Vor ziemlich genau zehn Jahren, kurz vor der Hannover-Messe 2011, prognostizierten Vertreter der Initiative „Industrie 4.0“ eine Transformation der industriellen Produktion, die in eine „vom Internet getriebene 4. industrielle Revolution“ führen werde. Deutschland, so vermuteten damals Henning Kagermann, Dieter Lukas und Wolfgang Walser, drei Vertreter dieser Vision aus Wirtschaft, Politik und Wissenschaft, könne wegen seines „hochinnovativen produzierenden Gewerbes“ eine führende Rolle einnehmen.
Es gehe darum, in Wertschöpfungsprozessen eine Brücke zwischen virtueller und dinglicher Welt entstehen zu lassen und den industriellen Transformationsprozess in Richtung „noch stärkerer Automatisierung“ voranzutreiben. Hinzu komme nun „die Entwicklung intelligenter Überwachungs- und autonomer Entscheidungsprozesse, … um Unternehmen und ganze Wertschöpfungsnetzwerke in nahezu Echtzeit steuern und optimieren zu können.“
Produktivitätsrätsel
Seitdem hat diese Idee einer anstehenden Verschmelzung digitaler Modelle mit der physischen Realität in Wertschöpfungsprozessen einen regelrechten Hype ausgelöst. In der Politik wurde „Industrie 4.0“ begierig aufgegriffen, weil die stärkere Digitalisierung eine Steigerung der Wettbewerbsfähigkeit sowie eine ressourcen- und energieeffizientere Wirtschaftsweise versprach. In den letzten Jahren ist die Digitalisierung sogar zu einem Mega-Thema geworden. So soll das politische Ziel erreicht werden, wirtschaftliches Wachstum vom Ressourcenverbrauch zu entkoppeln und einen wichtigen Beitrag gegen den Klimawandel zu leisten.
Schon die dritte industrielle Revolution, die auf den Einsatz von Elektronik und IT seit Mitte der 1970er Jahre zurückgeführt wird, hatte in Deutschland keinen zusätzlichen Effekt in der Arbeitsproduktivität ausgelöst. Bereits vor mehr als 30 Jahren wies Robert Solow, der für seine Forschungen zum technologischen Fortschritt den Wirtschaftsnobelpreis erhielt, auf die widersinnige Produktivitätsentwicklung im Kontext der digitalen Revolution hin: „Man sieht das Computerzeitalter überall, nur nicht in den Produktivitätsstatistiken“, schrieb er damals. Seitdem gab es zumindest in den USA Ende der 1990er und Anfang der 2000er Jahre einen spürbaren Produktivitätseffekt hoher IT-Investitionen, der danach aber wieder abebbte. In anderen entwickelten Ländern wie in Deutschland trat ein solcher Effekt – wenn überhaupt – nur abgeschwächt auf.
Tatsächlich hat sich die Arbeitsproduktivität in Deutschland seit den 1970er Jahren immer schwächer entwickelt. Nachdem es der Industrie seinerzeit noch gelang, innerhalb einer Dekade die Arbeitsproduktivität um etwa 50 Prozent zu steigern, reduzierte sich der Produktivitätsfortschritt auf nur noch etwa 30 Prozent in den folgenden Jahrzehnten. Seit 2011, dem virtuellen Startschuss der vierten industriellen Revolution, hat die Industrie bis 2017, also kurz vor dem Beginn der Industrierezession in Deutschland, nur noch etwa 5 Prozent erreicht. Bis 2020 ist dieser minimale Anstieg, infolge eines eingetretenen Produktivitätsrückgangs, jedoch vollkommen zunichte gemacht worden. Das heutige Produktivitätsniveau der Industrie ist also mit dem des Jahres 2011 identisch.
