Tichys Einblick
voraussichtlich um 0.25 Prozent

Premiere bei der EZB? Möglicherweise senkt Lagardes Team die Zinsen früher als die US-Kollegen

Am Donnerstag schrauben die Währungshüter den Leitzins voraussichtlich um 0,25 Prozentpunkte zurück – und das, obwohl die Euro-Inflation sogar steigt. Für die Entscheidung gibt es politische Gründe. Für Sparer bedeutet das keine gute Nachricht.

EZB-Präsidentin Christine Lagarde, 11.04.2024, Frankfurt am Main

picture alliance / Eibner-Pressefoto | Eibner-Pressefoto/Florian Wiegan

Am 6. Juni dürfte in Frankfurt eine Premiere stattfinden, falls nicht doch noch ein politischer und wirtschaftlicher Wettersturz im letzten Moment alles umwirft: Dann senkt die Europäische Zentralbank (EZB) zum ersten Mal vor der US-Notenbank Fed den Leitzins. Dass beide in diesem Jahr nach einer Serie von Zinserhöhungen mindestens einen Schritt nach unten gehen, möglicherweise auch mehrere, das gilt seit Monaten als ausgemacht. Nur folgten die Frankfurter Währungshüter über lange Zeit den Entscheidungen in den USA – so auch beim Zinsanhebungs-Zyklus, der jenseits des Atlantiks im März 2022 forsch startete, während die Leute um Christine Largarde erst vier Monate später damit begannen.

Im Jahr 2022 steigerte die Fed den Zins rasant in sieben Schritten, die EZB nur in vier Stufen. Derzeit steht die Marke in Frankfurt bei 4,5, in den USA bei 5,5 Prozent. Am Main hieß es 2022 zunächst, die Inflation werde nur kurz bleiben. Und dann gab es noch eine Fraktion, die der Ansicht des Ökonomen Marcel Fratzscher vom DIW Berlin folgte: Der Wirtschaftswissenschaftler meinte, eine „grüne Inflation“, getrieben vor allem durch höhere Strom- und Kraftstoffpreise, sei ein nützlicher Hebel für die von ihm favorisierte Wirtschaftstransformation.

Am Donnerstag senken die Zentralbanker den Leitzins nun voraussichtlich um 25 Basispunkte, also einen 0,25 Prozent-Schritt – während Fed-Chef Jerome Powell ausnahmsweise wartet, um ihn dann höchstwahrscheinlich in der zweiten Jahreshälfte in der gleichen 0,25-Größenordnung zurückzuschrauben.

Allerdings: Die harten Finanzdaten sprechen überhaupt nicht für eine Zinssenkung im Euro-Raum im Juni. Denn die Inflation sinkt nicht Richtung zwei Prozent, dem offiziellen EZB-Ziel. Sondern sie stieg im Mai wieder deutlich an: und zwar auf 2,6 Prozent von 2,4 im April. Die sogenannte Kerninflation, also die Teuerungsrate ohne Energie- und Lebensmittelkosten, legte von April bis Mai sogar von 2,7 auf 2,9 Prozent zu, sie bewegte sich also schneller nach oben als die Gesamtinflation. In Deutschland lag die Gesamtinflationsrate im Mai laut Statistischem Bundesamt bei 2,4 Prozent, und damit ebenfalls höher als im April (2,3). „Die Zeiten sinkender Inflation in Deutschland sind vorerst vorbei“, resümiert die baden-württembergische Landesbank LBBW. All das würde eigentlich dafür sprechen, den Euro-Leitzins erst einmal bei den aktuellen 4,5 Prozent zu belassen.

Dass es am Donnerstag anders kommt, hat drei Gründe, die alle teilweise oder vollständig aus dem politischen Bereich stammen. Erstens übt der relativ hohe Zins einen enormen Druck auf die hoch verschuldeten Länder in der Gemeinschaftswährungs-Zone aus. Kredittranchen laufen üblicherweise über sieben bis zehn Jahre. Das bedeutet: Viele Anleihen, die Staaten in der Niedrig- beziehungsweise Nullzins-Ära aufgenommen hatten, müssen jetzt nach und nach durch Kredite zu sehr viel höheren Finanzierungskosten ersetzt werden.

Dieser Effekt drückt den Regierungen mit hoher Schuldenlast regelrecht die Luft ab. Das mit mehr als drei Billionen verschuldete Frankreich muss jetzt schon mehr als 50 Milliarden Euro pro Jahr für Zinsen aufwenden. Im Jahr 2028 werden es aller Voraussicht nach schon über 80 Milliarden sein. Vor wenigen Tagen stufte die Ratingagentur Standard & Poor’s die Kreditwürdigkeit des Landes von AA auf AA- herunter. Sollte Frankreich auch sein zweites A verlieren, würde der Risikoaufschlag für künftige Kredite noch weiter steigen und den Haushaltsposten für Zinszahlungen noch stärker anschwellen lassen. Schon jetzt muss Emmanuel Macrons Finanzminister für eine 10-Jahres-Anleihe 0,489 Prozent mehr Zinsen bieten als sein deutscher Kollege.

