Lisa Mertes (Name geändert) sieht schwarz. “Die Stahlknappheit spitzt sich seit einigen Wochen zu. Wir hören, dass erste Betriebe wegen fehlendem Baumaterial in Kurzarbeit gehen”, berichtet die Frau, die Finanzchefin bei einem mittelständischen Metallbaubetrieb ist. Seit Januar seien die Stahlpreise um 50 bis 70 Prozent gestiegen. Besonders knapp seien Bleche, sagt sie. Mertes‘ Arbeitgeber – ein Familienunternehmen in vierter Generation – stellt vor allem Metallbauten für den Wohnbau her – etwa Treppen, Vordächer oder Balkons.
Auch ein Stahlhändler rät seinen Kunden, Stahlprodukte auf Vorrat zu kaufen. Ein großer Stahlhersteller aus Europa sei wegen einer undurchsichtigen Kostensituation und starken Auftragseingängen außer Markt gegangen, heißt es in einer Email, die TE vorliegt. Es sei nicht auszuschließen, “dass andere Produzenten ihre Verkaufskonditionen kurzfristig ebenfalls anpassen werden”, schreibt der Mann. Das ifo-Institut teilte denn auch am Freitag mit, dass Firmen der Metallerzeugung und -bearbeitung mit weniger Produktion rechnen. Laut einer Umfrage sanken die Produktionserwartungen von 38 Punkten im März auf 28 Punkte im April. Nur bei den Bekleidungsherstellern war der Rückgang größer.
Zahlen des Preis-Informationsdienstes Platts zeigen, wie sehr die Stahlpreise steigen. Im November 2019 lag der Tonnenpreis von sogenanntem Warmband-Stahl noch bei 425 Euro. Bis zum Juli 2020 fiel er auf 407 Euro. Seither ging es rasant bergauf: Im Februar auf 730 Euro und im April gar auf 950 Euro.
Ein zweiter Branchenkenner ergänzt, dass China seine Exportsubventionen für Stahl zurückgefahren habe, weswegen Importe in die EU rückläufig seien. Außerdem befänden sich zwei große Stahlhersteller aus Europa in Schwierigkeiten – einer wegen der Insolvenz der Londoner Greensill Bank, erklärt der Mann, der für einen großen Stahlproduzenten aus Deutschland arbeitet. On top käme die lockere Geldpolitik der Zentralbanken: Die treibe die Rohstoffpreise nach oben – etwa von Eisenerz –, was wiederum die Stahlpreise erhöhe, führt der Mann aus.
Wenn Stahl fehlt, dürfte das drastische Auswirkungen auf viele Unternehmen haben. Der Verband Wirtschaftsvereinigung Stahl nennt den Werkstoff das “Rückgrat der deutschen Volkswirtschaft”. Demnach verbraucht jeder Bürger rund 180 Kilogramm pro Jahr. Selbst Produkte oder Dienste, die kein Stahl enthalten oder verwenden, können ohne Stahl zumeist nicht hergestellt, gelagert oder transportiert werden. Deutschland ist mit 31 Millionen Tonnen im Jahr 2020 der größte Hersteller in Europa und der siebtgrößte weltweit. Rund 4 Millionen Menschen sind laut dem Verband in den stahlintensiven Industrien beschäftigt.
Mit Entspannung rechnen die Branchenkenner frühestens zum Sommer. Ein Vertriebschef bei einem Anlagenbauer befürchtet darum: “Wenn man auf der richtigen Seite sitzt, gehen die Gewinne mit Hilfe der stark anziehenden Preise nachfragegetrieben durch die Decke. Falls man das teure Material weiter verarbeitet, so kämpft der Betrieb einerseits mit der Kostensituation und kann andererseits noch Kurzarbeit anmelden, da man kaum noch Ware erhält.”
Unter Kostendruck ist auch der Arbeitgeber von Lisa Mertes. Die derzeitigen Aufträge habe man kalkuliert und abgeschlossen, als die Rohstoffpreise noch deutlich geringer waren, sagt Mertes. Sollte Material ausbleiben, könne man vielleicht ein halbes Jahr mit Kurzarbeitergeld durchhalten. Mertes hofft deswegen auf ein schnelles Ende des Lockdown. “Mein Gefühl sagt mir aber, dass das Ganze eine längere Geschichte werden wird”, sagt sie.