundheit und Bildung. Schnabl und Israel erstellen in der Untersuchung einen alternativen Preisindex und ziehen dazu den HVPI zu 35 Prozent heran, die Steuerlast zu 40 Prozent, die Dax-Entwicklung zu 10 Prozent und Wohnimmobilienpreise zu 15 Prozent. Die Begründung: Aktienkurse seien der Preis auf zukünftigen Konsum, die Steuerlast sei der Preis auf öffentliche Güter wie Bildung und Gesundheit. Wohnimmobilienpreise zeigten, wie teuer es sei, in den eigenen vier Wänden zu wohnen. Das Ergebnis: Zwischen 2000 und 2019 seien die Preise um etwa 2,5 Prozent pro Jahr gestiegen und seit 2010 sogar um knapp 4 Prozent. Laut dem Statistischem Bundesamt betrug die HVPI-Inflation im Jahresschnitt bloß 1,5 Prozent seit 1999.
Jörg Guido Hülsmann kritisiert in seinem Buch „Krise der Inflationskultur“, dass die Statistikämter die Gewichtungen der einzelnen Güter im Warenkorb laufend veränderten. „Wenn 3 Prozent des Verbraucherbudgets zum Kauf von Orangen verwendet wurden, dann soll auch der Orangenpreis zu 3 Prozent im Preisindex berücksichtigt werden“, erklärt der VWL-Professor die offizielle Berechnungsweise. Das Problem: Steige ein Preis sehr kräftig an, wechselten die Verbraucher zu billigen Gütern. Deren Preise spiegelten aber nicht eine stabile Kaufkraft wider, sondern Konsumenten wechselten womöglich nur aufgrund der anziehenden Preise und würden deswegen schlechter gestellt. Die Berechnungsweise der Behörden gewichte also Preise über, die besonders kräftig fallen, erklärt Hülsmann.
Gunther Schnabl berichtet etwa in einem Fachaufsatz vom Juni von einem „besonderen Kniff“ von Eurostat. Im Jahr 2020 sei der Verbrauch von Hotel- und Gastronomie-Dienstleistungen scharf zurückgegangen. Das hätte eigentlich dazu führen müssen, dass die EU-Statistikbehörde die Gewichtung dieser Dienstleistungen im Jahr 2022 reduziert – die Behörde passe nämlich alle zwei Jahre die Gewichtungen an. Doch überraschenderweise habe die Behörde bereits in diesem Jahr Hotel- und Gastronomieleistungen geringer gewichtet. Das dürfte die Inflationsraten für das Jahr 2021 dämpfen, sagt Schnabl: „Denn es zeichnet sich ab, dass mit Öffnung der Dienstleistungsbetriebe die Preise deutlich steigen werden.“
Statistikbehörden berücksichtigen außerdem Verbesserungen und Verschlechterungen der Qualität von Produkten. Kritiker argumentieren, dass Verschlechterungen leichter übersehen würden, weil Unternehmer diese nicht kommunizierten. Etwa bei einem Computer, bei dem Gehäuseteile plötzlich aus Plastik statt Metall bestehen. Außerdem sei der Willkür der Statistiker bei dieser „hedonischen“ Berechnungsmethode Tür und Tor geöffnet. Bleibe etwa der Marktpreis eines Computers einfachster Bauart gleich, aber durch den technischen Fortschritt werde das Gerät leistungsfähiger, sei völlig unklar, um wie viel der Computerpreis im Warenkorb sinken müsse, erklärt Hülsmann: „Im Gegensatz zu den tatsächlich bezahlten Marktpreisen kann man den fiktiven ‚hedonischen‘ Computerpreis schließlich nicht beobachten.“
Laut Schnabl gehen die Schätzungen der einzelnen EU-Statistikämter zu Qualitätsverbesserungen deutlich auseinander. Preisindizes für Mobiltelefone hätten sich in Deutschland, Italien, Spanien, Frankreich und Portugal „sehr unterschiedlich“ entwickelt, obwohl man davon ausgehen könne, dass sich im gemeinsamen EU-Markt die Preisentwicklungen ähneln dürften. „Das Statistische Bundesamt gibt keine Auskunft darüber, bei welchen Gütern konkret Qualitätsanpassungen erfolgen und wie hoch der Einfluss der Qualitätsanpassung auf die offiziell gemessene Verbraucherpreisinflation beziehungsweise die HVPI-Rate ist“, schreibt Schnabl in einer Untersuchung vom Juni. Susanne Hagenkort-Rieger bemerkt dazu, dass hedonisch gewichtete Waren einen kleinen Anteil am Warenkorb des Verbraucherpreisindexes hätten – von 1,4 Prozent.
Nicht nur die EZB stützt ihren geldpolitischen Kurs auf die Inflationsrate. Auch die Schätzungen von Investoren und Anlegern, die ihr Vermögen vor Entwertung schützen möchten, basieren auf den Zahlen. Zahlreiche staatliche Zuwendungen, Arbeitsverträge und Finanzmarktprodukte seien an die Inflationsrate gekoppelt, erklärt VWL-Professor Jörg Guido Hülsmann. Die Teuerungsrate sei „von ganz zentraler Bedeutung in der empirischen Wirtschaftsanalyse.“