Das klingt nach wenig, macht aber in der exzessiven Schuldenwirtschaft viele Millionen aus. Ernsthafte Haushaltskürzungen wird Macron allerdings nicht durchsetzen: Sein Ziel besteht darin, sein politisches Erbe zu retten, was ihm nur gelingt, wenn sein Premierminister und designierter Nachfolger Gabriel Attal 2027 die Präsidentschaftswahl gegen Marine Le Pen gewinnt. Und das gelingt im protestfreudigen Frankreich garantiert nicht mit einem Sparkurs. Jede kleine Zinssenkung verschafft Frankreich und anderen Hochschuldenstaaten also wieder ein wenig politische Atemfreiheit. Im Vorfeld der erwarteten Zinssenkung am Donnerstag bemühten sich die EZB-Direktoriumsmitglieder aus den Südländern deshalb, den Anstieg der Euro-Inflation kleinzureden. Die erhöhte Teuerung im Mai, meinte das portugiesische Ratsmitglied Mario Centeno, sei „keine signifikante Abweichung“ von den Erwartungen. Sein italienischer Kollege Fabio Panetta meinte, die wieder anziehende Inflation sei „weder gut noch schlecht“ für die kommende Zinsentscheidung.

Der zweite Grund für die Zinssenkung hängt eng mit dem ersten zusammen: Auf EU-Ebene zeichnen sich konkrete Pläne ab, einen gemeinsamen Schuldentopf zu etablieren. Diese Kredite würden dann nicht die nationalen Haushalte belasten, sondern per Gemeinschaftshaftung auf einer überstaatlichen Ebene getragen, weit weg von Parlamentskontrolle und lästigen Regeln wie der deutschen Schuldenbremse. Bei seiner Rede in Dresden am 27. Mai warb Macron erneut für die Idee der Schuldenunion, die seit langem zu seinen wichtigsten politischen Projekten zählt. Daraus, so der Präsident, könnten beispielsweise europäische Rüstungsprojekte finanziert werden. In Wirklichkeit geht es allerdings nicht um konkrete Vorhaben, sondern um die Schaffung einer neuen Geldquelle. Einmal etabliert, bekäme beispielsweise Robert Habeck daraus Milliarden für seine Ideen vom grünen Wasserstoff, die er wegen der Schuldenbremse nicht ausgeben kann, die Regierungen von Frankreich, Italien und anderer Länder könnten andere Wohltaten verteilen, die auf ihrer Agenda stehen.

Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen erklärte schon, sie sei „offen“ für die Errichtung von Gemeinschaftsschulden. Als Vorbild bezeichnete sie das schuldenfinanzierte EU-Programm „Next Generation“ mit einem Volumen von 800 Milliarden Euro, das als „Wiederaufbauprogramm nach Corona“ aufgelegt wurde – mit der EU-typischen Beteuerung, es handle sich um eine einmalige Maßnahme. Jetzt sieht von der Leyen in „Next Generation“ ein „Erfolgsmodell“, das in einem viel größeren Maßstab wiederholt werden sollte. Und auch dafür wären niedrigere Zinsen dringend nötig. Vor dem Hintergrund des EU-Schuldenplans ergibt es auch Sinn, dass Macron nicht die Deutsche als neue Kommissionspräsidentin favorisiert, sondern den früheren EZB-Chef und italienischen Ministerpräsidenten Mario Draghi. Er wäre genau der Richtige, um die Schuldenunion ganz offiziell aufzubauen – und vor allem die Finanzmärkte zu beruhigen, ohne die sich das Projekt nicht verwirklichen ließe.

Und drittens soll die Zinssenkung auch verhindern, dass die lahmende deutsche Wirtschaft noch weiter abrutscht, und damit die gesamte EU nach unten zieht. Der Sachverständigenrat zur Begutachtung der wirtschaftlichen Lage erwartet für die Bundesrepublik 2024 nur ein Wachstum von 0,2 Prozent. Andere Ökonomen rechnen mit einer Null, manche sogar mit einem Schrumpfen. Etwas tiefere Zinsen würden wahrscheinlich den Konsum leicht beleben, und auch in der Bauwirtschaft die Abwärtsentwicklung wenigstens bremsen.

Niedrigere Zinsen bedeuten dann aber auch: Die Inflation nimmt noch schneller Fahrt auf. In Deutschland befeuert die Erhöhung des Bürgergeldes um 12 Prozent zum Jahresanfang die Teuerung, die Steigerung des Mindestlohns, außerdem die relativ hohen Tarifabschlüsse. Sparer müssen sich darauf einstellen, dass die Gesamtinflation sich 2024 in Richtung 3 Prozent entwickelt, und gleichzeitig die Guthabenzinsen zurückgehen – was für die meisten einen Realzins um Null ergeben dürfte. Auf der anderen Seite legen Investments in Gold aller Wahrscheinlichkeit weiter zu.

Was tut die US-Notenbank? Sie geht in diesem Jahr auch einen Zinsschritt zurück – nur eben deutlich später als die EZB. Denn die US-Inflation lag im April noch bei hartnäckigen 2,7 Prozent. Andererseits zeichnet sich keine Rezession ab, sondern allenfalls ein langsameres Wachstum. Im letzten Quartal 2023 legte die US-Wirtschaft um stolze 3,4 Prozent zu, in den ersten drei Monaten 2024 immerhin noch 1,3 Prozent – und das bei einem Zinsniveau deutlich über dem des Euro-Wirtschaftsraums.

Das volkswirtschaftliche Fazit lautet: Die Ökonomie der Vereinigten Staaten kommt auch mit relativ hohen Zinsen zurecht. In der Eurozone dagegen vertragen weder Politik noch Wirtschaft ein länger anhaltendes Zinsniveau von deutlich über 4 Prozent. Zwar notiert die Gesamtverschuldung der USA derzeit bei irrwitzigen 34 Billionen Dollar, die der gesamten EU gerade einmal bei 16 Billionen Euro. Trotzdem erscheinen sowohl US-Wirtschaft als auch Währung derzeit als robuster, verglichen mit Europa.

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