Digitale und physische Welt
Der Frage, worauf dieser Widerspruch zwischen seit Jahrzehnten steigenden IT-Investitionen der Unternehmen, die einen immer größeren Anteil der Gesamtinvestitionen ausmachen, und dennoch sogar stagnierender Arbeitsproduktivität beruhen könnte, gehen das Institut für Lernen und Innovation in Netzwerken (ILIN) und das Fraunhofer-Instituts für System- und Innovationsforschung (ISI) in der Studie „Wertschöpfungspotenziale 4.0“ auf den Grund. Dies zu klären, sei für das Hochlohnland Deutschland entscheidend, denn um „hochwertige Produkte zu konkurrenzfähigen Preisen herstellen zu können, ist eine hohe Produktivität von großer Wichtigkeit und somit wesentlich zum Erhalt der Wettbewerbsfähigkeit.“
Das entscheidende Manko der Digitalisierungsbestrebungen sehen die Forscher um Prof. Steffen Kinkel von der Hochschule Karlsruhe darin, dass die Unternehmen zu einseitig auf IT-Lösungen setzen, obwohl Produktivitätsfortschritte in erster Linie auf Prozessverbesserungen beruhen. Denn die Digitalisierung der Produktion, führe „nicht zwangsläufig zu Produktivitätszuwächsen. Die Digitalisierung ineffizienter Prozesse führt zu ineffizienten digitalen Prozessen.“
Die zur Prozesssteuerung erforderliche Transparenz („Daten in Echtzeit“) sowie Produktivitätspotenziale oder die Fähigkeit der Einzelstückfertigung lassen sich typischerweise erst erschließen, wenn man bei der Digitalisierung ähnlich wie bei der Automatisierung vorangeht: Erst organisieren, also die Prozesse gut strukturieren, dann optimieren, also die physischen Abläufe in Richtung des Ziels, z.B. die effiziente Erzeugung individueller Kundenprodukte oder Dienstleistungen, verändern. Erst dann folgt der Schritt des Automatisierens bzw. Digitalisierens. Letztlich, so Oliver Prause, Vorstand des Instituts für Produktionserhaltung (infpro), das die Studie in Auftrag gegeben hat, müsse in das Bewusstsein der Führungskräfte in den Unternehmen gerückt werden, dass „die Verbesserung der Wertschöpfung zu Produktivitätsfortschritten führt und nicht die Digitalisierung.“
ISI und ILIN kommen aufgrund eigener wie auch fremder Forschungen sowie Experteneinschätzungen zu dem Ergebnis, dass im Verarbeitenden Gewerbe ein Wertschöpfungspotenzial von etwa 95 Milliarden Euro steckt. Das entspreche einer Arbeitsproduktivitätsverbesserung von 14,2 Prozent. Diese könne realisiert werden, wenn sogenannte Lean-Prinzipien, die insbesondere in der deutschen Automobilindustrie seit Jahrzehnten sehr erfolgreich angewendet werden und dazu dienen, nicht wertschöpfende Tätigkeiten aus den Arbeitsprozessen zu eliminieren, umfänglich zur Verbesserung der physischen Prozesse eingesetzt würden. Aus den bisherigen wissenschaftlichen Erkenntnissen ließe sich ableiten, dass „die Anwendung von Lean-Prinzipien und der Einsatz von Technologien zur digitalen Vernetzung der Produktion Möglichkeiten“ der Kombination böten. Zudem ließen sich aus den Ähnlichkeiten der Konzepte Synergien erschließen.
Rückgang transformativer Investitionen
Die Ergebnisse der Studie deuten darauf hin, dass Digitalisierungsprojekte vielfach dazu dienen, schwierigen sowie aufwendigen und zudem oft kapitalintensiven Verbesserungen der physischen Wertschöpfung auszuweichen – was die Produktivitätsentwicklung blockiert. Tatsächlich sind im Verarbeitenden Gewerbe die für technologischen Fortschritt und Arbeitsproduktivitätsverbesserungen entscheidenden Ausrüstungsinvestitionen im Verhältnis zur Bruttowertschöpfung von über 12 Prozent Anfang der 1990er Jahr auf nur noch etwa 8 Prozent in den 2010er Jahren gesunken. Sogar eine besonders erfolgreiche Branche wie der Maschinenbau – mit etwa einer Million Beschäftigten eine der größten deutschen Industriebranchen – ist in Verbindung mit einer schwachen Investitionsentwicklung von einer Produktivitätsstagnation betroffen.
Eine vom Verband Deutscher Maschinen- und Anlagenbau (VDMA) beauftragte Studie aus dem Jahr 2016 ging der Frage nach, warum es den erfolgreichen Maschinenbauern nicht gelungen war, hohe Digitalisierungsaufwendungen in Produktivitätsgewinne umzumünzen. Die „rasche Verbreitung einer umfassenden, intensiven Digitalisierung in der Produktion des Maschinenbaus trägt aktuell nicht zu Produktivitätsgewinnen bei“, analysierten die Forscher, für Investitionen in Software zeige sich im Gegenteil „sogar ein negativer Produktivitätseffekt“.
Es ist sicherlich kein Nachteil, wenn die Unternehmen zunehmend auf Forschung und Entwicklung setzen und auch auf technologische Fortschritte in IT und Elektronik. Ein Problem besteht jedoch, wenn dies immer weniger als Ergänzung zur Weiterentwicklung der Prozesse in Richtung höherer Produktivität und Wettbewerbsfähigkeit geschieht, sondern Investitionen in geistiges Eigentum diese ersetzen. Daher ist die als „Paradoxon“ empfundene Diskrepanz zwischen einer Produktivitätsschwäche einerseits und voranschreitender Digitalisierung andererseits ein „Alarmzeichen“, wie der frühere VDMA-Präsident Thomas Lindner schon vor Jahren erkannte. Denn wenn noch so viele neue Ideen nicht in innovativeren Produkten und produktiveren Prozessen münden, bleibt die Wettbewerbsfähigkeit auf der Strecke.
Mehr von Alexander Horn lesen Sie in seinem aktuellen Buch „Die Zombiewirtschaft – Warum die Politik Innovation behindert und die Unternehmen in Deutschland zu Wohlstandsbremsen geworden sind“ mit Beiträgen von Michael von Prollius und Phil Mullan.